Pirol und Pianist

Mit Johannes Bobrowski hat das Memelland posthum eine dichterische Stimme erhalten, die in ihrer stillen Beharrlichkeit für eine europäische Zukunft spricht

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit" - so äußerte sich Johannes Bobrowski im Jahr 1961 im Alter von 44 Jahren. Ende Juli 1965 wird Johannes Bobrowski mit einem Blinddarmdurchbruch in das Krankenhaus Berlin-Köpenick eingeliefert. Am 2. September 1965 verstarb er viel zu früh infolge eines Gehirnschlags.

Geboren wurde Johannes Bobrowski am 9. April 1917 in Tilsit, dem heutigen Sowjetsk, das an der Grenze zwischen Ostpreußen und Litauen liegt. Seine spätere Schulzeit und Jugend hatte er in Königsberg verbracht. Es folgten der Arbeitsdienst, die Teilnahme am Krieg als Wehrmachtsangehöriger sowie die russische Gefangenschaft. Seit Ende 1949 lebte Bobrowski in Ostberlin. Legendär waren Zusammenkünfte mit Freunden und Kollegen sowie sein Spiel auf dem Klavichord in seinem Zimmer, das bis heute unverändert geblieben ist.

In seinem eindrucksvollen Beitrag "Bobrowskis Sarmatien" überblendet Dietmar Albrecht in einer Zeitreise die Schauplätze von Bobrowskis dichterischem Schaffen. Ganz offensichtlich hatte sich Dietmar Albrecht die Mühe gemacht, topografische Dreh- und Angelpunkte in heutiger Zeit wieder aufzusuchen. In reizvoller Weise überlagern sich Bobrowskis Texte, Spuren sowjetischer Besatzung und heutige baltische Sprachen und Landschaften. Auf neue Weise bildet sich somit ein Konglomerat der verschiedenen Kulturen - Bobrowski hätte seine Freude daran gehabt. Im Memelland war auch Bobrowskis Roman "Levins Mühle" angesiedelt. Jochen Meyers professionelle Untersuchung "'Alle Wege führen nach Briesen'. Zur Handschrift des letzten Kapitels von 'Levins Mühle'" zeigt das Ringen des Dichters Bobrowskis mit der Prosa. Hinzu kommen die Erlebnisse und Verarbeitung geschichtlicher Schuld, der sich Bobrowski ausgesetzt sah. Christian Fabritz geht gerade im Zusammenhang mit dem Roman "Levins Mühle" in einfühlsamer Weise auf "Johannes Bobrowskis Schreiben nach der Shoah" ein.

Johannes Bobrowski, der als Lektor arbeitete, war als Dichter ein später, aber intensiver und ihn zermürbender Ruhm beschieden. Den Auftakt bildete nicht zuletzt der "Preis der Gruppe 47", den der bekennende Christ und das Mitglied der Ost-CDU im Jahr 1962 erhalten hatte. Von Hubert Faensen, dem ehemaligen Verlagsleiter und Kollegen, erhält man aus erster Hand wertvolle Einblicke über "Bobrowski als Lektor im Union Verlag".

Etwas zu kurz kommen die Probleme, welche die Kulturfunktionäre der DDR mit Johannes Bobrowski hatten. Als 1977 der Ostberliner Unionverlag den heute noch beachtenswerten Gedenkband "Ahornallee 26 oder Epitaph für Johannes Bobrowski" herausbrachte, waren endlose interne Würgereien vorausgegangen. Und schließlich waren die Beiträge von Reiner Kunze und dem tschechischen Dichter und Übersetzer Ludvík Kundera nicht zugelassen worden - sie fehlten auch in der 1978 in Stuttgart erschienenen Lizenzausgabe.

Bernd Leistners Beitrag "Erinnernde Sprachmagie" beschreibt am Beispiel des Gedichtes "Kindheit" von Johannes Bobrowski "den poetischen Text als Fluchtort, als Ort einer sprachmagisch heraufbeschworenen Heimatlichkeit". Das Memelland um Königsberg bildet in vielen Texten Bobrowskis den Hintergrund: "Da hab ich / den Pirol geliebt - / das Glockenklingen, droben / aufscholls, niedersanks / durch das Laubgehäus, // wenn wir hockten am Waldrand, / auf einen Grashalm reihten / rote Beeren; mit seinem / Wägelchen zog der graue / Jude vorbei".

Bobrowskis poetische Hinwendung zu Deutschlands östlicher Nachbarschaft erhält heutzutage eine neue Aktualität. Spätestens seit dem Ende des Kalten Kriegs und dem Fall des eisernen Vorhangs wurde deutlich, dass Europa nicht in Berlin endet. In Bobrowskis Gedichten und Geschichten werden Bilder und Erinnerungen an ein Zusammenleben wieder wach, die im besten Sinne eine Vorahnung neuer Gemeinsamkeit abzugeben vermögen. Das Gedenken an das Vergangene birgt somit eine neue Zukunft - oder, wie Klaus Völker seinen Erinnerungsbeitrag an Bobrowski überschreibt: "Seine Dichtung war brüderlich".

Das vorliegende Bändchen ermöglicht dem Leser einen informativen Einstieg in ein deutsches Dichterschicksal, das sich einen unverstellten Blick auf eine verlorene Landschaft mit ihren Menschen bewahrt hatte. Und somit seiner Zeit weit voraus war.


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Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Johannes Bobrowski. Text + Kritik Nr. 165.
edition text & kritik, München 2005.
113 Seiten,
ISBN-10: 3883777862

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