Scherben einer Familientragödie

Henning Mankells Roman "Kennedys Hirn"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Schweigen hat die schönste Stimme", hat der alte Artur seiner Tochter Louise Cantor, der Protagonistin des neuen Romans von Henning Mankell, mit auf den Weg gegeben, als er die noch unbeeinträchtigte Natur Nordschwedens pries. Für seine Tochter, eine in Griechenland tätige Archäologin, gewinnt das (Ver-)Schweigen und Vertuschen im Laufe der Handlung allerdings eine andere Dimension. Tote pflastern ihren Weg - Personen, die ihr Schweigen brachen und dann abrupt verstummten.

Nachdem er mit seinen Kriminalromanen um den kauzigen Ermittler Kurt Wallander große Erfolge feierte, hat sich der abwechselnd in Schweden und Maputo lebende Henning Mankell aufgemacht, jenseits der Krimiwelt zu reüssieren. Im letzten Jahr legte er mit "Tiefe" einen beachtenswerten Roman vor, in dem es nicht primär um die Aufklärung von Verbrechen ging.

"Kennedys Hirn" funktioniert nach ähnlichem Strickmuster. Zwar gibt es wieder etliche Leichen und thrillerhafte Passagen, die dem Leser ein Höchstmaß an detektivischem Spürsinn abverlangen, doch dieser Roman lässt sich gleichermaßen auch als große Familientragödie vor dem Hintergrund eines global operierenden Verbrechernetzes lesen.

Als Louise Cantor von Ausgrabungen in Griechenland in ihre Heimat zurück kehrt, findet sie ihren Sohn Henrik tot auf. Der 25-jährige - so die Untersuchungen - starb an einer Überdosis Schlafmittel, eine Fremdeinwirkung konnte nicht festgestellt werden. Doch die Mutter glaubt an ein Verbrechen, studiert die wenigen schriftlichen Hinterlassenschaften ihres Sohnes, stößt dabei auf Aufzeichnungen über das Verschwinden von Kennedys Hirn und merkt, wie fremd ihr der eigene Sohn war. Legenden, Vertuschungen Halbwahrheiten und falsch ausgelegte Fährten ranken sich noch heute um den Tod des amerikanischen Präsidenten. Dieser Mittel hat sich Mankell auch in seinem neuen Roman bedient.

Henriks Vater Aaron hat seine Familie vor langer Zeit verlassen, doch Louise will ihren Ex-Mann zu Rate zu ziehen und bricht nach vagen Hinweisen in Richtung Sydney auf. Dort wird es dann ziemlich abenteuerlich. Louise lernt den schwedisch-stämmigen Oskar Lundin kennen, der ihr binnen 24 Stunden Auskunft über Aarons Aufenthaltsort erteilt, obwohl dieser als Eremit in einem entlegenen Küstendorf lebt. Verzeihen wir Mankell diese Unwahrscheinlichkeit, denn anschließend kommt die Handlung richtig in Fahrt: Louise und Aaron gehen, gemeinsam um den verlorenen Sohn trauernd, ein Zweckbündnis ein und beschließen, die entstandenen Ungereimtheiten aufzuklären. Sie reisen zusammen nach Barcelona, wo Henrik über viele Jahre einen zweiten Wohnsitz hatte. Bei ihren Recherchen stellen sie fest, dass ihr Sohn über ungeahnte Reichtümer verfügte, Aufzeichnungen über Pharma-Experimente archivierte und vorgab, Journalist und Widerstandskämpfer zu sein.

In Barcelona verliert sich dann allerdings auch wieder Aarons Spur, und Louise, die auch hier ein Verbrechen wittert, ist wieder auf sich allein gestellt, als sie nach Maputo aufbricht, wo ihr Sohn in einem Krankenlager gearbeitet hat. Nur telefonisch findet sie bei ihrem betagten Vater, der einen ruhenden Pol in diesem Roman verkörpert, einen Rückhalt. Über eine von Henriks Freundinnen erfährt sie, dass ihr Sohn HIV-positiv war. Hat er sich - das nahende Ende vor Augen - doch selbst das Leben genommen? Oder hat der als Leiter einer afrikanischen Krankenstation tätige weiße Geschäftsmann Holloway seine Finger im Spiel? Louise erhält Hinweise, dass Holloway in seinem Spital an aidskranken Afrikanern neue Medikamente ausprobieren lässt und dass es in diesem Zusammenhang schon eine Menge Tote gab. Holloways Sohn Steve starb in den USA in jungen Jahren auch an Aids, und Henrik Cantor hatte dies offensichtlich gewusst. War Henrik vielleicht gar nicht der idealistische Weltverbesserer, den er nach außen hin verkörperte, sondern nur ein mieser Erpresser? Durch diese Deutungsvariante ließe sich jedenfalls sein Reichtum erklären. Wie in ihrem Beruf als Archäologin hat Louise versucht, Scherben zusammenzufügen, doch die Fakten, Indizien und Interpretationen ergeben kein widerspruchsfreies Gesamtbild.

Im Nachwort führt Henning Mankell aus, dass er diesen Roman mit viel Zorn geschrieben habe. Doch der Zorn und ein unübersehbarer moralischer Impetus haben augenscheinlich seine Kreativität beflügelt, denn Louises gefährliche Odyssee zieht den Leser spätestens nach einem Drittel der Handlung so sehr in den Bann, dass man glaubt, das Buch nicht mehr aus der Hand legen zu können. Es gibt (und darin liegt der Reiz dieses opulenten Erzählwerks) keinen allwissenden Kurt Wallander, der uns die Welt fein säuberlich in Gut und Böse zerlegt und jedes Rätsel löst. "Zu fragen sind wir da, nicht zu antworten", schrieb einmal ein anderer bedeutender skandinavischer Schriftsteller - es war Henrik Ibsen.


Titelbild

Henning Mankell: Kennedys Hirn. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006.
400 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3552053476

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