Gefühl in Stein

Undine Gruenter verewigt in ihrem Roman "Der verschlossene Garten" die Flüchtigkeit der Liebe

Von Ralf SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen Liebesroman schreiben zu wollen ist angesichts einer in tausenden von Jahren gewachsenen Liebessemantik ein schwieriges Unterfangen: Soll der Liebe Ausdruck verliehen werden, so muss zwangsläufig auf ein dichtes und außerordentlich ausdifferenziertes Netz bildlichen und sprachlichen Ausdrucks zurückgegriffen werden. Der Diskurs der Liebe, die Typologie liebender Charaktere und die Ikonologie ihres Handelns, auch die unendlichen Codes, Konventionen, Metaphern, Allegorien der Liebe erschließen einen Bedeutungsraum, in dem jedes individuelle Gefühl verloren zu gehen droht, sobald es artikuliert werden soll, dessen es andererseits aber bedarf, um überhaupt als solches verstanden werden zu können.

Dennoch ist die Liebe für Literatur und Kunst stets ein wesentlicher Anreiz zur Produktion geblieben. Auch zeitgenössische Texte kommen kaum ohne sie aus und trotz der erdrückenden Last der Liebesmetaphorik werden permanent Versuche unternommen, diesem eigentlich unaussprechlichen individuellen Gefühl aufs Neue eine Form zu geben. Obwohl alles gesagt scheint, obwohl die Liebenden fast unausweichlich auf feststehende Rollen und Verhaltensweisen verfallen, ist der Artikulationsbedarf offensichtlich unstillbar. Einem Liebenden kann man die Konventionalität seines Fühlens und Handelns nicht vorhalten, er wird zu Recht auf der Authentizität gerade seines individuellen Empfindens beharren. Eine andere Frage ist, ob er für dieses Empfinden einen angemessenen Ausdruck finden kann.

In ihrem letzten Roman widmet sich Undine Gruenter noch einmal dieser Aufgabe: einen angemessenen literarischen Ausdruck des (Liebes-)Gefühls zu finden, in dem die literarische Tradition mit dem individuell-authentischen Erleben kontrastiert wird. Der paradoxalen Grundstruktur der Liebe, die in den Beschreibungen und Analysen des Romans immer wieder zutage tritt, entspricht dabei die zwischen Essay und Erzählung, zwischen Aphoristik und Beschreibung oszillierende Form, die weder den Fluss der Gedanken und Analysen, noch die Illusion gefühlter Wirklichkeit jemals die Oberhand gewinnen lässt. Im vollen Bewusstsein, welche Last die Worte für das Gefühl darstellen, gelingt Gruenter auf erstaunliche Weise eine Verbindung von Denken und Fühlen, von Vernunft und Sinnlichkeit in einem Erleben darzustellen, das solche Unterscheidungen für sich nicht zulässt. Mit hochartifiziellen Mitteln erzählt sie eine Geschichte, die zugleich durch ihre Unmittelbarkeit besticht.

Bereits mit dem ersten Satz wird deutlich, dass hier in einer ausholenden Absetzbewegung jene allgegenwärtige Liebessemantik beiseite geschoben werden soll, um dem Raum zu geben, wofür kein Ausdruck vorhanden ist. Der Erzähler Soudain lässt jene tradierten Metaphern und Topoi souverän und in beeindruckender Vollständigkeit an den beiden Hauptfiguren vorbeidefilieren, ohne sie indes als angemessenen Ausdruck für das eigene Empfinden akzeptieren zu können. Der Roman beginnt mit Soudains lapidarem "Das ganze Theater um die Unschuld hat mich immer kaltgelassen". Nicht deshalb also hat der Fünfundfünfzigjährige die nur etwa halb so alte Studentin Equilibre geheiratet. Er verachtet die enthaltsame Anbetung der Unerreichbaren genauso wie die Rolle des Verführers, er ist kein Libertin, auch wenn seine hochgradige Reflektiertheit und betonte Distanziertheit darauf - und auf eine literarische Tradition - hinzudeuten scheinen.

Sofort nach der Eheschließung zieht er sich aus seinem Beruf als Herausgeber eines intellektuellen Periodikums zurück, nimmt auch seine jugendliche Frau aus ihrer Familie und ihrem Lebensumfeld heraus und richtet am Stadtrand von Paris ein Liebesdomizil ein: ein kleines Häuschen mit einem ringsum hoch ummauerten Garten, den er dem Vorbild eines mittelalterlichen Lustgartens getreu gestaltet. Er liebt es, sie vom Haus aus zu beobachten, wie sie die Liebesarchitektonik seines Gartens wie eine Allegorie bevölkert. Lange fragt er sich, ob der Kauf eines Windspiels dieses mittelalterliche Arrangement stören würde. Sein Spiel mit der Liebesemblematik braucht Equilibre als Statistin, ihm ersetzt das "Konzept eines Gartens" das "Konzept einer Liebe" und er muss sich im Rückblick - das Buch ist in der Rückschau geschrieben, nachdem er von seiner Frau verlassen wurde - eingestehen: "Ohne es vielleicht zu wollen, bin ich eher Equilibres Liebesarchitekt geworden als ihr Mann." So erscheint seine Ehe als Versuchsaufbau, als minutiös reflektiertes Experiment mit dem Gefühl. Doch Soudain ist keineswegs nur ein Technokrat der Liebe.

