Bloß nicht konkurrieren

Jan Philipp Reemtsmas neuer Vortragsband erklärt, warum die Literatur doch noch nicht untergegangen ist - und bewegt sich dabei weiter in der Tradition Christoph Martin Wielands und Arno Schmidts

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Warum studiert, warum lehrt man Literaturwissenschaften?" So fragt einer der Vorträge, die Jan Philipp Reemtsma in seinem neuen Band "Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit. Sechs Reden über Literatur und Kunst" publiziert hat.

Die gleichermaßen bescheidene wie provokative Antwort des Hamburger Literaturprofessors lautet: "Es ist ganz ähnlich wie mit dem Lateinlernen. Warum sollte man Latein lernen? Nur aus einem Grunde: um Latein zu können. Jeder andere Grund ist lächerlich."

Nein, Sie haben sich nicht verlesen. Kulturpessimistisches Pathos kann man Reemtsma gewiss nicht vorwerfen, wenn er über den Nutzen seiner eigenen Profession nüchtern schreibt: "Frage also: wozu braucht man Literaturwissenschaft? Antwort: um Literaturwissenschaft zu betreiben, um andere Literaturwissenschaftler auszubilden, damit die wieder andere Literaturwissenschaftler ausbilden".

Und tatsächlich, das war's dann auch schon: "Braucht man Literaturwissenschaft also für irgend etwas außerhalb ihrer selbst? Nein." Und: "Gibt es irgendeinen guten Grund, Literaturwissenschaftler für das, was sie tun, zu bezahlen, damit sie es von Berufs wegen tun können - außer man hat es gern, daß es sie gibt?" Reemtsma schüttelt auch hier unerbittlich den Kopf: "Nein. Jede kulturpolitische Diskussion, die dies nicht ernst nimmt, ist nicht ernstzunehmen."

Noch Fragen? Einer der zentralen Punkte, die Reemtsma in den Beiträgen seines Buchs immer wieder umkreist, ist tatsächlich die Feststellung, dass Kunst, Literatur und das Reden darüber, ihre Kritik und damit auch ihre Wissenschaft anmaßenderweise einfach da seien. Wolle man sie behalten, so nur deshalb, um ihre Fortexistenz zu sichern. Jede Konstruktion eines wie auch immer gearteten, darüber hinaus weisenden gesellschaftlichen Nutzens verneint Reemtsma jedoch selbstbewusst - um nicht zu sagen: mit aristokratischer Selbstgewissheit.

Daran knüpfen sich nun in seinen Reden allerlei gebildete Gedankenspiele, u. a. über die Funktion der Diskussionen über einen (verlorenen) literarischen Kanon, die Frage nach einer (nicht existenten) "kulturellen Elite" und der (fragwürdigen) Deutung bzw. Überinterpretation von Kunstwerken. Reemtsmas Vorträge geben sich dabei selbst als aufklärerischer Ernstfall jener Kommunikation über Kunst zu erkennen, um deren Verteidigung es dem Redner und Autor geht. Man lehre eben Literaturwissenschaft, um sich zukünftige Gesprächspartner heranzuziehen, mit denen man sich weiter über die Literatur unterhalten könne, und Punkt: "Aus keinem anderen Grund"!

Dem immerhin möglichen zukünftigen Abbruch dieser ehrwürdigen Tradition sieht der Vorsitzende des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) dabei jedoch nicht etwa mit der alten Klage über den unmittelbar bevorstehenden 'Untergang des Abendlands' entgegen. Vielmehr blickt er dieser Vision eher kühl ins Auge - erzeugten doch solche kulturellen Verluste nicht einmal einen "Phantomschmerz" wie ein amputiertes Bein, wie er notiert, um trocken fortzufahren: "Wenn eine Gesellschaft vor ihrer literarischen Kultur keine Achtung mehr hat, wenn die Achtung nicht so beschaffen ist, daß sie es als achtenswert empfindet, über diese Kultur einigermaßen Bescheid zu wissen, wenn sie also das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit - ihre Unbildung - nicht mehr als bedauerlichen Mangel empfindet, der nur durch die Bildung einer kulturellen Elite kompensiert werden kann, dann ist nichts mehr zu machen".

Das grenzt natürlich, so klassisch formuliert und wie aus dem 18. Jahrhundert hinübergerufen, an eine geschickte Erpressung der postmodernen Popkultur. Zumindest ist es, bei allem Understatement, mit dem Reemtsma in seinen Reden zu Werke geht, eine indirekte Polemik gegen das, was heute unsere mediale Wirklichkeit längst und gnadenlos bestimmt. Und so benennt der Philologe an anderen Stellen dann doch schon mit deutlicherem Abscheu, was seiner Meinung nach am Ende ohne die "elitenvermittelte[n] Symboldeutungen" der Kunstvertrauten übrig bleiben würde: "Der Mob, der sich in den Fernsehstudios ankeift, der Mob vor den Bildschirmen, der sich was Besseres dünkt", schimpft der Mitbegründer der Bargfelder Arno Schmidt Stiftung bereits in seinem eröffnenden Beitrag über den "fortschreitenden Verlust an Symbolisierungsfähigkeit". Da fährt er dann sogar fast schon selbst wie eine grantelnde Schmidt-Figur aus der Haut, wenn es um den "tatsächlich unbeschreibliche[n] Irrsinn bloßer Tatsächlichkeiten und Tätlichkeiten" unserer Alltagsberieselung geht, "wo masochistische Idioten stolz darauf sind, in Fernsehsendungen eingeladen zu werden, wo sie als die masochistischen Idioten, die sie sind, präsentiert werden - und zwar von - ach nein, nicht von begabten, den Betrieb parodierenden Zynikern, sondern von sadistischen Idioten - -" etcetera.

