Scientia poetica sive physiologia

Das Kleist-Jahrbuch 2005 widmet sich den Grenzgängen des Dichters zwischen Kunst und Naturwissenschaften

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Studie "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" (1805-1808) konstatiert Heinrich von Kleist eine "merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt" am Beispiel der Wechselwirkung elektrischer Körper und menschlicher Interaktionen. Und noch einige Jahre später, am 29. Oktober 1810, leitet er das 25. Blatt der "Berliner Abendblätter" mit einem kleinen Text ein, der mit "Allerneuester Erziehungsplan" tituliert ist und in dem sich Gedanken finden, anlässlich derer Werner Frick in seinem "Kleine[n] Versuch über die Gedankenakrobatik eines Un-Disziplinierten" (in: Kleist-Jahrbuch 1997) von der "merkwürdige[n] Symbiose zwischen Kunst und Wissenschaft" gesprochen hat.

Gleich zu Beginn heißt es: "Die Experimentalphysik, in dem Kapitel von den Eigenschaften elektrischer Körper, lehrt, daß wenn man in die Nähe dieser Körper, oder, um kunstgerecht zu reden, in ihre Atmosphäre, einen elektrischen (neutralen) Körper bringt, dieser plötzlich gleichfalls elektrisch wird, und zwar die entgegengesetzte Elektrizität annimmt. Es ist, als ob die Natur einen Abscheu hätte, gegen alles, was, durch eine Verbindung von Umständen, einen überwiegenden und unförmlichen Wert angenommen hat; und zwischen je zwei Körpern, die sich berühren, scheint ein Bestreben angeordnet zu sein, das ursprüngliche Gleichgewicht, das zwischen ihnen aufgehoben ist, wieder herzustellen".

Während Text fulminant als experimentalphysikalische Abhandlung über den Spannungsausgleich zwischen Körpern mit entgegengesetzter elektrischer Ladung einsetzt, wird dieser Sachverhalt jedoch alsbald zu einem "auch in der moralischen Welt" anwendbaren "gemeine[n] Gesetz des Widerspruchs" verallgemeinert, das "nicht bloß von Meinungen und Begehrungen" gelte, "sondern, auf weit allgemeinere Weise, auch von Gefühlen, Affekten, Eigenschaften und Charakteren".

Kleists schwierige "Liebe zu den Wissenschaften" (so in einem Brief an die Schwester Ulrike vom 5. Februar 1801) beginnt bereits mit dem Jahr 1799, in dem er sich, nach fast siebenjährigem Militärdienst, an der Universität seiner Heimatstadt Frankfurt an der Oder für die Fächer Physik, Mathematik, Kulturgeschichte, Naturrecht und Latein immatrikuliert. Die Überlegungen, gewissermaßen more scientifico "den sichern Weg des Glücks zu finden", manifestieren sich auf verschiedene Weise: Zum einen im pädagogischen Furor eines Lernprogramms, in dem Kleist seine Verlobte Wilhelmine von Zenge mit szientifischen Legenden um Newtons Apfelbaum, Galileis pendelnde Kronleuchter, Pilâtre de Roziers Erfindung der "Luftschiffahrtskunst" aus der Beobachtung eines rauchenden Schmiedefeuers oder mit seitenlangen Exzerpten aus Christian Ernst Wünschs "Kosmologischen Unterhaltungen für junge Freunde der Naturerkenntnis" traktiert.

Ferner begegnet man im frühen Stadium von Kleists Wissenschaftsbegeisterung auch einer Unzahl von Denkbildern, die in späteren Texten "zu zentralen Symbolen seiner dichterischen Phänomenologie einer gebrechlichen Weltordnung avancieren werden" (Frick). Die Würzburger Paradoxie vom Gewölbebogen, der ohne Stütze aufrecht steht, "weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen", oder das von der blühenden Eiche, der im Unwetter die größte Gefahr droht - "Die abgestorbene Eiche, sie steht unerschüttert im Sturm, aber die blühende stürzt er, weil er in ihre Krone greifen kann" -, sind zwei Bausteine des Kleist'schen "Ideenmagazins", die ihre produktiven Weiter- und Um-Schriften in nahezu sämtlichen poetischen Texten von der "Familie Schroffenstein" über die "Penthesilea" bis zum "Erdbeben in Chili" erfahren und damit die Durchlässigkeit der Schwelle von Wissenschaft und Poesie verdeutlichen.

