Selbstfremd

Joyce Carol Oates' Roman "Ausgesetzt" erzählt vom Jungsein

Von Maja RettigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja Rettig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das junge Ich hat keinen Namen. Joyce Carol Oates' neuester Roman "Ausgesetzt" erzählt in drei Stationen von der Identitätsfindung eines knapp 20jährigen Mädchens Anfang der sechziger Jahre, und wir erfahren konsequenterweise seinen Namen nicht - nur Verwechslungen dieses Namens durch einen Drachen von Hausmutter, und den Selbstentwurf eines neuen Namens - Anellia -, der wiederum das Nichts bedeutet, "die, die es nicht gibt".

Einsamkeit, Verunsicherung und Ablehnungserfahrungen prägen dieses Jungsein, die ungefestigte, ungeschützte Zeit nach Verlassen des Elternhauses. Damit unterscheidet sie sich kaum von der Kindheit; das Abgewiesenwerden war schon da die zentrale Erfahrung: Vater, Brüder und Großeltern gaben dem Ich, dem späten Kind, die Schuld am Tod der Mutter - und so heißt denn gleich der erste Teil "Buße". Jetzt, dem Großelternhaus und Herkunftskaff per Collegestipendium entkommen, "fühlte ich mich genauso allein und bedrängt, kämpfte um mein Leben. Das war erregend und gefiel mir, sogar die Angst, die ich dabei fühlte. Ich war ständig aufgewühlt." Es ist eine so intensive Zeit, weil alles in Frage steht, vor allem das eigene Ich.

Die erste Station und Bewährungsprobe, die das Mädchen wählt, um sich zu definieren, ist eine Studentinnenverbindung. Die beinhaltet einen nicht näher erläuterten Ritus, zuvor sektenhaft quälerische Aufnahmeprozeduren und dann als Lohn lauter dumme Upper-Class-Gänse als Mitbewohnerinnen der Verbindungs-Villa. Die schon erwähnte Drachen-Hausmutter steht für sinnlos rigiden (Sexual-)Benimm, die dummen Mitbewohnerinnen-Gänse für eine dumpf-weibliche Umgehung desselben; das intellektuelle, dünne Ich ist mittendrin so unzugehörig wie eh und je.

Dieser erste Teil ist zu lang geraten in seiner redundanten Umständlichkeit - ist brav erzählte Bravheit, ein breiter behäbiger Erzählfluss in leerlaufender Beschreibungsgenauigkeit (das Haus, seine Säulen, seine Tapeten). Zudem offenbart sich hier eine Schwäche in der Ich-Konstruktion, die leider nicht den Wirrungen des Jungseins zugeschrieben werden kann: Die Entlarvung dieser ganzen Studentinnenverbindung als grundfalsch geschieht nämlich von Anfang an überdeutlich in Erzählerkommentaren - des erzählenden Nachhinein-Ichs oder schon des erlebenden? Das wird nicht klar. Im einen Fall wäre das Ich altklug gegen sich selbst, im anderen Fall völlig unverständlich, warum es so lange in so etwas ausharrt.

Der Roman gewinnt deutlich an Intensität im zweiten Teil, er handelt von der weitgehend einseitigen Liebe des Ichs zu einem schwarzen Doktoranden. Hier vermittelt sich eine Unbedingtheit, der die Erzählsprache nicht im Weg steht. Intellektuelle Faszination - beide studieren Philosophie - wird sofort zu amouröser Hingerissenheit. Insofern ist die Heldin hier mehr bei sich, sie erfährt ihre Sexualität und die Liebe, aber über den Geist.

"Anellia" entwirft sich neu, um Vernor Matheius zu gefallen, ersetzt ihren gewöhnlichen durch diesen klangvollen Namen und "kostümiert" sich erstmals als hübsches Mädchen, um den radikal denkenden und lebenden Mann auf sich aufmerksam zu machen. Auch hierin ist sie letztlich fürchterlich angestrengt, schrecklich sehnsüchtig und wird abgewiesen. Mehrmals bekennt der Geliebte, seinerseits nicht zu lieben und überhaupt kein Mann zu sein, auf den sich eine Frau verlassen kann. Anellia wird ihn nicht wirklich umstimmen können.

Die dritte erzählte Station dieses Jungseins ist die Autofahrt allein zum todkranken, totgeglaubten Vater quer durch die Vereinigten Staaten - eine unbestimmte Zeit ist vergangen, Vernor Matheius liegt bereits hinter ihr. Das ist eine Fahrt zurück zu den Wurzeln, die aber Aufbruch bedeutet durch die Hoffnung auf Aussöhnung mit der Herkunft.

Im Grunde aber ist der entscheidende Übergang da schon passiert: Das Ich ist zur Schriftstellerin geworden. Das Auto, mit dem sie in den Westen fährt, ist vom Vorschuss für ihren ersten Prosaband bezahlt; sommers mietet sie sich schon in einsamen Häusern ein, um zu schreiben. Diese so wesentliche Transformation von der brillanten, aber fremdbestimmten Philosophiestudentin in eine künstlerische Identität wird nirgends gezeigt - ein entscheidendes Manko.

Auch manche anderen, kleineren Unstimmigkeiten - Fehler bei Altersangaben, Wiederholungen und Übergenauigkeiten auf der einen, das Fehlen von Zusammenhängen auf der anderen Seite - stärken nicht das Vertrauen in die Sorgfalt der Autorin (und des Lektorats).

Genausowenig überzeugen die scheinbaren Ambitioniertheiten, Ausbrüche aus dem erzählerischen Null-Realismus: Kursive Einschübe sind unmotiviert und mit allem möglichen belegt; die ständigen philosophischen Zitate - als Mottos über fast jedem Kapitel, als kursive Einschübe - schüren Tiefsinn, übersteigen aber den Text bei weitem und stehen oft in keinem erkennbarem Zusammenhang.

Ein durchwachsenes, durchaus auch klischeedurchwachsenes Buch. An Alice Munro und Paula Fox reicht Joyce Carol Oates in ihrer Darstellung jugendlich-weiblicher Wirrnis nicht heran.

Titelbild

Joyce Carol Oates: Ausgesetzt. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
336 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100540069

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