Achtspursinfonie

Pierangelo Masets Roman "Klangwesen" spielt im West-Berlin vor dem Techno-Zeitalter

Von Gustav MechlenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gustav Mechlenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frauen verführt man übers Ohr. Jeder weiß das. Die Verkündigungsszene des christlichen Abendlandes, in der eine Frau vom Zuhören schwanger wird, mag in den Köpfen der zwei jungen Männer aus Pierangelo Masets Roman "Klangwesen" herumspuken, viel bringt es ihnen nicht. "Der einzige regelmäßige Besucher meiner Wohnung ist Ted Morrissey, mein bester Freund. Wenn er kommt, arbeiten wir mit dem Transistorkreis." 133 Transistorradios sind im weiträumigen Loft des Ich-Erzählers Eric Dert um ein Achtspurtonbandgerät aufgebaut. Die beiden Freunde speichern Popsongs und Moderationssäuseleien mit Bachkantaten und Bundestagsdebatten, Konzertmitschnitten und Interviews in alchemistisch-mystischer Manier auf Bändern ab. Sie denken dabei an Kunst und Ruhm und soweit auch an Frauen.

Es sind damit sehr typische Zeitgenossen der 80er Jahre und vielleicht besonders typische Berliner. Augenübungen, Hörübungen, Sinnesübungen, allgemeines Selbsterfahren und Jogazeitalter, DM-Zeiten. Diese Zeit ist selbst schon mythisch, diese Stadt gibt es nicht mehr. Es ist die Zeit, in der man eine nervig lange Pause, ein blödsinniges weißes Rauschen als "Hörerlebnis" verkauft bekam. Eine analoge Stadt, damals vor Techno. Nichts körperlich und ekelhaft, sondern durchgeprüdet, abgemischt und verflogen - eine Zeit und ein Ort hochgradig künstlicher Selbsttäuschung, voller uneingestandener Spießerträume und entsprechend rabiatem Widerstand. Der Exzess ist ein künstlicher, die Erfahrung, die man dabei machen wollte, kommt nicht bei Personen, sondern nur wieder in neuen Kunstprojekten an. O Berlin, du ewiges beschissenes Kunstprojekt voller "Frontstadtseelen", wie der Autor Pierreangelo Maset, im bürgerlichen Leben Professor für Kunst und ihre Didaktik im Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg, es formuliert.

Vor diesem Hintergrund sitzen die jungen Männer und beschallen sich mit ihrer eigenen Produktion. Hocken vollkommen versunken inmitten eines Runds aus Transistorradios sitzend, an einer Art Sinfonie arbeitend, die beim gleichzeitigen Abspielen verschiedener Radioprogramme entsteht. Sie verlieren dabei verschiedene Dinge aus den Augen: a) Tonaufnahmen werden in einer Welt gemacht, die nicht ausschließlich aus Klang besteht. Ihren Fetischismus, der sie ausschließlich mit Radiogeräten und einem Vierspurgerät arbeiten lässt, bemerken sie nicht. b) Das uneingestandene Ziel, die Überwindung der Vereinsamung in dieser unfreundlichen Stadt gerät ihnen in ihrem Furor gründlich daneben, sie arbeiten in ein Archiv hinein, von dem niemand weiß. Das keiner kennen lernen soll und das sie beschützen wie einen Gral. "Es ist meine größte Angst, dass eines der Bänder versehentlich oder willentlich gelöscht werden könnte." Sie machen Feldaufnahmen. Die Durchführung im Feld ist peinlich, so rufen sie zum Beispiel "Nietzsche-wo" in einem Nietzsche-Seminar an der FU. Aber sie ertragen alles, es dient ihrer Sache, das macht sie einsam.

Sie verlieren den Überblick. Und das bei bester Ortskenntnis. Eric ist Kurierfahrer. Er steht im Stau auf dem Saatwinkler Damm, doch seine Analysen zum Wesen des Staus helfen ihm nicht. Was sich bei ihm - durch die ständige Geräuschbeschallung übertönt - staut, weiß er nicht. So wird es einer Frau möglich, die beiden Ohrheinis und deren Projektionen für sich zu gewinnen. Eine emotionale Bruchlandung kommt selten allein.

Dieses Buch ist irgendwie sentimental und tröstlich zugleich. Es ist lange vorbei mit solcherart selbstvergessener Musikproduktion. Ein Vorgehen, das heute durch Turboprofessionalität nahezu ausgestorben ist. Die Ideen waren von großer Unschuld und großer Konzentration getragen. Obendrein scheitern die beiden nicht akustisch, sondern ganz romantisch daran, dass sie Kunst und Leben nicht auseinander zu halten wissen. Die Frauen, die sie begehren, gibt es für sie als Stimmen, mit Körpern hat das nichts zu tun. Aber natürlich wollen sie auch ficken. So geraten sie sozusagen in synästhetische Konflikte, weil sich die Sinnesdaten nicht gleichberechtigt auf Bändern speichern lassen. Die ausbleibende Kunst wirkt wie ein Halluzinogen auf sie, und sie meinen sehr nah vor großartigen Erkenntnissen zu stehen, während die überquellenden Sinnesdaten, die Stadt, Frauen, Hütchenspieler, der ganze damalige Westen Berlins, irgendwie lähmend wirken.

"Klangwesen" ist der Debütroman des 1954 in Kassel geborenen Pierangelo Maset. Manches, von dem das Buch handelt, ist autobiografisch. Die Figur des Ted Morrissey beispielsweise ist eine Hommage an Masets Freund Matt Craver, den Mit-Gründer von "Atari Teenage Riot", der 1992 bei einem Autounfall starb. Eine der entscheidenden Figuren, die Techno in Deutschland entwickelt haben.

"Über den Plot hinaus steht für mich das Sampling und Recycling von Klängen für eine kulturelle Veränderung, die auch in andere künstlerische Disziplinen - wie z. B. die Literatur und die Bildende Kunst - hinein gewirkt hat", formuliert Maset die Idee zu seinem Buch. "An der Oberfläche geht es um eine andere Form von ,Werk' und ,Autorschaft', in der Tiefenebene um Resonanzeffekte, die die Subjekte überwältigen können." Wie komisch eine solche Überwältigung aussehen kann, lässt sich in Masets zart ironisch geschriebenem Buch "Klangwesen" wunderbar nachlesen.


Titelbild

Pierangelo Maset: Klangwesen. Roman.
Herausgegeben von Daniela Seel.
Kookbooks Verlag, Idstein 2005.
157 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3937445153

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