Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft

Zum Sammelband "Kunst - Zeugung - Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Künstlerische Produktion mit Zeugung und Geburt zu vergleichen ist ein Topos der antik-abendländischen Literatur, für den Beispiele zu finden nicht schwer fällt. Was hingegen Schwierigkeiten macht, ist zu bestimmen, welche Bedeutung dieser Bildlichkeit im jeweiligen Kontext zukommt. Bleibt sie im Bereich bloßer Idiomatik oder stellt sie zwischen Körper und Geist eine aufschlussreiche Analogie her, tendiert vielleicht sogar dazu, die Differenz zwischen beiden aufzuheben? Die in dem hier anzuzeigenden Buch versammelten fünfzehn Aufsätze bemühen sich, die kunsttheoretische Relevanz der Metapher herauszuarbeiten, was oft gelingt; zuweilen jedoch wird sie mit Bedeutsamkeit überfrachtet.

In seiner Schrift "Über die bildende Nachahmung des Schönen" (1788) schreibt Karl Philipp Moritz: "Bildungskraft und Empfängnisfähigkeit verhalten sich zueinander, wie Mann und Weib. Denn auch die Bildungskraft ist bei der ersten Entstehung ihres Werks, im Moment des höchsten Genusses, zugleich Empfindungsfähigkeit, und erregt, wie die Natur, den Abdruck ihres Wesens aus sich selbst." Die Stelle ist ein Beleg dafür, wie relevant der Geist-Körper-Vergleich sein kann; hier bezeugt er "die Nachbarschaft klassizistischer Kreationsmodelle zur Biologie" - so der Untertitel eines Aufsatzes von Helmut Pfotenhauer. Mit Moritz' Abhandlung war Goethe so einverstanden, dass er sie in seine "Italienischen Reise" aufnahm, nachdem er sie bereits kurz nach ihrem Erscheinen mit größtem Wohlwollen rezensiert hatte. In der Rezension heißt es: "Was uns allein zum wahren Genuß des Schönen bilden kann, ist das, wodurch das Schöne selbst entstand: ruhige Betrachtung der Natur und Kunst als eines einzigen großen Ganzen." Der programmatische Satz wäre fast so etwas wie ein Motto für den Sammelband, der um die Zusammenschau von Natur und Kunst bemüht ist, allerdings nicht im Zeichen von Genuss und Schönheit, sondern um der Kunst- bzw. Literaturwissenschaft behilflich zu sein, sich als Teil einer disziplinübergreifenden Kulturwissenschaft zu etablieren.

Nicht immer ist die Metaphorik so aussagekräftig wie bei Moritz. Richard Alewyn, renommierter Germanist des 20. Jahrhunderts, versah seine Dissertation mit einer handschriftlichen Widmung an seine Eltern: "Die Erstgeburt [...] Euer einziger Sohn Richard". Ist der Weg von "poetologischen Zeugungstheorien", mit deren Hilfe deutsche Literaturwissenschaftler "in ein buchstäblich paternales Verhältnis zu den weiblich codierten Gegenständen der Dichtung treten", zu Alewyns Widmung wirklich "denkbar kurz"? Das meint Walter Erhart in seinen "Wissenschaftshistorischen Anmerkungen zum paternalen Selbstwertgefühl der deutschen Literaturwissenschaft". Der Rückgriff auf den anscheinend beiläufigen und scherzhaften Gebrauch des Topos erhöht nicht gerade die Plausibilität einer ohnehin kühnen These. Überhaupt ist es eine Schwäche mancher Beiträge, dass sorgfältige Argumentation zugunsten nicht unbedingt nachvollziehbarer Assoziationen vernachlässigt wird. So drängt sich zum Beispiel die Frage auf, inwiefern Benns Gedicht "Curettage" eine "poetologische Bestandsaufnahme" sein soll. Diese Deutung in dem ansonsten lesenswerten Eingangsaufsatz von David E. Wellbery "Kunst - Zeugung - Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur" bleibt eine nur notdürftig erläuterte Behauptung.

