Kommunikation am Computer

Über Zwischenmenschliches im virtuellen Raum

Von Matthias FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Franke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Zwischenmenschliche der Kommunikation zeigt sich in Chat-Räumen. Chat bedeutet Echtzeitkommunikation per Tastatur. Bei der Benutzung des eigenen Chatprogramms WELL vermittelt sich Howard Rheingold das Gefühl, eine Stammkneipe zu besuchen. Rheingold nimmt den Chat als freundschaftliches Treffen war. Die Teilnehmer tratschen, philosophieren, helfen einander und treffen sich im Chatroom zur verabredeten Zeit zum "gemeinsamen Frühstück" - doch sie werden sich wahrscheinlich niemals von Angesicht zu Angesicht begegnen. Die Teilnehmer an der Netzkommunikation sitzen sowohl vor ihrem Computer, wie auch im virtuellen Raum des Chats. Sie balancieren zwischen der Welt ihres Wohnzimmers oder Arbeitsplatzes und dem virtuellen Raum des Chats. "Mit der informationstechnischen Vernetzung eröffnet sich hinter dem Bildschirm ein neues Zimmer der Realität, eine neuartige Zone des Bewohnbaren", meint Ute Hoffmann. Der Begriff vom Raum, der von den Teilnehmern an der Netzkommunikation selbst geprägt wurde, geht über die Kategorien des Geographischen hinaus. Er umschreibt eher Bedeutungszusammenhänge, die durch die Interaktion der Teilnehmer entstehen. Dass es psychischen Energien sind, die einen Raum konstitutieren, erkannte schon Georg Simmel. Raum ist für ihn die "Tätigkeit der Seele", welche die "menschliche Art bezeichnet, an sich verbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden". Damit sind Grenzen keine räumlichen Phänomene mit soziologischer Auswirkung. Sie sind soziale Phänomene, die sich nach Simmel räumlich formen. Die Ambivalenz am Computer zeigt sich im gleichzeitigen Erleben des Raums vor dem Schreibtisch und des Raums im Chat. Das wird deutlicher, wenn es zum Bestandteil des Chats wird, sich mitzuteilen, was man zeitgleich offline tut, während man im Chatroom agiert. Beide Räume überlagern sich. Benutzer im Netz befinden sich in Räumen, in denen sich unterverschiedliche soziale und kulturelle Kreise begegnen und dadurch eine eigene Dynamik entwickeln kann, die die Prämissen des Denkens in Frage stellt. Grenzen erodieren, Eindeutigkeit wird zu Mehrdeutigkeit, gewohnte Bedeutungsstrukturen werden sinnlos. Wer im Chat interagiert und Bekanntschaften macht, lernt also, bei der Kommunikation verschiedene Deutungen in der Schwebe zu halten und in der mit dem jeweiligen Gegenüber auszutarieren, inwieweit die Regeln, Wertevorstellungen und Normen der Offline-Welt ihre Gültigkeit behalten. Netzkontakte knüpft man schnell. Die Anwesenheit im Netz signalisiert Gesprächsbereitschaft. Gelöst von den Regeln, welche offline die Gefühle kanalisiert, entsteht im Netz schnell auch Intimität. Den anderen nicht zu sehen, beflügelt die Fantasie und ruft ein Königskinder-Fänomen hervor, wie Elisabeth Reisch feststellt. Die Unmöglichkeit, sich offline zu treffen, aber dennoch jederzeit in Kontakt treten zu können, mag den Hot Chat (Sex beim Chat) leidenschaftlicher machen. Sie entbindet aber gleichzeitig von Verantwortlichkeit in der Online-Beziehung. Roswitha Casimir berichtet von großer Enttäuschung und Depression, als der Chat-Partner mit dem Pseudonym Claude die Liebesbeziehung zu ihr beendete. Er meldete sich einfach nicht mehr: "Insgesamt war ich fünf Stunden ohne Unterbrechung in dem Forum, beteiligte mich an keinem Gespräch, sondern saß nur da, blickte auf den Bildschirm und wartete auf Claude. Aber er kam nicht [...]. Ich bin ihm nie wieder online begegnet". Verstärkt wird die emotionale Krise von der Unsicherheit bezüglich der Identität des Kommunikationspartners. Das wird in folgender Chat-Sequenz deutlich, die Ute Hoffmann aufzeichnete:

"(21. Juli 1992)

Barry says, 'Are you still holding out on me?'.

Julia says, ' I mean, have I convinced you I'm computer, yet?'.

Barry says, 'I guess you're real... but I still like to get you to my DEN to run tests on you'.

Julia says, 'I live for your approval, Barry'.

Barry says, 'I'm so glad to hear that. Why don't you come over to my home?'

Julia says, 'I want to have a child someday'.

Barry says, 'What a coincidence... I too wish to make a baby... some day.

Julia says, 'The date is Tue, Jule, 21, 23:57:31, Barry!'."

Innerhalb dieses MUDs hat sich Julia durch die allzu genaue Zeitangabe als Computerprogramm entpuppt. MUDs sind sprachbasierte Spiele, bei denen Teilnehmer in die Rollen von Wesen einer Fantasiewelt schlüpfen und wie beim Chat in Echtzeit per Tastatur kommunizieren. Offenbar nehmen an diesen Spielen auch Computerprogramme teil. Es gibt zahlreiche Software-Agenten, die von Unternehmen zur "Marktananlyse", also zu Spionagezwecken in Chatrooms platziert werden. Der Teilnehmer Barry ahnt bereits, dass er es mit einer Maschine zu tun haben könnte. Spielerisch und mit Ironie spricht er also seine Zweifel über die Identität seines Gegenübers an. So oder in ähnlicher Weise berücksichtigt das Kommunikationsverhalten im Chat die Unklarheit über die Identität anderer Teilnehmer. In der hergebrachten Kommunikationssituation besteht Klarheit über das Geschlecht, das Alter und das Aussehen des Gesprächspartner. Doch im Netz verlieren die Dualismen Mann/Frau, alt/jung, schön/hässlich ihre Bedeutung. Die Uneindeutigkeit der Interaktion im Netz mag manchen überfordern, andere verinnerlichen sie, wie der 15-jährige, der beim Computerspiel in die Rollen verschiedener Akteure schlüpft und sich in der Folge als eine "Mehrcharakterperson", eine "Art Allrounder" bezeichnet, wie Christina Schachtner zu berichten weiß. Ähnliche Phänomene beobachtet man in MUDs. So schlüpft ein US-amerikanischer Student online regelmäßig in eine seiner vier Rollen innerhalb verschiedener MUDs: die Rolle der verführerischen Frau, die Rolle des Machos, die Rolle einer Karotte oder die eines pelzigen Tiers, das verbotene Wünsche auslebt. Er bekennt: "Ich kann mich selbst sehen als sei ich zwei oder drei oder mehr". Sherry Turkel zufolge ermöglichen MUDs und Chatrooms durch den Identity-Switch der Teilnehmer eine Entdeckungsreise zum Selbst. Mit dem Ende der Adoleszenz sollte nach hergebrachten Identitätstheorien wie der Erik Eriksons die Lust auf solche Spiele befriedigt und eine gegen andere abgegrenzte Ich-Identität gefunden sein. Doch Identity-Switch, besonders der Wechsel der Geschlechtsidentität, ist innerhalb aller Altersgruppen ein überaus beliebtes Spiel unter MUD-Benutzern. Während unter registrierten Benutzern das Zahlenverhältnis zwischen Frauen und Männern bei 4:3 liegt, trifft im MUD-System "Habitat" mit seinen etwa 1,5 Millionen Nutzern eine weibliche Figur auf durchschnittlich drei männliche Gegenspieler. Demzufolge frönen Zehntausende von Spielerinnen einem "virtuellen Transvestismus", der gemäß hergebrachter Identitätskonzepte als pathologisches Bedürfnis geprüft werden müßte. Stellt man sich Identität jedoch als einen ständigen, nicht zu vollendenden Prozeß vor, so wirft dies ein anderes Licht auf den Wechsel der Geschlechtsidentität im Netz, das "Gender-Swapping". Identität ist eine Konstruktion, die von gesellschaftlichen Gegebenheiten geformt wird. Unsere Gesellschaft konstruiert Identität maßgeblich durch die Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit. "Doing gender" schreibt Individuen eindeutig den Kategorien männlich oder weiblich zu und verlangt ihnen ein eindeutig "weibliches" oder eindeutig "männliches" Verhalten ab. Der Verlust solcher Eindeutigkeit im Netz erschließt Benutzern eine Sphäre, die über Männlichkeit und Weiblichkeit liegt. Durch Gender-Swapping entdecken die Protagonisten neue Erlebnismöglichkeiten. Geschlechtlichkeit folgt im Netz nicht mehr zwangsläufig den binären Vorstellungen, sondern wird als mehrdeutig und ambivalent konstruiert. Bleibt also die Frage, inwieweit diese Experimente im Netz für den Geschlechterdiskurs, die Konstruktion von Geschlechtlichkeit offline bedeutsam werden könnten. Die Sicherheit eines dualistischen Denkens, das Beruhigende von Eindeutigkeiten wird man nach Turkle wohl weder schmerz- noch kampflos aufgeben. Doch haben Phänomene wie der Identity-Switch zumindest insofern Auswirkungen, als eine Post-Gender-Welt überhaupt erdacht werden kann.

Titelbild

Erik Erikson: Identität und Lebenszyklus.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
223 Seiten, 9,60 EUR.
ISBN-10: 3518276166

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