Iran ist kein Ponyhof

„Das verlorene Kopftuch“ von Nadine Pungs zeigt eine von der Islamischen Republik überforderte Spaßreisende

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Massenproteste um die Jahreswende 2017/2018 aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage; die einseitige Aufkündigung des Atomabkommens durch die USA im Mai 2018; fortwährende aggressive Aktionen persischer Nationalisten gegen die sprachlichen und kulturellen Emanzipationsbemühungen der nicht-persischen Ethnien – im Iran brodelt es gewaltig. Um die aktuelle Situation in der Islamischen Republik, aber auch ihre seit langem bestehenden vielfältigen Probleme zu verstehen, bedarf es Journalisten und Autoren, die sachlich und präzise berichten, sich zugleich aber durch Empathie auszeichnen und bereit sind, die Perspektive des Gegenüber einzunehmen.

Solche Berichterstatter gibt es im deutschsprachigen Raum. Es gibt aber auch diejenigen, die der Versuchung nicht widerstehen können, in die Klischeekiste zu greifen und die exotistischen Bedürfnisse ihrer Mittelschichts-Leser zu befriedigen. Malik, ein Imprint des Piper Verlags, bietet seit mehreren Jahren diese Art von Literatur in Form „lustiger“ Reisebücher an. Der bisher größte Erfolg heißt Couchsurfing im Iran. Meine Reise hinter verschlossenen Türen (2015), geschrieben von Stephan Orth, einem inzwischen ehemaligen Spiegel-Online-Redakteur. So verschlossen ist das Land übrigens nicht, von dem der 1979 geborene Journalist schreibt: Er kann viele Städte besuchen, lässt sich als Couchsurfer gern bewirten, versucht, was verboten ist, Fotos von einem Atomkraftwerk zu machen, erzählt von seinen Erlebnissen mit der iranischen Polizei und von Sadomaso-Spielen, von denen ihm Iraner berichtet hätten.

Couchsurfing im Iran ist problematisch, weil seine Sprache und seine Herangehensweise dem Land und den in ihm herrschenden Verhältnissen nicht gerecht werden. „Ich mache da Urlaub, wo andere Diktatur machen“ ist ein besonders prägnanter Satz aus einem Buch, das auf im Westen tradierte Klischees, auf Effekthascherei und den Angst- und Gruselfaktor setzt, obwohl der Autor seiner Absicht nach ein Land beschreiben will, „das so gar nicht zum Bild des Schurkenstaates passt“. Doch wie kann man so flapsig, so unbedacht und selbstbezogen über ein Land schreiben, in dem die Menschen schon seit Jahren unter Massenarbeitslosigkeit und hoher Inflation leiden, in dem große Armut auf großen Reichtum prallt, in dem Menschen vielfach zu Drogen und selbstproduziertem Alkohol greifen und dem viele junge Leute dem Rücken zuwenden?

Das verlorene Kopftuch. Wie der Iran mein Herz berührte heißt das zweite Iran-Buch, das im Frühjahr 2018 bei Malik erschienen ist und anscheinend auf dem großen Erfolg Orths aufbauen soll. Es ist Nadine Pungsʼ erste Buchveröffentlichung. Die 1981 geborene Rheinländerin arbeitet laut ihrer Website in den Bereichen Schauspiel, Kleinkunst und Moderation und bloggt zudem auf www.reisedepeschen.de über ihre Auslandsaufenthalte.

Das verlorene Kopftuch ist wie Couchsurfing im Iran gestrickt: Pungs erzählt von ihren meist positiven, aber auch von ambivalenten Erfahrungen mit Iranerinnen und Iranern, von ihren teilweise abenteuerreichen Inlandsfahrten per Bus und Taxi und ihren Aufenthalten unter anderem in Teheran, Ghom, Isfahan, Bandar Abbas und Täbris. Sie besucht „klassische“ Reiseziele: Moscheen und Kirchen, das Grab der Königsfrau Esther in Hamadan und das des Dichters Hafis in Schiras, antike Stätten wie Persepolis und Susa, aber auch hierzulande eher wenig bekannte Reiseziele wie die imposante Ali-Sadr-Wasserhöhle, die weltgrößte ihrer Art.

Doch im Gegensatz zu Orth, dessen Motivation das Couchsurfen in einem Land wie Iran ist, wodurch eine gewisse Neugierde erzeugt wird, gibt der Klappentext von Das verlorene Kopftuch an, dass die Reisende herausfinden möchte, „wie die Menschen leben und was sich hinter dem leidigen Begriff ,Achse des Bösenʻ verbirgt“. Der Ausdruck stammt von George W. Bush – aus dem Januar 2002, als die damalige US-Regierung Staaten wie Iran, Irak und Nordkorea beschuldigte, Terrorismus zu fördern und Massenvernichtungswaffen anzustreben. 15 Jahre später die „Achse des Bösen“ als einen der Reisegründe für Pungs anzugeben, wirkt nicht nur auffällig konstruiert, sondern zeigt auch, dass die Autorin nicht auf der Höhe der Zeit ist.

Auch sonst wirkt Pungs nicht allzu interessiert an der Erkundung der realen Lebensbedingungen der Menschen in der Islamischen Republik. In Yazd etwa bewundert sie ein deutsches Pärchen für seine „Kontaktfreudigkeit“. Und fährt fort: „Länger als drei Tage ertrage ich keine Zwischenmenschlichkeit. Soziale Platzangst nenne ich das.“ Das ist für jemand, der – zudem zum ersten Mal – in einem ihm fremden Land ist, keine besonders gute Ausgangslage. Überhaupt scheint Pungs an wirkliche Erkenntnisse nicht zu glauben, wenn sie bereits zu Beginn ihrer Aufzeichnungen Zweifel äußert, sodass man sich fragt, weshalb dann das Ganze in ein 250-seitiges Buch mündet:

Was sind schon vier Wochen, um ein Land zu verstehen? Selbst nach zwölf Monaten könnte ich mir nicht anmaßen, irgendetwas durchschaut zu haben. Ich bin keine Iranerin, und ich lebe nicht im Iran. Ich schreibe nur nieder, was ich erfahre, was ich sehe und was ich fühle. Mehr kann ich nicht wissen.

Was Pungs aus dem Alltag der Menschen zu erzählen hat, kennt der an Iran-Reiseliteratur interessierte Leser bereits aus they would rock (2014) von Helena Henneken und aus Orths Buch: die strikte Trennung des Lebens in Außen und Innen, den Zusammenprall zwischen westlichem und dem eigenen, traditionell geprägten Lebensmodell, die Offenheit gegenüber den Besuchern, vor allem wenn sie aus dem Westen und speziell aus Deutschland stammen, den verbotenen Konsum von Alkohol und westlicher Musik, das Eingehen von Beziehungen ohne Heiratsschein sowie den Kampf primär junger Menschen um Selbstbestimmung und Freiheit.

Das dezidiert Neue an Das verlorene Kopftuch ist der extreme Widerspruch zwischen dem, was die Autorin beabsichtigt, laut Klappentext zu erkunden, nämlich „wie das Land jenseits westlicher Klischees tatsächlich tickt“, und ihrer Art der Darstellung der Menschen und der Verhältnisse im Land. So kritisiert Pungs zwar die Darstellung der Iraner in Betty Mahmoods Buch Nicht ohne meine Tochter (1989) als „herabwürdigend“, „verletzend“ und „falsch“. Sie tritt aber selbst auch herablassend auf und tut beispielsweise Kulturtechniken wie das Tarouf, das den Umgang mit anderen mithilfe bestimmter Rituale regelt, als eine der „liebenswerten Schrulligkeiten der Perser“ ab: „Diese kleinen Eigenarten, die schmunzeln lassen und Frohsinn schenken. Weil sie bizarr sind – und manchmal nerven.“

Pungs bleibt stets an der Oberfläche. Sie interessiert sich nicht dafür, wie etwa die Kulturtechniken entstanden sind. Sie lässt sich auf das Fremde im Grunde nicht ein und bleibt distanziert. „Die Insel öffnet sich mir nicht, und ich bleibe verschlossen“, schreibt sie über ihre Zeit auf Qeshm im Persischen Golf. Später, in einer Passage über Ahwaz, charakterisiert sie sich selbst als „allzeit rastlos, allzeit abgelenkt“ und zeigt Bewunderung für ältere iranischen Männer, die „ganz da“ und „ganz im Jetzt“ seien, um plötzlich das Sich-Einlassen kategorisch abzulehnen:

Stopp, Blödsinn! Was rede ich? Ich will doch gar nicht warten. Und sitzen. Und ich will erst  recht keine Gebetskette durch meine Finger gleiten lassen. Ich will weiter, will stürmen und drängen, will raus. Sanfte Gesichter, glückliche Greise – was für ein bigotter Scheiß! Hier spricht meine westliche Blasiertheit, meine Scheinheiligkeit. Ich möchte zwanghaft etwas gut finden, was irgendwie orientalisch und fremd daherkommt. Möchte zwanghaft Sympathie für andere Kulturen empfinden, die eben nicht westlich sind.

Pungsʼ Zurückhaltung ist zu einem gewissen Grade durchaus nachvollziehbar, wenn auch die aggressive Reaktion auf ihr erstes Urteil, in dem sie ihr Leben „auf Tempomat“ in Frage stellt, durchblicken lässt, dass sie sich mit den Unzulänglichkeiten ihres eigenen, des westlichen Lebensmodells nicht auseinandersetzen möchte und beständig auf der Flucht zu sein scheint.

Die starke Reserviertheit der Reisenden macht aber auch deutlich, dass es sich bei Pungsʼ Aufenthalt im Iran um keine Spaßreise handelt, wie sie das wahrscheinlich erwartet hatte. Sie sieht sich als westliche Ausländerin, die unverheiratet und ohne Begleitung unterwegs sowie der persischen Amtssprache außer einigen auswendig gelernten Sätzen und Redewendungen nicht wirklich mächtig, auch vor diverse Herausforderungen gestellt ist. Die vielen Eindrücke und Menschen in kurzer Zeit, die fremde Umgebung und die ihr unbekannten Codes und Regeln strengen sie sichtlich an. Zudem fällt sie durch Aussehen, Gestik, Mimik und Kleidung als Ausländerin auf. Pungs schildert, wie einige Männer versuchen, ihr Allein- und Fremdsein auszunutzen und sich ihr gewaltsam zu nähern. Sie kann sie aber stets abwehren. Als ein Taxifahrer in Kermanschah sie nicht zu einer Moschee fahren, sondern mit ihr in ein Hotel will, ruft sie Kourosh an. Sie hat den jungen Mann in Schiras kennengelernt und sich in ihn verliebt. Erst nachdem Kourosh mit dem Taxifahrer gesprochen hat, lässt dieser von ihr ab.

In Figuren wie dem offenen und hilfsbereiten Kourosh zeichnet die Autorin ein positives Bild von iranischen Männern. Auf der letzten Station ihrer Reise, in Teheran, trifft sie ihn noch einmal. Nach ihrer Rückkehr besucht er sie in Deutschland, sie ihn wieder im Iran. Doch zwischen die kitschig anmutende Liebesgeschichte baut Pungs immer wieder Passagen ein, die inhaltlich und sprachlich mindestens als problematisch zu bezeichnen sind. Genauso wie Stephan Orth benutzt auch Pungs die Begriffe „Iraner“ und „Perser“ als Synonyme, was der Wirklichkeit der ethnischen Vielfalt im Land widerspricht. Auch schreibt sie, dass der letzte Schah „wenige Monate“ nach der Flucht aus dem Iran im Januar 1979 an Krebs gestorben sei. Tatsächlich erliegt er im Juli 1980 den Folgen seiner Krankheit. In einer Zeittafel im Anhang des Buches wird das Sterbedatum wiederum korrekt angegeben.

