Tot in Venedig

Gabriele Weingartner "Fräulein Schnitzler" - die letzten Tage im Leben von Lili Capellini

Von Dorothea GildeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Gilde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Tod in Venedig" - ein Männer- oder Venedigbuch? Kann sich jemand vorstellen, dass Thomas Manns Novelle auf diese Art und Weise gestempelt oder abgestempelt würde? Unvorstellbar, fast ein Sakrileg.

"Fräulein Schnitzler", Gabriele Weingartners neuer Roman hingegen, wurde bei einer Lesung als Frauenroman und Venedigbuch vorgestellt. Vielleicht, weil eine Frau ihn geschrieben hat? Nun ja. Gabriele Weingartner ist eine bekannte Autorin. Ihre anspruchsvolle Prosa sprengt aber eindeutig den Rahmen solch umstrittener Kategorisierung. Wie schon in ihrem Erzählband "Die Leute aus Brody" führt sie uns auch diesmal literarisch in die ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts zurück.

Vielleicht "Frauenroman", weil eine Frau im Mittelpunkt steht? Lili heißt sie, und war die Tochter von Arthur Schnitzler, einem unserer großen Schriftsteller. Der Titel "Fräulein Schnitzler" lässt aufhorchen und verwundert zunächst. Denn Lili war verheiratet und hieß Capellini. Sie war also weder Fräulein noch Schnitzler. "Frauenroman" schließlich, weil das Buch bevorzugt von Frauen gelesen wird? Letzteres könnte zutreffen, am wenigsten aber ist es ein Buch über Venedig oder gar ein Venedigführer. Was ist "Fräulein Schnitzler" dann?

Zunächst ein Kammerspiel mit wenigen Personen. Da ist Lili. Sie ist neunzehn Jahre alt und mit Arnoldo Capellini, einem italienischen Faschisten in Venedig verheiratet. Dieser ist viel älter als sie und wird von der poltrigen Haushälterin Rita mit hündischer Ergebenheit umsorgt. Verständlich, dass Rita in Lili einen Eindringling sieht, und ihr entsprechend mit unverhohlener Abweisung begegnet. Verständigungsschwierigkeiten und Lilis sonderbar realitätsfernes Verhalten entfremden ihr schließlich auch die einzige Bezugsperson außerhalb des Hauses, Signora Livio, die Frau des Buchdruckers. "Trauliche Sitzungen auf den Stufen der Zisterne" nennt Lili ihre Besuche in der Tipografia und weiß doch genau, dass Signora Livio die gleiche einfache Frau ist wie Rita. Es ist die Verzweiflung der Einsamkeit und inneren Not, die sie immer wieder in die Buchdruckerei treibt. Zeitlich begrenzt sich die Handlung auf drei Tage im Juni, den letzten im Leben von Schnitzlers Tochter.

Selbst fast noch ein Kind, muss sich diese plötzlich der Tatsache stellen, dass sie ein Kind bekommt. Wie aber Leben tragen und gebären, wenn man sich dauernd dem Leben entzieht. So wie Rilkes Panther im Jardin du Luxembourg ist auch Lili "gefangen" in der muffigen Wohnung in Venedig. Den ganzen Tag sich selbst überlassen, irrt sie im Labyrinth düsterer Tagträume umher, die sich wie gefräßige Tiere ihrer bemächtigen und ihre Lebenszeit verschlingen. Oft denkt man beim Lesen an eine Mimose, die beim kleinsten Windhauch ihre Blätter und Blüten hängen lässt. "Ist es da nicht besser, wenn man morgens nicht mehr aufwacht?" - wie fernes Gewittergrollen kündigt sich das Ende an.

Je kleiner und beengter der Raum ist, in dem Lili atmet, sich bewegt, träumt und leidet, um so belebter ist ihre innere Welt. Sie ist bevölkert von den Menschen, Straßen, Gesprächen und Streichen aus ihrer Kindheit in Wien. Dem Vater, Arthur Schnitzler, kommt dabei eine ebenso wichtige wie ambivalente Rolle zu. Die Liebe der beiden zueinander als Vater und Tochter kann durch die Doppeldeutigkeit mancher Beschreibung in Zweifel gezogen werden: "Und als er ihr dann an die Brüste griff und sie ihm ungeschickt ihren Oberkörper entgegenbog, mußte Lili an ihren Vater denken, der irgendwo hier in der Nähe schlief." Auch Erinnerungen an die Mutter Olga Gussmann, einer mittelmäßigen Sängerin mit großen Ambitionen, an Streitereien und belauschte Beischlafgeräusche der Eltern ersetzen Lili die reale Welt, wenn sie sich bis in den Mittag hinein der Wirklichkeit entzieht. Dann sitzt sie oft an einer erinnerten Kaffeetafel mit süffisant klatschenden Freundinnen, Alma Mahler etwa, die Lili schon als Kind faszinierte, wenn sie mit der Mutter zweideutig wisperte.

Lili lebte in einer Zeit, in der die Frauen nach außen hin Zeichen ihres Selbstbewusstseins setzten. Sie schnitten sich die Haare ab. Auch Lili tut es. Sie trugen kurze Röcke und gaben sich der Freizügigkeit der zwanziger Jahre hin. Die Einstellung der Gesellschaft konnten sie damit nicht verändern. Im Jahre 1926, als Lili sich das Leben nimmt, schickt Anaïs Nin sich gerade an, durch ihr Tun und Schreiben der bürgerlichen Welt den verfilzten Gesinnungszopf abzuschneiden, der die Frau als Anhängsel des Mannes betrachtete. Bei Lili steigert sich das Gefühl der Demütigung durch Abhängigkeit, und sie sieht sich als Sklavin ihres Mannes. Als sie nach halbherzigem Versuch, das Kind abzutreiben, hinter das Geheimnis von Arnoldos Briefen kommt, die dieser in einer Schublade verschlossen hält, gerät sie unweigerlich in die Todesspirale. Ihre Mutter Olga hatte ein Verhältnis mit ihrem Mann. Lili sieht keinen Ausweg mehr. "Vorrei morrir" - die Todessehnsucht steigert sich zur Kurzschlusshandlung. Lili erschießt sich im Bad mit der Pistole des Capitano.

"Sprich mit dir selbst, Lili, wenn es sonst niemand tut, komm, sprich mit dir. Erzähl dir dein Leben, Lili" - rührend oder rührselig, traurig oder kitschig? Handelt und denkt eine junge Frau von heute wie Lili damals? Nun, einer unglücklichen Frau von heute wird man finsteres Wühlen im Selbstmitleid durchaus zugestehen, literarische Verdichtung allerdings hätte keinen Platz für die tränenreiche Naivität der oben zitierten Zeilen. So mag man sich fragen, warum Gabriele Weingartner für das Sujet aus dem vergangenen Jahrhundert nicht wenigstens Stil und Sprache der Gegenwart gewählt hat. Die Antwort ist einfach. Das Buch ist keine Biografie, sondern ein Roman, der die Form des Selbstgesprächs aus "Fräulein Else" aufgreift. Lili kann nur in der Sprache und dem Stil ihrer Zeit reden. Die ersten Seiten lesen sich daher etwas mühsam. Später stellt man fest, dass es weder am Stil noch am Inhalt liegt. Der Leser muss sich erst einmal einstellen auf den Wechsel zwischen Lilis Selbstgesprächen im angestaubten Wortschatz der k.u.k. Monarchie und der äußeren Handlung.

Nach dem zögerlichen Einstieg fallen dann erste gestreute Hinweise auf. Fast wie bei einer Schnitzeljagd, könnte man wortspielend sagen. Langsam scheint durch Lili und ihre Gedankenwelt "Fräulein Else" durch. Es ist jene berühmte Novelle Arthur Schnitzlers, in der er den inneren Monolog mit einer psychologischen Tiefe führte, die auch heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt hat. Mal ist es Lili, die ihr Leben als Parallele zur fiktiven Else sieht, mal sind es ganze Sätze, die kursiv eingefügt, aus der Novelle stammen, wie zum Beispiel: "Ich bin so furchtbar allein, wie es sich niemand vorstellen kann". Spätestens jetzt wird klar, dass Gabriele Weingartner in ihren Roman mehr als das tragische Ende von Lili Capellini, alias Fräulein Schnitzler, hineingelegt hat. Neben deren Geschichte macht sie geschickt auf den Schriftsteller Arthur Schnitzler und sein Werk aufmerksam. So mancher Leser wird animiert werden, die Novellen wieder oder jetzt zu lesen.

Was Fakten und Fiktion angeht, lässt die Autorin allen Vermutungen, die sich aufdrängen, Freiraum zur Interpretation. Und am Schluss ist wieder die Parallele zu Fräulein Else erkennbar. Weder die eine noch die andere wollte wirklich sterben. Das ist im Falle Lili umso tragischer. Während Else eine literarische Figur ist, lebt Lili. Noch. Und überlegt. "Überlegen wie Else, Papas Fräulein Else, die eine ganze Erzählung lang gebraucht hatte, bis sie zu einem Entschluß gekommen war, und dann so kopflos handelte in ihrer Verzweiflung." Den Kampf der jungen Frau gegen sich selbst, gegen die Dämonen ihrer Alpträume, die zunehmende Kälte und Gleichgültigkeit des Ehemannes und die Verzweiflung einer zerbrechlichen Seele verwebt Gabriele Weingartner zu einem psychologischen Trauerspiel, in dem das Selbstzerstörerische, die psychologische Tiefenauslotung der Novelle von Schnitzler ebenbürtig ist.


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Gabriele Weingartner: Fräulein Schnitzler. Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2006.
248 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3852184991

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