"Acht Milliarden Klone + kein Ende"
Reinhard Jirgls neuestes literarisches Exerzitium "Abtrünnig"
Von Stephan Landshuter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt gute Gründe, Reinhard Jirgl zu den besten deutschen Autoren der Gegenwart zu zählen, er ist aber gewiss auch einer der problematischsten. Kaum einer seiner Kollegen hat so einen intensiven und kalten Blick auf unsere Lebenswirklichkeit und überführt seine Diagnose in so finstere wie poetische Sprache. Aber die Romane des in literarischen Fragen völlig kompromisslosen Berliners stellen aufgrund ihrer ungewöhnlichen Orthographie für den Normalkonsumenten von Literatur offenbar nach wie vor eine Überforderung dar, denn eher überschaubar ist die Zahl seiner Leser. Dabei kann man nicht genug betonen, dass die Privatschreibweise Jirgls nach kurzer Gewöhnungsphase keinerlei Lesehindernis ist. Die eigentlichen Probleme liegen woanders, wir werden noch darauf kommen.
Zwei Ich-Erzähler stehen im Zentrum des neuen Buchs "Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit": der eine ein entwurzelter freier Journalist aus Hamburg, der eine Scheidung durchlebt, der andere ein Grenzschützer aus dem Osten Deutschlands, der den plötzlichen Krebstod seiner Ehefrau nie verwunden hat. Beide Männer zieht es jeweils wegen einer Frau nach Berlin. Doch die Grundhandlung ist für Jirgl eher zweitrangig und mehr ein Vehikel, um seine Sprachmaschinerie anzuwerfen.
Von allen Themen, die dieser Roman anschlägt, ist wohl die sarkastische Kritik am alles abtötenden Weltkapitalismus das dominanteste. Mächtig sind in diesem System diejenigen, die an den Schalthebeln sitzen und über große ökonomische Mittel verfügen. Menschen an diesen Positionen sind bei Jirgl die neuen Faschisten - wie die Metaphorik mehrfach suggeriert -, die die Ohnmächtigen des Systems perfide quälen, wie es ihnen gefällt.
Jirgl ist aber alles andere als ein sozialkritischer Kämpfer für die Entrechteten, sein Urteil über die Menschheit als ganzes ist ebenso düster: Solange die Grundbedürfnisse des Menschen gestillt sind, fügen sich alle willig in das System: "Achtmilliarden Klone + kein Ende". Dieses Verdikt fällt zwar in einer surrealen Traumsequenz niemand geringeres als Stalin, doch widerspricht der Text dieser Aussage an keiner Stelle, im Gegenteil. Auch die Demokratie birgt in Jirgls Kosmos keine Hoffnung, was sich an der pointierten Schreibweise "Dämokratie" zeigt.
An dieser Stelle muss einmal eingehend auf die schon erwähnte Sonderorthographie eingegangen werden. Jirgls Romane sind ohne diese schlechterdings nicht vorstellbar, da sie ein integraler Bestandteil dieser Art des Schreibens sind. Problematisch ist, wie eingangs schon angedeutet, durchaus nicht diese Schreibweise selbst, sondern etwas anderes: Fragwürdig ist Jirgls Neigung zum orthographischen Kalauer, die oftmals an Arno Schmidts Verschreibkunst erinnert. Was soll es zum Beispiel an Erkenntnisgewinn bringen, wenn man von einer "E-Mann-Zippierten-Frau" spricht? Was soll die Schreibweise "Platt-O-Sohlen" bringen? Ist es von irgendeinem Nutzen, den amerikanischen Staat als "You Äss" (kapiert?) wiederzugeben. Jirgls Romane sind gepflastert mit derartigem, mit Verlaub gesagt, Nonsens, und der Autor wäre gut beraten, diese Form des tranigen Humors etwas zurückzufahren.
Der zweite Kritikpunkt, der hier vorgebracht werden soll, betrifft Jirgls Hang zum autistischen Monologisieren. Wenn Jirgls Romane einmal auf die philosophisch negative Schiene geraten, dann befällt einen bisweilen der Eindruck, einem außer Kontrolle geratenen Schnellzug auf dem Weg durch einen nicht enden wollenden Tunnel zuzusehen. Einmal in Fahrt, häufen Jirgls Romane dann Metaphern ohne Zahl, um den allumfassenden Pessimismus zum Ausdruck zu bringen. Die Folge ist ein hohes Maß an Redundanz, die Jirgls Texte unnötig schwächen.
Dies ist umso bedauerlicher angesichts der vielen Passagen, in denen Jirgl zeigt, was für ein großartiger Erzähler er sein kann, wenn er denn will. Gleich das erste größere Kapitel "Schmutzige Menschen", in dem der Grenzschützer sich in eine Ukrainerin verliebt und dieser zur illegalen Einreise verhilft, ist von einer emotionalen Spannung und Intensität, die ihresgleichen sucht. Auf diesen 24 absolut perfekten Seiten (denen noch viele Passagen auf solchem Niveau folgen) beweist Jirgl, dass er ein Meister sein kann, wenn er sich auf das Erzählen einer Geschichte konzentriert und sich nicht in essayistischen Einschüben verliert.
"Abtrünnig" hinterlässt somit in der Gesamtschau einen zweigesichtigen Eindruck. Alle Stärken und Schwächen Jirgls sind gleichermaßen in extenso versammelt und man fragt sich, wenn man gleichermaßen beglückt und erschöpft am Ende dieses ausufernden Romans angelangt ist, wie es im Schaffen dieses ungewöhnlichen Autors wohl nun weitergehen wird. Dass unsere Lebenswirklichkeit eine der schlechtesten aller möglichen Welten ist, hat Jirgl mittlerweile eindringlich vorgeführt, und seine Leser haben diese oft verbissenen, aber immer auch faszinierenden literarischen Exerzitien mehrfach bereitwillig mitdurchlebt. Mit dem nächsten Roman wird sich zeigen, ob Jirgl endgültig in eine Wiederholungsschleife gerät oder imstande ist, Neuland zu gewinnen.
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