Von den Wassern Ägyptens trinken

Ein Sammelband zur jüdischen Dimension der Renaissance

Von Philipp TheisohnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Theisohn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Examinierung der jüdischen Teilhabe am Kultursystem des Rinascimento lädt gewohnheitsgemäß zu Mythisierungen ein. Kam die historische oder auch die historistische Aufarbeitung des 16. Jahrhunderts lange Zeit ganz ohne einen Blick auf das Judentum aus (und verneinte damit jeglichen Wirkungszusammenhang von Humanismus und jüdischer Religiosität von vornherein), so wird mit der durch die Haskala - allen voran durch Mendelssohn und Zunz - gezogenen, bei Azaria de' Rossi beginnenden Traditionslinie jüdisch-abendländischer Kultursymbiose ein Bild der Renaissance beschworen, das der textlich dokumentierten Realität letztendlich nicht standhalten kann. Trotzdem wurde dieses Klischee auch durch Cecil Roths "The Jews in the Renaissance" (1959) bis weit in das 20. Jahrhundert hinein fortgeschrieben. Fakt bleibt, dass die jüdische Partizipation am epistemologischen Umbruch dieses Zeitalters vor allem eine passive war (und das gilt selbst dann, wenn wir etwa die christliche Kabbalarezeption mit in den Blick nehmen, denn ein jüdisches 'Interesse' an dieser Rezeption lässt sich doch in der Mehrzahl der Fälle wiederum kaum verzeichnen). Zu orten sind die Verschaltungen zwischen den neu aufziehenden Welt- und Wissensentwürfen und der jüdischen Tradition dementsprechend fast ausschließlich in den innerjüdischen Debatten - und dort nehmen sie sich grundsätzlich wesentlich kleinteiliger, vereinzelter und feiner aus, als dass sie dem europäischen Gesamtkontext der Renaissance ohne weiteres zu subsumieren wären. Sicherlich lässt sich feststellen, dass sich zum 17. Jahrhundert hin die Parameter des jüdischen Selbstverständnisses insgesamt zu verschieben beginnen, die Bindungskraft des Überlieferten mithin deutlich nachlässt, wofür eine Vielzahl an Faktoren (die Verbreitung der lurianischen Kabbala, der Einfluss des marranischen Rationalismus etc.) als Ursache wie als Indikator herangezogen werden kann. Eine durchgängige Transformation kultureller Muster im Sinne einer 'Epoche' ist indessen innerhalb des Judentums nicht auszumachen. Vielmehr gestaltet sich die Auseinandersetzung mit der neuen Episteme von Wissensfeld zu Wissensfeld und von Einzelfall zu Einzelfall unterschiedlich intensiv; sieht man noch einmal von jenen halachischen Autoritäten ab, die sich jedweder Aufweichung des Tradierten ohnehin dezidiert entgegenstellen - wie etwa der Maharal, Joseph Karo oder Azarja Pigo (dessen "Giddulei Teruma" sich im vorliegenden Band ein Beitrag von Ronen Reichmann widmet).