Bekanntlich findet Kleists Wissenschaftsenthusiasmus eine erste deutliche Abkühlung in der so genannten "Kant-Krise" des Jahres 1801, wobei die rasch um sich greifende "epistemologische Depression" allererst dessen literarisches Œuvre freigesetzt hat, so dass Frick mit Recht von der "Geburt der Dichtung aus dem Geiste einer Wissenschaftsskepsis" sprechen konnte. Sämtliche szientifischen Ambitionen brechen schließlich im Erlebnis der Wissenschaftsmetropole Paris zusammen; aber auch hier blüht die Sprache in der Darstellung des Zusammenbruchs auf und nimmt das Format bedeutender Prosa an. Bezeichnenderweise heißt es in einem Brief an Adolfine von Werdeck von Ende Juli 1801: "Ja, wenn wir den ganzen Zusammenhang der Dinge einsehen könnten! Aber ist nicht der Anfang und das Ende jeder Wissenschaft in Dunkel gehüllt? Oder soll ich alle diese Fähigkeiten, und alle diese Kräfte und dieses ganze Leben nur dazu anwenden, eine Insektengattung kennen zu lernen, oder einer Pflanze ihren Platz in der Reihe der Dinge anzuweisen? Ach, mich ekelt vor dieser Einseitigkeit", um mit dem Stoßseufzer einer intellektuellen Verstörung zu enden: "O wie traurig ist diese zyklopische Einseitigkeit!" Ähnlich wie Hölderlin und später auch Büchner im "Woyzeck" setzt Kleist dem um 1800 sich formierenden szientifischen Projekt der Moderne einen Diskurs entgegen, in dem die ausufernde Spezialisierung als Verarmung kritisiert und der "zyklopische" Mikroskopenblick der Naturwissenschaft dekonstruiert wird.

Gleichwohl nimmt Kleists Verbundenheit mit den Naturwissenschaften auch in seiner literarischen Periode keineswegs ab, findet sich jetzt aber auf das Diskursfeld einer literarischen Experimentalkultur um 1800 transponiert, das die Kleist-Forschung seit kurzem zu kartieren bestrebt ist. Frick etwa spricht von den "Denk und Schreibtriebe[n] eines literarischen Avantgardisten und intellektuellen Experimentators"; und Gerhard Neumann konstatiert "Experimentanordnungen, in denen das ungeschützte und [...] seiner Körperlichkeit ausgelieferte Subjekt [...] sich den Redeordnungen und Zeichensystemen einer durch [...] Wissenschaft und Mächtespiel der Politik bestimmten Gesellschaft aussetzt" (in: "Heinrich von Kleist. Kriegsfall - Rechtsfall - Sündenfall", Freiburg 1994). Zuletzt findet sich der Terminus "Experiment" auch in einigen Beiträgen des Kleist-Jahrbuchs 2005, die dem Themenkomplex "Kleist und die Naturwissenschaften" gewidmet sind. Wiederholt wird darauf verwiesen, dass sich in Kleists Briefen und journalistischen Arbeiten bis in die späteste Berliner Zeit hinein ausgeprägt technische Denk- und Experimentierspiele äußern. Man begegnet dort etwa einer artilleristischen "Wurf- oder Bombenpost", "ein Institut, das sich auf zweckmäßig, innerhalb des Raums einer Schußweite, angelegten Artilleriestationen, aus Mörsern oder Haubitzen, hohle, statt des Pulvers, mit Briefen und Paketen angefüllte Kugeln, die man ohne alle Schwierigkeit, mit den Augen verfolgen, und wo sie hinfallen, falls es kein Morastgrund ist, wieder auffinden kann, zuwürfe; dergestalt, daß die Kugel, auf jeder Station zuvörderst eröffnet, die respektiven Briefe für jeden Ort herausgenommen, die neuen hineingelegt, das Ganze wieder verschlossen, in einen neuen Mörser geladen, und zur nächsten Station weiter spediert werden könnte", einer "Aëronautik" samt zugehöriger Witterungs- und Strömungslehre, mathematischen Modellen zu einer preußischen Klassenlotterie, Anzeigen "über eine veränderte Einrichtung der Klaviatur der Tasteninstrumente", einem revolutionären Verfahren, "die Wäsche durch Dampf zu reinigen" oder auch der mit Ernst von Pfuel 1805 konstruierten Taucherglocke, dem so genannten "Hydrostaten".