Und der Garten ist hier nicht allein als Bühne für die unberührte Kindfrau (die Equilibre ohnehin nie war) zu verstehen, ist keine Allegorie der Jungfräulichkeit oder der verehrten unberührbaren Frauenschönheit. Wie gesagt, die Unschuld interessiert Soudain nicht. Seine Funktion ist, immer auch im Einklang mit mittelalterlichen Konnotationen, ganz weltlicher Natur: ein Fiktionsraum ausgelebter Erotik, eine Bühne weltlicher, konkreter Liebe.

Equilibre ist eben keine Heilige, auch kein unschuldiges Objekt männlicher Fantasie, sondern es ist ihr erklärter Wille, an diesem Experiment teilzunehmen und dafür ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Immerhin ist sie selbst einer rationalen Liebeskonstruktion nicht abgeneigt, wie das häufige Zitieren "ihres Philosophen", wie Soudain ihn nennt, Niklas Luhmann, nahe legt. Das Gefühl scheint bei beiden mit dem Verstand zu spielen, der in dieser Situation seine Verbindlichkeit verliert. Wegen ihres Müßiggangs von emanzipierten Freundinnen zurechtgewiesen, weist sie ironisch auf ihre tagesfüllende Aufgabe als Gartenbewohnerin hin: "Ich habe einen Full-time-Job, ich habe den Job, an einem emblematischen Ort zu sitzen wie ein lebendiges Bild."

Ihr eigentlicher Full-time-Job ist genauer betrachtet die Liebe selbst, das konsequente Zelebrieren und Ausleben eines Gefühls, für das der emblematische Garten immer ein bloß äußerliches Zeichen bleibt. Denn durch einen nicht näher bestimmbaren Gleichklang der Gemüter, durch ihr miteinander harmonierendes intellektuelles wie sexuelles Temperament scheinen Equilibre und Soudain wie geschaffen sowohl für die gemeinsame Inszenierung eines Gefühls als auch für den Alltag als Paar. Und dieser Alltag beschränkt sich weitgehend auf das häusliche Leben, auf gemeinsame Essen, Ruhestunden auf der Terrasse, auf kleinere Arbeiten, lange Gespräche und verliebte Spiele, Spaziergänge an der Seine, gelegentliche Besuche oder Ausflüge nach Paris. Was nach völliger Ereignislosigkeit klingen mag, ist dabei die Kulisse für die allmähliche und konsequent geförderte Entfaltung ihrer Liebe, auf das allmähliche, beiläufige Kennenlernen und Durchdringen des Gegenübers, das keine Grenze kennt und keine Befriedigung. Bei aller Freizügigkeit kann das Paar nicht von der "Arbeit des Verstehens" entbunden werden, von der letztendlich unerfüllbaren Aufgabe einander wirklich nahe zu kommen, wie sie übereinstimmend feststellen:

"Die Detektivarbeit, die der Liebende auf sich nimmt, um die Zeichen zu deuten, die der andere gibt, führt in ein Netz von Spuren, Vermutungen und Hypothesen [...] So richtig es ist, daß Verliebte heute, ohne daß gesellschaftliche Verbote sie hindern, sofort miteinander ins Bett gehen, so wenig befreit es die Liebenden von der Arbeit des Verstehens durch Aufmerksamkeit und Beobachtung."

Die ursprünglich mit dem Ruch des Verbotenen behaftete Utopie eines zwanglosen, quasi natürlichen, ungehemmten Zusammenkommens von Mann und Frau in der Verborgenheit eines versteckten Gartens wird hier, einige Jahrzehnte nach der scheinbar alle Freiheit der Welt verschaffenden sexuellen Revolution, wieder aufleben lassen: als Utopie einer Welt- und Gesellschaftsflucht zum Zweck gegenseitiger Hingabe und gegenseitigen Verstehens. Die romantische Liebe erlebt hier - ohne ihren metaphysischen Überbau allerdings - eine späte Blüte. Diese kompromisslose Haltung stößt bei Freunden und Verwandten natürlich auf Argwohn und Unverständnis. Die Versuche, auf das experimentierfreudige Paar einzuwirken, prallen allerdings an der lässigen Ignoranz der beiden ab. Nein, Equilibre fühlt sich nicht ausgenutzt, sie vermisst nichts, sagt sie, auch wenn sie gelegentlich anders denkt und nein, Soudain hat kein Interesse an den Salons der Hauptstadt mehr, wo er vorher stets verkehrte, sein Publikationsdrang ist nicht an die Leine gelegt. Eine ganze Weile kann diese paradiesische Abgeschiedenheit aufrecht erhalten werden.

Verstehen als Grundlage möglicher Liebe, die Unmöglichkeit des Verstehens, wenn es nicht als 'Beruf' betrieben wird, das sind die Grundlagen dieser bedingungslosen und doch sehr vertragsartig wirkenden Beziehung. Und die Entschlossenheit, mit der diese Utopie vorangetrieben wird, wird schließlich mit zum Ende der Ehe beitragen, denn die Unerreichbarkeit des Ideals erzeugt zumindest bei Equilibre Reibung, verursacht Schmerzen, Einsamkeit, Gefühle des Ungenügens. Sie überspannt das "Uhrwerk der Liebe" gelegentlich, so interpretiert es Soudain. Nur in Momenten blitzt jenes intuitive Verstehen auf, bei dem zwei Menschen wie einer denken, zwei Körper in synchroner Lust wie einer fühlen - und doch gleichzeitig als zwei diesen Zustand reflektierende Subjekte. Als solche können sie für einen Moment in ihrer Rolle als Beobachter und Beobachtete, als Gartenarchitekt und Allegorie, als Mann und Frau aufgehen - um nachher davon zu erzählen. "Eine Zeitlang ist dieses Paradox lebensfähig", stellt Soudain am Ende fest, und dieses Ende ist zugleich Anfang seines Erzählens, seiner Wiedergewinnung einer Sprache für das Erlebte, das er in vollem Bewusstsein unter literarischen Verweisen begräbt.

In diesem Fall brauchte es nur den jüngeren Hausfreund St. Polaire, der, voller Unverständnis für den Liebeskonsens der Beiden in ihre Vorstadtidylle einbrechend und mit einem völlig gegensätzlichen Konzept von Liebe bewaffnet, Equilibre leidenschaftlich umwirbt, um das Ehepaar auseinander zu bringen. Nach und nach verstrickt sie sich in widersprüchliche Gefühle, und Soudain bleibt gemäß seines Versuchsaufbaus nur die leidende Zeugenschaft. Er sieht zu, wie sich der von ihm meistgeliebte Mensch auf immer von ihm zu entfernen beginnt.

Aus seiner Erinnerung erzählt Soudain, nunmehr Einsiedler in seinem versteinerten Liebesarrangement, dieses so vernünftige Märchen einer nahezu perfekten Beziehung, und er bietet das gesamte Instrumentarium des Liebesdiskurses auf, um seine eigene Liebe davon freizuschreiben, Zeichen für ihre Unverwechselbarkeit zu finden. Der Unmöglichkeit, den Ort des eigenen Sprechens anzugeben, obwohl man sich dazu einer babylonischen Sprachvielfalt bedienen könnte, begegnet er, indem er in einer Art Negativdefinition an seinem Gefühl jede Artikulation abgleiten lässt, sie an ihm widerlegt, um es durch solche Ausschlüsse in seiner Inartikulierbarkeit wenigstens schemenhaft zu konturieren. Fragen über Fragen lässt Soudain unbeantwortet an seiner Erinnerung abprallen, minutiös verzeichnet er in Aphorismen und absatz- bis seitenlangen essayistischen Passagen die in der Liebe gewonnenen Erkenntnisse - großteils eher literarische Verweise als authentische Erfahrung. Gleichzeitig besingt er mit gebändigter Wehmut den Verlust. Dieser subjektive und zitatreiche Rückblick bleibt stets monologisch, immer an seine Wahrnehmungen und deren Interpretationen gebunden. Equilibres Gedanken werden also nur in seiner Interpretation zugänglich und der Eindruck drängt sich auf, dass sie ihre Version der Geschichte völlig anders erzählt hätte. Und wie die Geschichte tatsächlich gewesen sein könnte, daran muss jede Darstellung notwendig scheitern.

Gerade indem Undine Gruenter ihren Erzähler diese Flüchtigkeit des Gefühls derart präparieren lässt, gelingt ihr das Außergewöhnliche: die Ambivalenzen und Paradoxien, die die Liebe ausmachen, zumindest in einem Roman zu einer formalen Einheit zu bringen, die die theoretische Analyse immer nur streifen kann. Hier wird ein Denken spürbar, in dem sich Vernunft und Gefühl, Instinkt und Wissen, Intellektualität und Alltagsklugheit zu einer leichten, ganz authentisch und natürlich wirkenden, spielerischen Einheit verbinden. Es ist wundervoll, die geradezu erdrückende Intellektualität Soudains und seine Freude am Künstlichen von der Empfindung in ihre Schranken verwiesen zu sehen - und damit die Literatur von der Wirklichkeit (der Liebe). Und dennoch: schöner und vielstimmiger war Literatur selten. Mit diesem ihrem letzten Text, den sie ihrem Mann Karl Heinz Bohrer kurz vor ihrem Tod noch diktieren konnte, hat Undine Gruenter sich auf weltliterarischem Niveau von der Bühne der Literatur verabschiedet.

Titelbild

Undine Gruenter: Der verschlossene Garten. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
224 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446204563

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