Sehen wir der Tatsache ins Auge: Reemtsma ist ein Konservativer der alten Schule. Das Wort "Elite" kommt zumindest auffällig oft in seinen Texten vor, und so ist sich der verdienstvolle Hamburger Mäzen auch nicht zu schade, sich mit spitzen Fingern einmal darüber zu mokieren, dass das zeitgenössische Theater seine Zuschauer geradezu zwanghaft mit den Genitalien ihrer Schaupieler vertraut mache: "Besteht tatsächlich die Befürchtung, das Publikum könne nur noch begreifen, daß es auf der Bühne um Sexualität geht, wenn sie in actu vorgeführt wird oder die dafür verwendeten Körperteile ad oculos demonstriert werden?" Höhnend fügt Reemtsma hinzu: "Und wenn dann die Theater leer bleiben? Dann bleiben sie eben leer. Und das Publikum beobachtet", schreibt er in erboster Anspielung auf die Fernsehsendung "Big Brother", "wie eine Gruppe von Leuten, die von morgens bis abends bei allem und jedem gefilmt werden, ihr trostloses Leben zunehmend [....] zänkisch und obszön vor sich hin lebt." Da bleibt nur noch ein an das Theater gerichtetes Flehen: "Bitte nicht konkurrieren; bitte -".

Ähnlich bitter ruft der Autor an anderer Stelle den Professorenkollegen seines Fachs im Lande in geradezu militärischem, zumindest aber puristischem Tonfall zu: "Daraus, daß die 'Titanic' möglicherweise sinkt, folgt das Recht nicht, die Brücke zu verlassen. Daß die Achtung, die man Literaturkundigen entgegenbringt, vielleicht schon nicht einmal mehr schwindet, legitimiert nicht die Umbenennung des literaturwissenschaftlichen Seminars in 'Neuere deutsche Literatur und Medienkunde'".

Kein Zweifel: Offenbar darf die Literaturwissenschaft in Reemtsmas Augen den konkurrierenden Feldern gesellschaftlicher Kommunikationsdiskurse nicht einmal den kleinen Finger reichen, ohne sich selbst unwiderruflich zu verraten: "Man hat so lange auf dem Posten zu bleiben wie die Musik spielt", lautet sein gestrenger Befehl.

Passenderweise ist Reemtsma in seinem Buch auch mit markigen Arno-Schmidt-Zitaten wieder einmal oft und gern bei der Hand, und Schmidts literarischem Hausgott Christoph Martin Wieland ist gleich ein ganzer Vortrag gewidmet, gehalten 2001 in Oßmannstedt, anlässlich des Beginns der Restaurierung des Ilmenweges zum Grab des großen Klassikers. Vielleicht ist dies sogar der gelungendste Text des Bands, wird ihn ihm doch knapper gefasst, was in anderen Aufsätzen manchmal einen Tick zu zirkulär und zu weitschweifig gerät: "Literatur ist ein Drittes, über dessen gemeinsame Betrachtung Dialogpartner das sehen können, was ihnen im zwischenmenschlichen Kommunizieren über sich und die Welt verborgen bleiben muß: Ihre Kommunikation", fasst Reemtsma hier zusammen. "Um unser Gesicht erkennen zu können, reicht es nicht, in den Spiegel zu sehen, sondern wir brauchen eine Instanz, die uns dabei porträtiert, wie wir in den Spiegel sehen und dabei Gesichter schneiden": nämlich die Literatur.

Man mag dem Autor hier und da wiedersprechen oder gewisse rhetorische Seitenhiebe des Buchs sogar für unpassend halten - doch dies wäre dann ja schon wieder Teil des Streitgesprächs und der kulturellen Kommunikation, für die Reemtsma eine Lanze bricht. Und dass sich manche Textpassagen im Band wiederholen oder überschneiden, räumt er bereits schon im Vorwort schuldbewusst ein. Geschadet hat es dem Buch in tolerierbarem Maße - und anders als sein Autor annimmt, kann man es durchaus an einem stillen Nachmittag von vorne bis hinten durchlesen: mitdenkend, entrüstet widersprechend oder auch erfreut nickend - je nachdem.

Titelbild

Jan Philipp Reemtsma: Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit. Sechs Aufsätze zur Literatur und Kunst.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
180 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3406537243

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