Zwischen "Mehr Licht" und "Pot de chambre"
Goethe-Rezeption im Vormärz
Von Heidi-Melanie Maier
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Forum "Vormärz-Forschung" hat sich seit seiner Gründung 1994 etabliert. Während sich andere literarische Gesellschaften mit nachgerade beängstigender Tradition sowohl was Mitgliederzahlen als auch was ihren Beitrag zu wissenschaftlichen Erkenntnissen betrifft am Rande der Bedeutungslosigkeit bewegen, ist es den engagierten Vormärz-Forschern innerhalb kurzer Zeit gelungen, ein respektables Profil zu entwickeln. Das beweisen ihre Kolloquien wie auch ihre regelmäßigen Publikationen, zu denen auch das Jahrbuch zählt.
Das Jahrbuch 2003 wählt sich Goethe zum Schwerpunkt. Das gleichermaßen kluge wie bescheidene Vorwort der Herausgeber skizziert den Anspruch dieses Jahrbuches: "Die für die Vormärzzeit charakteristische, oft von der Überlagerung scheinbar inkompatibler Positionen geprägte Unübersichtlichkeit in der Goethe-Rezeption rechtfertigt trotz hervorragender literaturwissenschaftlicher Arbeiten aus den 70er und 80er Jahren (vor allem von Mandelkow) die weitere intensive Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld." Den Inhalt umreißen die Herausgeber wie folgt: Leben und Werk Goethes reichten bis in den Vormärz - so man diesen mit der Juli-Revolution 1830 beginnen sieht. Gewichtig aber vor allem sei sein Tod. Er rief nicht nur Trauer hervor, sondern bei den jungen Autoren auch ein Gefühl der Befreiung vom übermächtigen Schatten des Olympiers. Allemal sei das Ableben Goethes eine epochale Zäsur gewesen, von der aus sich verschiedene Entwicklungslinien im Umgang mit Goethe nachvollziehen lassen: Dies ist zum einen seine Historisierung. Zum anderen aber laufen kontroverse Diskurse weiter bzw. werden überhaupt erst möglich. Kurz: Konservierung bis hin zu Mumifizierung auf der einen, kritische Auseinandersetzung bis hin zur Distanzierung auf der anderen Seite. In diesem Spektrum positionieren sich denn auch die Beiträge zum Schwerpunktthema in diesem Band. Zwei davon seien hervorgehoben: Inge Rippmanns Beitrag "Ihn tadeln heißt ihn achten. Goethe im Gegenlicht" reißt die zunächst holzschnittartige Rezeption Goethes an. Glorifizierung auf der einen Seite rief rigorose Ablehnung auf der anderen Seite hervor. Dies begründet sich in einer ästhetisch motivierten Kritik, dass Goethe seine Stoffe "weniger erfindet als entlehnt". Lauter sind ihren Ausführungen nach jedoch die Stimmen, die Goethe Unmoral vorwerfen, und zwar das Spektrum von Missachtung traditioneller Nationaltugenden - "Verherrlichung undeutscher Charakterlosigkeit" - über Irreligiosität, Mangel an Ehrgefühl seiner Männergestalten bis hin zur "Himmelfahrt der bösen Lust". Der Vormärz, so Rippmann, brachte eine differenzierte und auf politischen Maßstäben basierende Perspektive auf Goethe mit sich, die aber - bei beispielsweise hervorragender Kenntnis des Goethe'schen Œuvres durch Börne - nicht minder erbarmungslos war: "wieder der Groll gegen diesen zahmen, geduldigen, zahnlosen Genius".
Ebenso hervorzuheben ist Olaf Brieses Beitrag, "Wieder einmal das letzte Wort gehabt. Nachrichten von Goethes Sterbestunde". Auf unterhaltsame und eloquente Art und Weise berichtet er von den unterschiedlichen Versionen von Goethes letzten Worten. Durchgesetzt hatten sich zwei Szenen: Zum einen die von Kanzler Müller kolportierte Fassung des übermenschlich-visionär gehauchten "Mehr Licht"; zum anderen das von der Schwiegertochter Ottilie von Goethe, eher auf den familiär-menschlichen Charakter anspielende Diktum "Mein Töchterchen, gib mir dein Pfötchen". Es geht Briese jedoch keinesfalls darum festzustellen, welches schlussendlich die authentischen letzten Worte waren - es könnte genauso gut des Dieners Krause Schilderung vom "Botschanper", also "Pot de chambre" oder Nachttopf gewesen sein. Vielmehr sieht Briese in dem mit Goethe betriebenen Totenkult, der eben auch ein Konkurrieren um das sinnstiftendste letzte Wort enthielt, die Sehnsucht konservativer Kräfte nach einem allumfassend verbindlichen Heros, einem Geistesfürst. Und diese Sehnsucht keimte logischerweise auf, als sich die politisch und gesellschaftlich seit der Wende zum 19. Jahrhundert andeutenden Veränderungen im Vormärz mit Gewalt vordrängten: "Das letzte Wort stand für kulturelle Eindeutigkeit, für Kohäsion, konzeptualisierte eine Ordnung, wo die Prozesse der Moderne das Gegenteil bewirkten. Sein Verdienst war es bzw. sollte sein, sich diesen Dissoziationsprozessen heroisch entgegenzustemmen. Schwindelerregender salto mortale auf den Grund der Realität: Quid pro quo kämpfte das letzte Wort den stellvertretenden, unbeirrten Kampf für Eindeutigkeit.".
Das Jahrbuch ist eine gute Ergänzung zu den Arbeiten Mandelkows über die Wirkungsgeschichte Goethes. Es ergänzt sein Themenspektrum und führt tiefer in die Vormärz-Rezeption ein, unter anderem mit zwei musikwissenschaftlichen Aufsätzen. Neben den Texten zu Goethe finden sich zwei weitere Beiträge und natürlich Rezensionen, die die wichtigen Publikationen zum Vormärz besprechen. Goethe-Rezeption ist letztlich stets ein dankbarer Topos, bewegt sie sich doch zwischen den Polen des unerbittlichen Spottes und der - aus heutiger Perspektive - amüsant zu nennenden Unterwürfigkeit. Doch diese Feststellung soll das Lob über das Jahrbuch nicht schmälern: eine erkenntnisreiche, vielfältige und lebendige Lektüre.