Béla hatte die Schere nicht vergessen

Hanno Loewy legt eine eindrucksvolle Studie über den ungarischen Dichter und Filmtheoretiker Béla Balázs vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem "Phantasie-Reiseführer" von 1925 heißt es: "Der Wanderer, das ist der geborene Fremdling. Er hat keine Heimat verloren und kann auch keine finden. Denn er ist von Natur fremd, und die Distanz zu jeder möglichen Umgebung ist der Kern seines Wesens." Mit der Figur des ewigen Wanderers hat sich Béla Balázs schon früh identifiziert, mal emphatisch, mal leidend. Heute kennt man den 4. August 1884 unter dem Namen Herbert Bauer als Sohn eines deutsch-jüdischen Lehrer-Ehepaares geborenen Ungar beinah nur noch als Autor der ersten theoretischen Studie über den Film.

Enthusiastisch begrüßte Balázs 1924 in "Der sichtbare Mensch" das neue Medium. Der noch stumm bleibende Film versprach ihm die Ablösung des Gutenbergzeitalters durch eine neue visuelle Kultur, eine Epoche der unvermittelten, sprachfreien Kommunikation. Hatte sich bislang das Wort zwischen Menschen und Dinge gestellt, so lernte jetzt das Volk, das in Massen die neuen Kinosäle stürmte, durch die "Lichtspiele", wie die Seelen wieder miteinander in Beziehung treten konnten, allein durch Gestik und Mimik. Die Großaufnahme führte zur Wiederentdeckung von Körper und Gesicht als Ausdrucksorgane - eine visuelle Utopie im Zeichen von Lebensphilosophie, Expressionismus und Marxismus, die von der technischen Entwicklung rasch überholt wurde. Die Bedeutung von Farbe und Ton für den Film analysierte Balázs sechs Jahre später in seiner zweiten großen Filmstudie. Sein Medienoptimismus blieb ungebrochen. "Nein, nicht alles muß vollendet werden. Nicht auf die Werke, sondern auf den Menschen kommt es letzten Ende an", schreibt er in der Einleitung von "Der Geist und der Film". "Der Mensch aber fährt nicht jede Strecke bis zur Endstation. Er steigt oft um auf seiner Fahrt. Bitte umsteigen! Tonfilm!"

Der Literatur- und Medienwissenschaftler Hanno Loewy, der für den Berliner Arsenal Verlag die in Vergessenheit geratenen literarischen Texte des Ungarn wiederentdeckt (siehe die Rezensionen in literaturkritik.de Nr. 5, 2003 und Nr. 5, 2004), hat nun eine gewichtige Dissertation über Balázs vorgelegt, eine Mischung aus Biographie, Ideengeschichte, medienwissenschaftliche Untersuchung und Einführung ins Werk. Sie macht den Versuch, die Geschichte dieser von Zeitgenossen wie Robert Musil, Alfred Polgar oder Willy Haas gefeierten Ästhetik des Kinos prozesshaft biographisch zu rekonstruieren. Loewys ein wenig abschreckend formulierte Leitfrage lautet: "Welche Dispositionen haben dazu geführt, daß Balázs in den zwanziger Jahren wie kaum ein anderer Zeitgenosse die grundsätzliche Bedeutung des Films als Medium einer anders organisierten Wahrnehmung, als eines Dispositivs einer visuell konstituierten symbolischen Erfahrung zu erkennen vermochte?"

Der Antwort nähert sich Loewy auf über 400 vor Material schier überquellenden Seiten und gestützt auf bislang kaum auf Deutsch rezipierten Quellen sowohl mit biographischen als auch textimmanenten Rekonstruktionen, mit kulturhistorischen als auch avancierten theoretischen Exkursen. Keine Einführung für Eilige also, sondern ein Buch für geduldige, anspruchsvolle Leser, mit Lust an der Abschweifung, an Einzelanalysen und theoretischen Detailstudien. Wer sich die Zeit nimmt, wird reich belohnt, ist Loewys Buch doch nicht weniger als eine Abenteuerreise durch ein halbes Jahrhundert Kulturgeschichte: von der Suche nach einem neuen Menschen und der Freundschaft mit dem jungen Georg Lukács nach 1910, den Vorkriegsdebatten um Kunst und Film, Balázs' Engagement für die ungarische Räterepublik, den Emigrantenjahre in Wien als Feuilletonist und Filmkritiker im Umkreis von Robert Musil und Alfred Polgar und dem Scheitern als Drehbuchautor bis zum gespenstischen Höhepunkt: der Zusammenarbeit mit Leni Riefenstahl bei ihrem Film "Das blaue Licht" unmittelbar vor der "Machtübernahme" der Nazis. Nebenbei rehabilitiert Loewy den Filmtheoretiker Balázs, hatten doch die polemischen Attacken Sergeij M. Eisensteins ("Béla vergißt die Schere") seine spätere Rezeption lange belastet. Die Bedeutung der Montage war dem Ungarn jedoch schon vor Eisenstein bewusst.

Mit Loewy lässt sich sagen, dass sich in Balázs' Biographie "die Widersprüche der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, die Aufbrüche der Moderne und die Phantasien einer neuen Romantik, die Bewegung von der Lebensphilosophie zum Marxismus und die riskanten Experimente gelebter Utopien in einer nicht nur exemplarischen, sondern geradezu abenteuerlich verdichteten Weise" spiegeln. Kenntnisreich stellt der Biograph Balázs' Werke, seine Märchen und Dramen, Drehbücher und Feuilletons, Filmkritiken und Libretti, Erzählungen und Romane in zeitgenössische und moderne philosophische, ethnographische und psychoanalytische Kontexte. Neben Georg Simmel, Henri Bergson, Wilhelm Worringer oder Ernst Cassirer liefern Loewy vor allem Arnold van Gennep ("Übergangsriten"), Mihaly Csikszentmihaly ("Flow-Erlebnis") sowie Michael Balint ("Angstlust und Regression") entscheidende Theoreme.

Die Figur des Wanderers, dessen Leben eine Folge von Übergängen, magischen Riten und gefährlichen Initiationserlebnissen ist, der zu allem Distanz wahrt, der voller Schaulust berührungsfrei durch unendliche Weiten schwebt und nur vor einem Angst hat, irgendwo einmal "kleben" zu bleiben, führt Loewy überzeugend auf den von Balint entdeckten Typus des "Philobaten" zurück. Dieser liebt, anders als der sich ängstlich an Objekte klammernde Oknophile, freundliche Weiten und lässt sich von seinen Distanzsinnen vor gefährlichen Objekten warnen.

Dass ein Philobat vom Schlage Balázs schon beinahe zwangsläufig zum Film finden musste, dass seine Omnipotenzphantasien gerade in dem neuen Medium, das den Zuschauer ohne Berührungsgefahren durch imaginäre Räume schweben lässt, ihre Erfüllung fanden, leuchtet ein. Loewy verknüpft das Engagement für den Film jedoch zugleich mit Balázs' früher Begeisterung für Märchen. "Balázs' Wendung zum Film, für die er sein Interesse an Märchen, Dramen und Prosa freilich nie aufgab, wird [...] als Versuch zu lesen sein, im Kontext der modernen, technisierten Massengesellschaft ein dem Märchen entsprechendes populäres Medium zu etablieren, das Entfremdung in einem Initiationsakt rituell und kontrolliert aufzuheben vermag - um den Preis freilich, die reale Erfüllung der Sehnsucht gegen einen Akt visueller Vereinigung mit dem Erträumten einzutauschen. Seine Interpretation des Films zielt nicht auf Avantgarde, sondern auf eine neue Volkskultur, auf eine neue Erzähltradition" - und steht damit in scharfem Gegensatz zu den Filmtheorien Siegfried Kracauers und Walter Benjamins.

Titelbild

Hanno Loewy: Bela Balasz. Märchen, Ritual und Film.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2003.
432 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3930916533

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