Die Forschung im nicht-deutschsprachigen Raum hat auf der Grundlage dieser Einsichten bereits weite Wege zurückgelegt, das gilt vor allem natürlich für die Bereiche der jüdischen Historiografie und der Kabbalistik (hingewiesen sei hier stellvertretend auf die Arbeiten von Robert Bonfil und Moshe Idel). Mit dem von Giuseppe Veltri und Annette Winkelmann vorgelegten Sammelband "An der Schwelle zur Moderne. Juden in der Renaissance" wird nun erstmals von deutscher Seite ein breit angelegter Versuch unternommen, des Phänomens Herr zu werden; das ist - wie vorausgeschickt werden kann - überaus geglückt. Es ist dabei gerade nicht der Anspruch eines 'Kompendiums', der diesem Unternehmen seine Stärke verleiht, sondern die - für derartige Publikationen ungewöhnliche - nahezu durchgängig überzeugende Qualität der Einzeluntersuchungen, die sich in die drei Teilbereiche "Biblische Kommentarliteratur", "Kabbalistische Traditionen" und "Geschichte und Historiographie" aufteilen. Man mag bezüglich der Auswahl und Gewichtung der einzelnen Themenfelder - sprich: der 'Systematik' des Projekts - Einwände hegen. Womöglich ist das Gebiet der Kabbalistik, welches im 16. Jahrhundert wirklich ungeheure Verwandlungen durchläuft, mit zwei Beiträgen doch etwas unterrepräsentiert. Womöglich vermisst man auch innerhalb der 'historischen' Abteilung, in welcher unser Augenmerk auf solch unterschiedlich wirkende Figuren wie David ha-Re'uveni (Martin Jacobs), Joseph Schelomo Delmedigo (Stefan Schreiner) oder Markus Meyzl (Giuseppe Veltri) fällt, in gewissem Maße eine übergreifende Fragestellung, die jenen Beiträgen ein wenig das Stigma der 'Kulisse' genommen und sie dem von Veltri in seiner überaus instruktiven Einleitung markierten Problemhorizont des 'antihumanistischen Judentums' stärker verpflichtet hätte. All diese Bedenken - die freilich im Grunde jeden interdisziplinären Sammelband begleiten werden - müssen jedoch zurückstehen vor der Tatsache, dass hier in den Einzelanalysen bisweilen wirklich vortrefflich herausgearbeitet wird, durch welche (oft minimalen) Umstellungen sich Renaissance in der jüdischen Dimension 'ereignet'. Insbesondere die Einlassungen zur exegetischen Literatur zeugen sowohl von profunder Textkenntnis wie von der Kompetenz induktiver Argumentation und entwerfen - gleichsam als Antwort auf die Frage, wie 'jüdisch' denn die Renaissance gewesen sei - ein heterogenes Bild sich zeitgleich entwickelnder, jedoch bereits im Ansatz divergierender Argumentationen.

So erschließt sich einerseits das Modell eines 'hebräischen Rinascimento': In Analogie zum Antike-Rekurs der italienischen Kultur vollzieht sich innerhalb des jüdischen Kultus eine Rückwendung zu den biblischen Wurzeln. Die Verlaufslinien solch eines 'analogen' Modells werden exemplarisch in Elisabeth Hollenders bemerkenswertem Beitrag zu den Pijjut-Kommentaren skizziert. Erkennbar wird hier ein Aufbrechen der Tradition - des Psalms - zum Zwecke ihrer ästhetischen Erneuerung, sowie die Infiltration des kultischen Textkorpus durch jene Neuschöpfungen beziehungsweise deren Auslegungen. Der formative Einfluss, den diese 'Renovatio von innen' auf das Judentum gehabt hat, ist auf den ersten Blick gar nicht abzuschätzen, wie Hollenders Ausführungen eindrucksvoll aufzeigen. Was mit der bloßen Öffnung der Religion gegenüber der Poiesis beginnt, hat letzten Endes weitreichende Konsequenzen für den Kultus insgesamt, der sich in zunehmenden Maße, insbesondere natürlich im Bereich der Liturgie, Ästhetisierungsgedanken öffnet. Es würde sich anbieten, nach weiteren Ausfaltungen jener revolutionären Selbstbezüglichkeit Ausschau zu halten: eine andere Geschichte des jüdischen 16. Jahrhunderts scheint hier für einen Moment auf, sie aufzuspüren und nachzuerzählen, scheint mir eine vielversprechende Aufgabe künftiger Forschungsarbeit zu sein.

