Kratzen an der Oberfläche mit Glanzstücken

Sven Regeners Roman "Neue Vahr Süd"

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem Debütroman "Herr Lehmann", der Geschichte um den sich souverän durch das Kreuzberg am Vorabend der Wende wurstelnden Frank Lehmann landete Sven Regener vor drei Jahren einen veritablen Erfolg: Mehr als eine Million Exemplare wurden verkauft und auch die Kritik bescheinigte dem Frontmann der Berliner Band "Element of Crime" ein nicht unerhebliches Talent als Autor. Selbst die letztjährige Verfilmung des Buches durch Leander Haussmann, zu dem Regener das Drehbuch verfasst hatte, entpuppte sich - entgegen vieler Befürchtungen - als gelungen und äußerst kurzweilig.

Nun legt Regener mit "Neue Vahr Süd" den Nachfolger vor, der genau genommen gar kein Nachfolger ist, sondern der Vorläufer, schildert er doch die Zeit vor Frank Lehmanns Umzug nach Berlin.

Und so durchwatet man auf über 580 Seiten die lähmenden Untiefen von Herrn Lehmanns jugendlichen Befreiungs- und Abnabelungsversuchen in der Neuen Vahr Süd, jener in den späten 50er Jahren am Reißbrett entstandenen Bremer Neubausiedlung, die von den alteingesessenen Hansestädtern immer noch als geschichtslose und spießige Kleinbürgertristesse verachtet wird.

Frankie - wie er von seinen Freunden genannt wird - muss sich nach seiner ungeliebten Lehre zum Speditionskaufmann hier alleine mit seinen Eltern herumschlagen, seit sich sein Bruder Manfred nach Berlin abgesetzt hat, nicht zuletzt, um der Bundeswehr zu entkommen. Und genau damit hat auch Franks nächstes Problem zu tun: Der Staat ruft ihn zu den Waffen. Er, der eigentlich vorhatte zu verweigern, verschläft dies schlichtweg und muss seinen Dienst antreten.

Dieser Bundeswehrzeit wird denn auch ein Großteil des Buches gewidmet, keine schlechte Entscheidung, ist doch schon der Gedanke, dass eine notorisch unangepasste und eher sperrige Person wie Frank Lehmann sich in diese Institution eingliedern soll, von einer nicht zu leugnenden Absurdität. Und tatsächlich zählen diese Kapitel zu den Glanzstücken des Buches. Die Einstellungsuntersuchung oder die Besuche bei den jeweiligen Vorgesetzten lassen zwei gänzlich unvereinbare Welten aufeinander prallen. Der Höhepunkt des Ganzen ist der Entschluss Lehmanns, den Wehrdienst doch noch zu verweigern. Mit der Szene vor der Untersuchungskommission gelingt Regener eine grandiose Satire auf die Sinnlosigkeit solcher Gewissensanhörungen.

Regener schlägt sich aber auch als Beobachter der politisch-gesellschaftlichen Situation der 80er Jahre ganz gut. Die von einer an Verwahrlosung grenzenden Nachlässigkeit regierte Männer-WG, in der Frankie nach seinem Auszug aus der elterlichen Wohnung lebt, ist ein Sammelbecken für die linken und pseudolinken Gruppen und Grüppchen jener Zeit. Seine dienstfreie Zeit verbringt er mit den Resten der sich stets zu neuen Konstellationen zusammenfindenden K-Gruppen, seine Mitbewohner schwanken zwischen Engagement, sinnlosen Grabenkämpfen und neurotischen Beziehungsgeflechten.

Überhaupt zeigen diese Teile des Romans, wie auch die Beziehung Frankies zu Sibille und vor allem das blutige Ende des feierlichen Gelöbnisses im Weserstadion eine eher ernste und nachdenkliche Seite. Die gab es zwar auch bei "Herr Lehmann", dort trat sie allerdings nicht so deutlich zu Tage.

Diese Uneinheitlichkeit, so gut die einzelnen Teile auch sind, ist aber auch der kritische Punkt: Nicht in der Qualität also, sondern eher in der Konstruktion liegt somit ein Manko des Romans. Irgendwie mag sich diese Mischung zwischen absurder Komik und einer gewissen Nachdenklichkeit nicht richtig verbinden, es fehlt somit an der Geschlossenheit, die eines der herausragenden Merkmale des Vorgängers war.

Auch wünscht man sich manchmal etwas mehr Tiefe, leider kratzt Regener oft nur an der Oberfläche, ohne aber näher auf die sich anbietenden Themen einzugehen. Denn gerade dieser Tiefgang war auch eine der Stärken, die die alltagsphilosophischen Erkenntnisse von "Herr Lehmann" auszeichneten, selbst wenn es dabei nur um die Kruste des Schweinebratens oder um die Frage ging, ob die Zeit für einen Betrunkenen schneller oder langsamer vergeht.

Davon abgesehen ist "Neue Vahr Süd" aber durchaus ein würdiger und lesenswerter Nachfolger mit vielen Stärken, auch wenn er sicherlich nicht der ganz große Wurf ist. Man kann also gespannt sein auf den Nachfolger des Nachfolgers, der ein Mittelstück werden soll. Regener plant nämlich einen dritten Frank-Lehmann-Roman, der zeitlich zwischen "Neue Vahr Süd" und "Herr Lehmann" liegen soll.

Titelbild

Sven Regener: Neue Vahr Süd. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
582 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3821807431

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch