Auf Winckelmanns Spuren

Hartmut Langes Novelle "Die Bildungsreise"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hartmut Lange ist ein Meister des dualen Erzählens, arrangiert er seine Texte doch stets so, dass der Leser gezwungen ist, doppelt zu lesen: die gedruckten Zeilen und was sich latent zwischen ihnen bewegt. Dies ist nicht gerade wenig, denn Langes Werke leben von kauzigen Gestalten, mysteriösen Geheimnissen, rätselhaften Anspielungen und metaphysischen Exkursen.

Diesmal schickt er den Berliner Kunsterzieher Müller-Lengsfeldt auf eine Bildungsreise nach Italien. Mit einer kleinen Reisegruppe begibt er sich auf die Fährte des Schriftstellers und Antikenforschers Johann Joachim Winckelmann, der zwei Jahrzehnte vor Goethe zu "seiner" italienischen Reise aufbrach. Seine Eindrücke hält der Protagonist an den historischen Stätten Roms auf einem Skizzenblock fest - Momentaufnahmen im Winckelmannschen Dunstkreis, inspiriert von dessen "erzieherischen Eindruck des Schönen."

Wie bei Lange nicht anders zu erwarten, gibt es auf der Reise immer wieder kleine Hindernisse. Mehrmals versperrt ein gigantisch anmutender Wanderfalke den Bildungstouristen den Weg zu auserwählten Sehenswürdigkeiten. Müller-Lengsfeldt vermutet eine tiefere Bedeutung dahinter, behält die Empfindung aber für sich, erzählt nicht einmal der verehrten Reiseleiterin Ziegler davon, denn die wähnt er nach einigen Tagen in den festen Händen des unsympathischen, weil stets besserwisserischen Herrn Schmeer. So entsteht en passant, mit nur feinen Handlungsstrichen angedeutet, ein kleines Eifersuchtsdrama. Es erreicht seinen Höhepunkt, als die Gruppe bereits wieder nach Deutschland zurückgekehrt und Müller-Lengsfeldt auf eigene Faust weiter geforscht hat. Er erhält ein Fax von Herrn Schmeer, in dem dieser seine Verlobung mit der Reiseleiterin ankündigt.

Immer Winckelmanns Spuren folgend, hat sich der Protagonist inzwischen Richtung Norden bewegt, ist von Wien über Ljubljana nach Triest gelangt - an den Ort, an dem Winckelmann sein trauriges Ende fand. Je mehr sich Müller-Lengsfeldt in seine Recherchen stürzt, um so stärker werden seine Wahrnehmungen getrübt. In diversen Hotels glaubt er mysteriöse "Lichtspiele" auf den Korridoren zubemerken, die ihm Angst einjagen: "War da nicht wieder ein Lichtschein über der Schwelle seiner Tür?"

Wie der Wanderfalke und das geheimnisvolle Hotellicht verfolgt auch der Bruder der Königin Charlotte Sophie die Hauptfigur auf ihren Etappen und zwar als Vision. Hartmut Lange spielt geschickt mit diesen Obsessionen und lässt Müller-Lange so zwischen Wahn und Sinn pendeln. In Triest gerät das "Heiligenbild" vollends aus den Fugen, als Müller-Lange erfährt, dass sich Winckelmann im Hafenviertel mit einem jungen Stricher angefreundet hat, seinem späteren mutmaßlichen Mörder.

Der Leser ist nicht selten auch auf Mutmaßungen angewiesen. Hat der Protagonist in der Ahnung um Winckelmanns Neigung selbst die Nähe zu einem jungen Mann gesucht? Ein Bühnenbildner aus Slowenien wird auf penetrante Weise von Müller-Lengsfeldt verfolgt: Weder im Theater noch in der Freizeit ist der junge Mann vor den Nachstellungen der Hauptfigur sicher, die sich immer mehr in Winckelmann selbst zu verwandeln scheint.

Das Ende hält Hartmut Lange wieder einmal offen.

Ist das Leben ein Zufallskonglomerat? Oder basiert die Reise des Kunsterziehers doch auf einem metaphysischen Fundament? Hartmut Langes "Bildungsreise" ist wie ein intellektuelles Roulettespiel komponiert. Rot oder Schwarz? Zufall oder Metaphysik? Dieser spannenden Ungewissheit sieht sich der Leser ausgesetzt. Es besteht - wie beim Roulette - akute Suchtgefahr, die sich in abermaligem Lektürezwang äußert.

Titelbild

Hartmut Lange: Die Bildungsreise. Novelle.
Diogenes Verlag, Zürich 2000.
128 Seiten, 17,30 EUR.
ISBN-10: 3257062443

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