Demgegenüber kristallisiert sich auf der anderen Seite ein 'transgressives' Modell heraus, welches das Überschreiten der Kulturgrenzen zu forcieren und aus jüdischer Sicht zu legitimieren versucht. Diesbezüglich sind Hanna Liss' Überlegungen zum Bibelverständnis im jüdischen Italien des 15. und 16. Jahrhunderts hervorzuheben, die nicht zuletzt mit einer erhellenden Betrachtung des von Yehuda Messer Leon verfassten "Sefer Nofet Sufim" aufwarten können. Nirgends wird die Verschiebung der Perspektive auf die Tradition vermutlich so deutlich wie in Messer Leons Rhetorik: dass die Tora 'vollkommen' ist, wird nicht durch eine gegen die außerjüdischen Wissenskulturen gerichtete Ambition erwiesen, sondern vielmehr sind es gerade diese Wissenskulturen, aus denen der Absolutheitsstatus der Tora erwächst. Die Überzeugung, dass es der Sinn des Exils ist, von den 'Wassern Ägyptens zu trinken' und so dem 'einfachen Schriftsinn' der Bibel das 'inhaltliche Proprium' hinzuzufügen, mithin ihren Wahrheitsanspruch in der Ausweitung des Textkorpus auf den Kanon der Galuth (also in Messer Leons Fall etwa Aristoteles oder Quintilian) zu legitimieren, kann als Fundament einer sich allmählich abzeichnenden Strategie neuzeitlicher Exegetik begriffen werden. Einer Strategie, die sich dann eben auch bei Azaria de' Rossi oder Abraham ben David Portaleone (auf dessen "Shiltei ha-Gibborim" Gianfranco Miletto eingeht) auffinden lässt. Hier - und das heißt zuallererst natürlich im philologischen Detail, in dem sich Halacha und klassische Bildung durchdringen - liegt die Wurzel jener Jüdisches und Nicht-Jüdisches scheinbar 'harmonisierenden' Kulturentwürfe, für die Namen wie Leone Modena oder Immanuello Romano stehen. Aber auch die frühneuzeitliche Kabbalistik speist sich in nicht unbeträchtlichem Maße aus der Entdeckung der Transgressivität jüdischer Zeichensysteme. So zeigt etwa Klaus Herrmann in philologisch präzisen wie scharfsinnigen Analysen auf, inwiefern die Fortentwicklung der Golemlehre beim Messer Leon-Schüler Johanan Alemanno aus der Verschmelzung von rhetorischer Schulung und magischer Praxis, von kabbalistischer Tradition und antiker Sprachästhetik erwächst, Alemanno zum einen selbst hebräische Textvorlagen immer wieder um- und überformt, zum anderen in seinem Hoheliedkommentar Salomo selbst als Präfiguration des aristotelischen Rhetors erscheinen lässt. Auch hier begegnet uns also erneut die pagane Wissenstradition als Aktualisierung des in der Tora eingeschriebenen Wissens.

Es ist das Nebeneinander autoreferentieller und transkultureller Produktivität, das dem Judentum des 16. Jahrhunderts seine geistige Sonderstellung innerhalb der gesamteuropäischen Umwälzung erhält. Womöglich weist einer dieser Pfade in der Tat bereits in Richtung der sich zum Ende des 18. Jahrhunderts hin anbahnenden 'Kulturprojekte'. Das Gesamtphänomen der 'jüdischen Renaissance' von dorther zu lesen, verbietet sich jedoch weiterhin. An die Stelle einer die Brüche innerhalb der jüdischen Diskussion und wiederum deren Differenzen zum außerjüdischen Diskurs harmonisierenden Lesart muss eine Doppelperspektive treten, die sowohl die philologische Feinstrukturierung und die Tradierungsbewegungen halachischer wie kabbalistischer Texte als auch mögliche interkulturelle Vernetzungspunkte in den Blick nimmt. Dass solch eine 'doppelte Buchführung' zu überraschenden und tragfähigen Resultaten führen kann - davon vermag uns der vorliegende Band ein beredtes Zeugnis zu geben.

Titelbild

Giuseppe Veltri / Annette Winkelmann (Hg.): An der Schwelle zur Moderne.
Brill Academic Publishers, Leiden 2003.
292 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-10: 9004129790

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