Angesichts der mitunter verwirrenden Beliebigkeit lernt man methodisches Vorgehen schätzen, selbst wenn die Methode nicht neu ist. Zu Beginn seines Beitrags "Die Natur des Eros und der Eros der Natur. Ethik und Schöpfung in Dantes Commedia" stellt Andreas Kablitz fest, dass die Hermeneutik im Umgang mit dem literarischen Text unhintergehbar sei, daran müsse erinnert werden "in einem Moment, in dem einige Repräsentanten der Literaturwissenschaft ihr Fach gern als Kulturwissenschaft neu begründen möchten." Noch stehe ein systematisch begründbares Kriterium für die Korrelation verschiedener kultureller Kontexte aus. "Wie immer man dieses Problem lösen wird oder mag, unvermeidlich begibt sich jede kulturwissenschaftliche Aussage über einen literarischen Text unter die Bedingungen einer hermeneutischen Praxis. Mir scheint diese Dimension einer jeden Literaturwissenschaft im Augenblick in theoretischer Hinsicht ein wenig zu kurz zu kommen." Die Skepsis verdient Beachtung, auch wenn sich Kablitz damit nicht als methodischer Avantgardist ausweist. Seine minutiöse geistesgeschichtliche sowie formalästhetische Interpretation von "Purgatorio" XVII/XVIII führt vor, wie Dante den über die Scholastik tradierten Prämissen der antiken Metaphysik einerseits verpflichtet bleibt, aber andrerseits den Eros in die ontologische Position rückt, die im Gebäude der antiken Philosophie der Vernunft zukommt. Allerdings ist in dieser Interpretation wie auch in einigen anderen Aufsätzen von ästhetischer Produktion nur sehr beiläufig die Rede. Hinzu kommt, dass Dante kein Autor der Neuzeit ist und dem ihm gewidmeten Beitrag einer über Plato vorausgeht. Der Untertitel des Buchs darf also nicht pedantisch genau genommen werden; er gibt nur die ungefähre Richtung an.

Trotz einiger Zugeständnisse an das vorgegebene Thema ist auch die Methode in Helmut Müller-Sievers' Arbeit über Nietzsches "Geburt der Tragödie" letztlich konventionell, was der Originalität des Resultats keinen Abbruch tut. Zwischen Nietzsches Schrift und seinen Studien zur antiken Metrik bestehe ein Zusammenhang. Als Philologe sei Nietzsche zu der schon zu seiner Zeit nicht völlig neuen Erkenntnis gekommen, dass der antike Vers "quantitierend" und dem natürlichen Wortton abträglich gewesen sei; diesem habe erst der in der Spätantike aufkommende akzentuierende Vers Geltung verschafft. Daraus folge, dass das antike Versmaß indifferent gegenüber dem Ausdruck von Leidenschaft gewesen sei und demnach dem Apollinischen zugehöre; das neue Metrum dagegen begünstige den Ausdruck von Affekt und Pathos, sei demnach dionysisch. Wenn das zutrifft, kehrt sich das bisher als selbstverständlich angenommene Verhältnis um: Das Apollinische ist nicht mehr zu begreifen als Gegenströmung zum Dionysischen, vielmehr ist dieses eine Reaktion auf das Apollinische, denn es erscheint "nicht als schrecklicher Ur- und Abgrund, über den Apollo seinen Schleier legen muß, sondern umgekehrt als Erfindung Apollos, der mit dem Bild von Rausch und Ekstase von der Unerträglichkeit der eigenen Kühle und Starre ablenken will." Eine solche unter Berücksichtigung von Nietzsches altphilologischen Studien gewonnene Interpretation, die sich gegen die - vielleicht nur scheinbar fraglose - Autorintention wendet, sei eher als rhetorische Dekonstruktion geeignet, die gängige Lesart der "Geburt der Tragödie" zu erschüttern. Die Absage an dekonstruktivistische mikroskopische Lektüren, denen Mangel an historischer und textueller Spezifität und eine gewisse Langweiligkeit angelastet wird, liest man mit Zustimmung.

