Warten auf den Erfolg

Sergej Gandlewskis Roman über die Moskauer Dichterboheme der 70er Jahre

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hier ist ein Dichter am Werk. Sergej Gandlewski gestaltet seinen Roman um vier große Kapitel herum, die wie Kreuzreime aufeinander abfolgen: Im ersten und dritten Teil wird über die junge Hauptfigur zu Beginn der 70er Jahre berichtet, in den beiden anderen kommt Lew Kriworotow selbst zu Wort - freilich nun ganze 30 Jahre später. In dieser doppelten Spannung zwischen zwei Epochen (unterdessen ist die Sowjetunion zu Grabe getragen worden) und zwei unterschiedlichen Erzählperspektiven entfaltet sich Kriworotows literarische und private Biografie. Wie sich herausstellt, ist Lew in beiden Lebensprojekten gescheitert. Als Dichter verbuchte er zwar anfänglich einen gewissen Erfolg, doch ist er letztlich einer jener ewig im Werden begriffenen Dichter geblieben, deren Durchbruch nie stattfindet. Und Anja, die seine Liebe nicht erwiderte, hat er einem anderen überlassen müssen.

Heimlicher Held des Romans ist allerdings weniger Kriworotow selbst als ein ganzes Kollektiv, nämlich die Moskauer Dichterboheme der 70er Jahre, die Gandlewski in seinem Roman satirisch und humorvoll porträtiert. Bei ihrer Darstellung überzeugen der Witz und die Detailfreudigkeit. Die Satire ist allerdings recht milde gestimmt, sie legt es nicht auf allzu harte Schläge an. Das Ganze wird mit viel Moskauer Lokalkolorit und ein wenig sowjetischem Mief abgerundet.

Kriworotow ist Mitglied dieser Boheme. Auch sein Freund Nikita gehört dazu, der Lew im Privaten bald schon aussticht: Anja nimmt Nikitas Heiratsantrag "ohne Gegenwehr" an. Nicht alle Mitglieder dieser Gruppe sind gleich markig porträtiert. Aber selbst Nebenfiguren, wie etwa das vereinigte schreibende Proletariat, vermögen zu überzeugen, auch wenn sie nur beiläufig durch die Szenerie huschen. Man trifft sich regelmäßig in halb konspirativen Poetenwerkstätten und liest einander aus dem Werk vor. Allen Beteiligten aber stiehlt alsbald Wiktor Tschigraschow die Show, eine Art "sowjetischer Dandy" unter den Poeten, der sich allmählich über die anderen erhebt und sogar literarische Erfolge feiern kann. Er stirbt jedoch schon bald, und dies mit erst 37 Jahren. Viel später wird Kriworotow zu Tschigraschows Biografen und Interpreten: In der Wissenschaft scheint Kriworotow mehr Erfolg beschieden zu sein als beim eigenen poetischen Schaffen.

Mit 37 Jahren ist auch die "Sonne der russischen Dichtung", Alexander Puschkin, seinerzeit gestorben. Und hier offenbart sich ein grundlegendes Prinzip von Gandlewskis Roman. Wenn Gandlewski in einem Interview meinte, hinter seinen Figuren stünden keine realen Prototypen, so mag dies wohl zutreffen. Dafür knüpft Gandlewski aber ein weites Netz von Verweisen auf die russische Literatur, und nicht nur auf diese. Puschkin'sche Züge werden im Roman nicht allein dem Starpoeten Tschigraschow zugeschrieben. Kriworotows Förderin und (um einiges ältere) Geliebte Arina beispielsweise trägt wohl nicht zufällig denselben Vornamen wie die legendäre Amme des russischen Dichters, der dieser in seinem Werk ein Denkmal gesetzt hat. Sie hatte ihrerseits den späteren Dichter mit der Volksliteratur und dem reichen russischen Märchenschatz vertraut gemacht. Kriworotow zeugt übrigens mit Arina mutmaßlich ein Kind, das später im kanadischen Exil aufwächst und eines Tages als böse, aber mit wenigen und knappen Zügen sehr treffend gezeichnete Karikatur eines Amerikaners namens "Leo" im postsowjetischen Russland auftaucht: In stilistischer Hinsicht ist diese Szene zweifellos ein Höhepunkt des Romans. - Die intertextuellen Verweise reichen allerdings weit über Puschkin hinaus. Andreas Tretner, Übersetzer und Paul-Celan-Preisträger 2001, hat ein kleines Dossier mit Anmerkungen zusammengestellt, die einen Großteil der Anspielungen erläutern. Tretner hat sich im Übrigen bereits einen Namen als Übersetzer zeitgenössischer Autoren gemacht. Zu den von ihm ins Deutsche Übertragenen gehören Kultautoren wie Wiktor Pelewin, Boris Akunin und Wladimir Sorokin. Gandlewskis Roman lebt natürlich auch von den erwähnten intertextuellen Verweisen, und ein beträchtlicher Teil des Lesegenusses hängt mit ihnen zusammen. Doch nicht nur: Gandlewskis Buch sprüht auch sonst nur so vor Einfällen, denn der Autor nimmt darin manche negative menschliche Eigenschaft aufs Korn. Und letztlich bleibt der Roman auch ohne das literarische Hintergrundwissen verständlich.

Sergei Gandlewski (geboren 1952) hat an der Philologischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität MGU studiert und danach mehrere Beschäftigungen ausgeübt. Er war unter anderem Lehrer, Reiseleiter, Bühnenarbeiter und Nachtwächter. Gegenwärtig ist er Mitarbeiter bei der renommierten Literaturzeitschrift "Inostrannaja Literatura" (Ausländische Literatur). Wie eingangs erwähnt, ist Gandlewski eigentlich zuallererst Dichter. Als solcher genießt er hohe Anerkennung. Sein Roman "Warten auf Puschkin" hat deshalb vielleicht nicht von ungefähr das Dichten und die Dichter zum Gegenstand. In seiner epischen Dimension, in der hier dargestellten "Geschichte", ist er gleichzeitig eine Satire auf den Literaturbetrieb wie auch eine Liebesgeschichte.

Und Lew, der gescheitere Poet? Manchmal räsoniert er ganz vernünftig. Er, der Jahre lang vergebens auf den großen literarischen Erfolg gewartet hat, gelangt zumindest zu einer wichtigen Einsicht: "Sagen wir, meine Rolle könnte es sein, für eine ordentliche Zwischendüngung des kulturellen Bodens zu sorgen, bevor der nächste große Pflüger kommt."


Titelbild

Sergej Gandlewski: Warten auf Puschkin. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Aufbau Verlag, Berlin 2006.
215 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3351030525

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