Gleichzeitig sind, worauf etwa Jürgen Daiber in seinem Beitrag zu "Kleists Dichtung im Spiegel romantischer Selbstexperimentation" verweist, auch "die Prozesse der Adaption und Transformation experimenteller Verfahrensbestandteile in die Sphäre der Literatur bei Kleist" zu beachten. "Beeinflusst von einem Axiom romantischer Naturphilosophie, nämlich der Vorstellung einer Existenz so genannter Leitprinzipien, die als Bauprinzip von Natur und Geist gleichermaßen Bestand haben, macht Kleist das dem Magnetismus entstammende Leitprinzip der Polarität mittels Analogieschluss zu einer Gedankenfigur seiner Dichtung". Nicht zuletzt angeregt von der Modeschrift der Zeit, Gotthilf Heinrich Schuberts "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft" (1808), wird Kleists poetische Experimentiergesinnung erkennbar, die sich viel näher bei den linearen Fortschrittsvorstellungen und dem kollektiven Erkenntnisbegriff der Naturwissenschaften bewegt als bei den um 1800 verhandelten Topoi genialer künstlerischer Subjektivität. Schließlich gelingt es Daiber zu zeigen, dass Kleist mit einer zentralen Folgerung romantischer Naturphilosophie bricht: "Dort nämlich, wo bei den Romantikern sich die getrennten Pole der Natur und des Geistes auf einer Metaebene zur Totalität der Einheit verbinden, verweigern Kleists narrative Experimente diesen Schritt". In dem Moment, wo Kleist Polarität als solche bestehen lässt, ergibt sich, so Daiber weiter, die Gedankenfigur des "verweigerten Dritten", die sich an prominenter Stelle gleich zu Beginn der "Penthesilea" findet, wenn Kleist den verunsicherten Odysseus sagen lässt: "So viel ich weiß, gibt es in der Natur / Kraft bloß und ihren Widerstand, nichts Drittes", und die "als literarisches Narrativ zu einem wesentlichen Gestaltungsprinzip seiner Dichtung wird".

Nicht nur in der "Penthesilea", auch in anderen Texten verweigert sich Kleist der Vorstellung, den so schmerzlich wahrgenommenen Binarismus durch Statuierung einer Metaebene zu einer höheren Einheit verbinden zu können. Vielmehr verharrt Kleists Dichtung, wie Daiber bemerkt, "in jener für die Moderne so spezifischen Zwitterposition einer so genannten 'Doppelkonditionierung', die den Dichter und sein Figurenpersonal in die Ordnung des sie umgebenden Systems als gleichermaßen eingeschlossen wie ausgeschlossen begreift". Die von Kleist konstatierte "gebrechliche Einrichtung der Welt" erträgt keine Synthesen; sie bedarf vielmehr einer Literatur, die Grenzen überschreitet und das Heterogene und Disparate in ungewohnt-erhellenden Kombinationen neu arrangiert, die Normalitäten verfremdet und entkonventionalisiert, die ausgeblendete Denk-, Sprech-, Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen zu einem neuen Diskursnetz verknüpft: Dazu dient Kleists "Experimental-Physik" in erster Linie. So wird aus dem Wissenschaftsflüchtling Kleist ein Experimentator, der auf seinen poetischen Feldzügen die von den spezialisierten Naturwissenschaften unbefriedigte Neugier auf "den ganzen Zusammenhang der Dinge" als Gepäck mit sich schleppt und in seine Texte als Figurenbrüche, Paradoxien und Gedankenstriche, als Störsignale umfassender Ordnungsphantasien einschreibt. Hier allerdings gibt es durchaus noch viel Neues zu entdecken; ein Anfang scheint immerhin gemacht zu sein.


Titelbild

Günter Blamberger / Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Jahrbuch 2005.
Herausgegeben im Auftrag des Vorstandes der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft von Günter Blamberger, Ingo Breuer, Sabine Doering und Klaus Müller-Salget.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2005.
324 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-10: 3476021114

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