Unter dem Aspekt einer sich etablierenden Kulturwissenschaft ist der Aufsatz "Inseminationen. Empfängnislehre, Rhetorik und christliche Verkündigung" von Albrecht Koschorke der ambitionierteste. Ausgangspunkt ist die Empfängnislehre des berühmten englischen Arztes William Harvey, des Entdeckers des Blutkreislaufs, derzufolge sich der männliche Samen nach dem Koitus im Uterus materiell völlig verflüchtige und nur eine immaterielle Formkraft hinterlasse, die erst nach einem Zeitintervall wirksam werde. Das Verschwinden der verursachenden Materie und die zeitliche Unterbrechung des Empfängnisvorgangs werden zu einem Problem für das Kausalitätsdenken. Harvey glaubt an eine Gleichartigkeit von Uterus und Gehirn, denn dieses empfange ebenfalls Eindrücke ohne materiell fassbare Kausalität und verarbeite sie mit zeitlichem Verzug. Solch "anatomischer" Befund schlägt die gedankliche Brücke zwischen dem körperlichen Bereich und dem geistigen, zwischen der biologischen Zeugung und der künstlerischen. Von Harvey führt uns Koschorke zurück zu Aristoteles und zur mittelalterlichen Philosophie und deren Spekulationen über die Fleischwerdung des göttlichen Worts, bei der es ebenfalls um die materielle Folge einer immateriellen Ursache geht. Damit kommt die Mariologie ins Spiel. Die Verkündigungsszene lasse sich "als Kernstück einer theologischen Medientheorie auffassen", weil Gott nicht selbst erscheine, sondern einen Boten schicke. Außerdem werde der Körper der Jungfrau "zum Schauplatz einer Gegenmythologie gegen den sexuellen Prokreationismus der antiken Welt. Aus dieser Perspektive rückt Marias Empfängnis des Heiligen Geistes in den Ausgangspunkt all jener nicht sexuellen Produktionsweisen und zölibatären Maschinen, die in Konkurrenz mit der geschlechtlichen Fortzeugung stehen und die von den kulturellen statt natürlichen Schöpfungsmächten Zeugnis ablegen." Maria ist "die Stammutter der artifiziellen Zeugungen und Geburtsakte, in denen sich kulturelle Produktivität manifestiert. Von dieser Erkenntnis aus wären vorhandene Ansätze zu einer mariologischen Maschinentheorie zu vertiefen." Die Verknüpfungen sind gewiss originell und interessant, ob auch stringent, ist zumindest bei einigen Punkten fraglich. Koschorke entschuldigt sich für den "rhapsodischen Charakter" seiner Überlegungen mit dem Mangel an Vorarbeiten und damit, dass die Kulturwissenschaft eben erst beginne, "das unübersehbare Feld ihrer Zuständigkeit auszuloten". Die Kulturwissenschaft, wie er sie auffasst, bringt frühromantische synthetische Wissenschaftskonzeptionen in Erinnerung, etwa die Forderung von Novalis: "Wir müssen durchgehends auf den synthetischen Zusammenhang des Entgegengesetzten reflektieren, also auch zwischen Sinnen- und Geistwelt." Es ließen sich noch weitere einschlägige Äußerungen von Novalis zitieren. Leider ist ihm kein Beitrag gewidmet worden, obwohl die Beschäftigung mit ihm für das Thema fruchtbarer gewesen wäre als zum Beispiel der Aufsatz über Lohensteins "Agrippina" oder der über den Göttinger Hain.

Während Koschorkes Ausführungen durch gedankliche Extensität beeindrucken, gefällt der Aufsatz von Christian Begemann durch seine Konzentration auf ein Kunstwerk: "Die Schrift des Körpers und der Körper der Schrift. Anthropologie und Semiotik in Peter Greenaways The Pillow-Book". Die eindringliche und überaus genaue Filmanalyse läuft in etwa darauf hinaus, dass Greenaway die Geist-Körper-Analogie insofern aufhebt, als er ihre Voraussetzung, nämlich dass beide Bereiche seinsmäßig getrennt sind, im Medium der Schrift zum Verschwinden bringt. Schrift und Körper werden buchstäblich in eins gesetzt, was mit filmischen Mitteln offenbar leichter vorgeführt werden kann als mit rein literarischen; deswegen sind die beigegebenen Abbildungen willkommenes Anschauungsmaterial. Man sieht, wie Körper beschriftet und gelesen werden. Metaphern werden realisiert und ihnen so der metaphorische Charakter genommen. In seiner Auseinandersetzung mit der Semiotik versucht der Film, "der 'abendländischen' Metaphysik des Zeichens zu entkommen, um eine spezifische filmische Ästhetik zu begründen. Zu dieser gehören [...] die filmische Selbstreflexion, die Vernetzung von Bild und Text sowie der Versuch, Kulturtechniken und die sie umspielenden Denkfiguren in ihren verschiedenen Dimensionen zu erforschen, indem diese in ihrer ursprünglichen Bedeutung genommen und derart 'wiederverkörpert' werden." Das klingt etwas kompliziert, lässt sich aber kaum einfacher sagen. Gemessen an der Komplexität seines Gegenstands - bei der Charakterisierung des Filmemachers Greenaway lässt sich der Begriff "sophisticated" kaum vermeiden -, formuliert Begemann wohltuend klar.

Nicht alle Beiträge sind so geschrieben, dass ihre Lektüre Vergnügen macht. Einen großen Leserkreis dürften sie nicht erreichen. Das, was literaturwissenschaftliche Prosa oft so unerquicklich macht, droht auch zum Markenzeichen kulturwissenschaftlicher Prosa zu werden: die Zurschaustellung von Kompetenz und methodischer Versiertheit mittels eines "Jargons", der sich selbst wichtiger nimmt als die Sache und der durch Weitschweifigkeit die zügige Vermittlung von Wissen und Einsichten erschwert. Die bekannteste Geburtsmetapher der antik-abendländischen Poetik bleibt unbeachtet: "paturient montes, nascetur ridiculus mus".

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Christian Begemann / David E. Wellbery (Hg.): Kunst - Zeugung - Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit.
Rombach Verlag, Freiburg 2003.
423 Seiten, 50,20 EUR.
ISBN-10: 3793092747

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