Konturen des Nachmärz

Ein Sammelband über Bruch und Kontinuität zwischen Vormärz und Nachmärz

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist eigentlich mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts los? In der Germanistik ist dieser Zeitraum jedenfalls nur spärlich erforscht, stellt Norbert Otto Eke in seiner Einleitung zu "Vormärz - Nachmärz, Bruch oder Kontinuität, Vorträge des Symposions des Forum Vormärz" fest. Da ist ihm nur Recht zu geben, während sich die Literaturwissenschaft gern und intensiv mit Romantik und Vormärz beschäftigt, wird über die Periode danach weitgehend Stillschweigen bewahrt. Höchstens die prominentesten Romanautoren des Realismus wie Fontane werden zum Thema zahlreicher Arbeiten, aber deren Werke scheinen in der Luft zu hängen, ihr Kontext scheint nur selten der Rede wert. Dabei ist dieser Kontext fast interessanter als Autoren selber, denn in ihm bildeten sich die Konstellationen der Moderne aus, wie Sigrid Weigel in ihrem Aufsatz "Der Nachmärz als Laboratorium der Moderne" postulierte. Auf diesen Aufsatz verweist auch Eke, der Anspruch des Sammelbandes ist jedoch bescheidener, er präsentiert vor allem Grundlagenforschung zu einer vernachlässigten Epoche und ist allein schon deshalb interessant und lesenswert. Vielleicht ist es verständlich, dass ein vom Forum Vormärz veranstaltetes Symposion sich sehr auf das Schicksal von Vormärz-Autoren im Nachmärz konzentriert und weniger auf neuere Entwicklungen abhebt, wie die Rolle von Autorinnen oder die veränderte Rezeption von Literatur durch Zeitungen und Zeitschriften. Es finden sich gleich zwei Aufsätze über Heinrich Heine in "Vormärz - Nachmärz", der zwar in jedem Kontext interessant ist, aber kaum als typischer Nachmärzautor bezeichnet werden kann.

Die Beiträge, die sich wirklich mit dem Bruch zwischen Vor- und Nachmärz beschäftigen, sind in der Unterzahl, bringen aber viel Interessantes. Da ist zum einen Norbert Otto Ekes hervorragende Einleitung "Vormärz/Nachmärz - Bruch oder Kontinuität", Nachfragen an die Begriffsgeschichte, der mehr bringt als der Titel verspricht. Neben einer Erörterung der Begriffe diskutiert der Autor auch die Sekundärliteratur und die grundlegenden Probleme der Epocheneinteilung. Olaf Brieses Aufsatz, "Philosophie in einer veränderten Welt, Überlebens- und Konkurrenzstrategien nach 1850" bietet einen repräsentativen Überblick über die philosophische Entwicklung und das intellektuelle Klima im Nachmärz. Sigrid Thielkings Beitrag, "... wir wollen Menschen bleiben, und zugleich Bürger werden", Von der Verdrängung eines Kollektivtopos diskutiert die Veränderungen im intellektuellen und politischen Horizont des Bürgertums. Anhand ausgewählter Romane demonstriert sie, wie man sich in der Restaurationsepoche alle weitergehenden Träume abgewöhnte und sich auf das konzentrierte, was man für das Machbare und Realisierbare hielt. Besonders wichtig ist die Verengung des bürgerlichen Horizontes auf die Nation und den Nationalismus. Universalistische und kosmopolitische Entwürfe landen im Mülleimer der Ideengeschichte. Zwar stellt Thielking den Vormärz etwas zu kosmopolitisch dar und übersieht europäische Tendenzen im Nachmärz, aber insgesamt schafft es die Autorin, den Unterschied zwischen den intellektuellen Klimata des Vor- und Nachmärz prägnant darzustellen. Weitere interessante Beiträge sind Wolfgang Beutins Aufsatz über die Renaissance der niederdeutschen Dichtung nach 1848 und Renate Werners Ausführungen über ästhetischen Historismus in der Lyrik des Nachmärz.

Insgesamt stellt "Vormärz - Nachmärz, Bruch oder Kontinuität", einen wichtigen Beitrag zur Erforschung einer vernachlässigten Epoche dar, der hoffentlich zur weiterer wissenschaftlicher Beschäftigung und zur Entschlüsselung der Signaturen der Vormoderne führt.

Titelbild

Norbert Otto Eke / Renate Werner (Hg.): Vormärz - Nachmärz. Bruch oder Kontinuität?
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2000.
486 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 389528274X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch