Ein Lehrer im Land seiner Möglichkeiten

Pascal Merciers Roman "Nachtzug nach Lissabon"

Von Monika MünchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Münch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Tag, nach dem im Leben von Raimund Gregorius nichts mehr sein sollte wie zuvor, begann wie zahllose andere Tage": Was für ein Anfang für einen Roman. Wie gewagt in seiner Banalität, wie wenig neu und doch - wie verheißungsvoll. Dieser erste Satz von Pascal Merciers Roman "Nachtzug nach Lissabon" verspricht immerhin, die Grundnot des Lesers zu lindern. Er verspricht Landflucht, Weltflucht, Alltagsende.

Dieses Versprechen eröffnet ein Buch über den Lateinlehrer Raimund Gregorius, der auszog, das Leben zu lernen; geschrieben wurde es von dem Schweizer Philosophieprofessor Peter Bieri. Pascal Mercier ist das Pseudonym, unter dem er seinen Abstecher in die schöne Literatur veröffentlicht hat. Bieris Stärke sind Bilder: Im Nachtzug nach Lissabon tun sich immer wieder ungeahnte Türen auf, die den Blick freigeben auf intensive Szenerien, einprägsame Augenblicke - Begegnungen, die sich ins Gedächtnis einbrennen wie eigene Erinnerungen.

Ein solcher Moment steht schon am Beginn des Buchs: Gregorius ist auf dem Weg in die Schule, als ihm mitten auf der Berner Kirchenfeldbrücke im strömenden Regen eine Frau begegnet: "Sie hatte die Ellbogen auf das Geländer gestützt und las, was wie ein Brief aussah. Sie musste das Blatt mit beiden Händen festhalten." Dann zerknüllt sie das Papier, wirft es in den Regen und danach in den Fluss, steigt auf das Geländer, ohne Schuhe. Als Gregorius zu ihr rennt, dreht sie sich um. "Dann zog sie einen Filzstift aus der Manteltasche, machte zwei Schritte, bückte sich zu Gregorius hinunter und schrieb ihm eine Folge von Zahlen auf die Stirn. 'Entschuldigen Sie,' sagte sie auf französisch, atemlos und mit fremdländischem Akzent, 'aber ich darf diese Telefonnummer nicht vergessen und habe kein Papier bei mir.'"

So beginnt der Roman, und es ist, als ob mit dieser namenlosen Frau das Unerklärliche und die Märchenhaftigkeit in das wohlgeordnete Leben des braven Lateinlehrers einbrächen. Und dieses Grenzland der Möglichkeiten ist es, das von da an diesen poetischen und tief reflektierten Roman beheimaten wird. Denn nach der Begegnung auf der Brücke wird Gregorius sein Leben ändern, völlig überstürzt nach Portugal reisen und dort nach einem Mann fahnden, der Arzt war und Autor, Revolutionär und Liebender: Amadeu de Prado. De Prado hat die Geschichte zwar schon lange verlassen. Doch was er dachte, was ihn ausmachte, hat er in einem kleinen Büchlein verankert; "Ein Goldschmied der Worte", heißt es. Es wird Gregorius zum Reiseführer und zum Leitfaden des eigenen Denkens.

Auch wenn der Arzt mit der aufwühlenden Geschichte eine Kunstfigur und sein Tun in keinem Geschichtsbuch verankert ist, berührt seine Philosophie doch unmittelbar: Beim Lesen werden wir eins mit Gregorius und erst, wenn der dann auf das Gelesene zu reagieren beginnt, sinken wir zurück in die Rolle des bloßen Beobachters. Dass der Autor des "Nachtzugs nach Lissabon" selbst ein Philosoph ist, dürfte der Grund sein für die hohe inhaltliche Dichte der de Prado'schen Passagen. Doch Bieri lässt seinen Philosphen vor allem Poet sein - und Mensch. Zerrissenheit bestimmt dessen Denken: "Ist die Seele ein Ort von Tatsachen", fragt er. "Oder sind die vermeintlichen Tatsachen nur die trügerischen Schatten unserer Geschichte?" Man kann es auch allgemeiner sagen: "Nachtzug nach Lissabon" handelt von den Möglichkeiten im Leben, den verpassten und den vergessenen; von dem Mut, den sie fordern und den Zweifeln, die sie heraufbeschwören - für de Prado ebenso wie für Gregorius.

Bieris Geschichte spielt außerhalb jeglichen Zeitrahmens - doch sie wird dadurch nicht irreal, sondern viel mehr romantisch im verklärenden Sinn. Die Gegenwart, in der Gregorius sich bewegt, ist nicht die unsere, aber sie ist uns auch nicht fremd. Doch Gregorius kann tun, was im echtem Leben so gar nicht geht: Er kann es hinter sich lassen. Davon geht freilich auch die Faszination des Buchs aus; es weist über das hinaus, was wir Alltag nennen.

Zu dieser Grundlage, die schlicht schön ist, gesellt sich ein nicht unbedeutendes Detail: Bieri sagt von sich, er kenne "auf der ganzen Welt nichts Schöneres als einen gelungenen Satz". Tatsächlich gelingt ihm seine Geschichte in einer Sprache, die nicht überladen ist und nicht karg, die dem Inhalt in nichts nachsteht, den Eindruck der Geborgenheit nicht bricht - und das ist ein Glücksfall.


Titelbild

Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
495 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446205551

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