Erstaunen verursacht Pungsʼ Aussage, dass die nach wie vor zu hörende Behauptung von Persern, Arier zu sein, mit nationalsozialistischem Gedankengut „rein gar nichts zu tun“ habe.  Es ist korrekt, dass „Iran“ übersetzt „Land der Arier“ heißt. Es war aber Reza Schah Pahlawi, der ab 1933 eng mit NS-Deutschland kooperierte und erlaubte, dass Nazi-Propaganda in Form kostenloser Zeitschriften und Filme in Massen im Iran in Umlauf gebracht wurde. Die rassistische Aufwertung des Arier-Begriffs auch im Iran war im Interesse der Pahlewis, die den Vielvölkerstaat, in dem neben Persern unter anderem noch aserbaidschanische Türken, Kurden, Araber und Belutschen leben, Schritt für Schritt in einen sprachlich und kulturell rein persisch dominierten Führerstaat umwandeln wollten. Dass Pungs diese historischen Fakten und ihre negativen Auswirkungen nicht mit einbezieht, wenn sie über die Arier-Thematik schreibt, wird dem Übel des persischen Rassismus nicht gerecht, der eine Gleichbehandlung der anderen Ethnien und die Akzeptanz ihrer Sprachen und Kulturen bis heute behindert.

Ebenso verblüfft liest man eine Passage, die in Ghom spielt, wo Pungs einen schiitischen Geistlichen, der sie durch die Pilgerstätte führt, nach „Daesh“, dem „Islamischen Staat“, befragt. Nach seiner Aussage, dass der IS nichts mit dem Islam zu tun habe, folgt bei Pungs „Ernüchterung“: „Der Mann ist ein Intellektueller, und er hätte mich überraschen können. Er hätte sagen können, dass der ,Islamische Staatʻ sehr wohl islamisch ist“. Dass es einen Unterschied zwischen „islamisch“ und „dschihadistisch“ gibt, unterschlägt Pungs, die in ihrem Buch auffälligerweise Religion – auch die christliche – stets mit Ideologie gleichsetzt. Krass ist auch ihre zweite Reaktion auf die Aussage des Geistlichen, dass der IS nichts mit dem Islam zu tun habe: „Der Mullah kann das jedoch nicht zugeben. Er kann seine Schia nicht auf die gleiche Stufe stellen wie den sunnitischen Daesh. Er kann den Islam auch nicht differenziert betrachten. In seinen Augen missbrauchen die Dschihadisten das Heilige Buch.“

Die Schwierigkeit in Pungsʼ Buch entsteht dadurch, dass sie bestimmte Entwicklungen in Gesellschaften und Ländern per se der Religion ankreidet und etwa nicht deren Auslegung und Instrumentalisierung für bestimmte Zwecke durch Personengruppen und Institutionen. Auch arbeitet sie sich immer und immer wieder am Kopftuch – das „Patriarchat am Leib“ – ab, ohne zu einer neuen Erkenntnis zu gelangen. Eine konstruktive Auseinandersetzung mit diesem Kleidungsstück und auch der Staatsform des Landes – Bezeichnungen wie „Gottesstaat“, „Mullahstaat“, „Mullahkratie“ und „Theokratie“ kommen wiederholt vor – ist wichtig und könnte gewinnbringend sein. Doch Pungs kommt über Empörung nicht hinaus und gibt Plattheiten von sich, wie ihr Resümee belegt: „Wo ist der Geist der Aufklärung? Wo ist der Humanismus? Offenheit und Reformation sind dringend erforderlich. Doch wer soll reformieren? Mit Ehrlichkeit könnte man zumindest beginnen. Jedoch nicht hier, nicht in Qom.“

Man beachte: Pungs äußert eine solch kategorische Behauptung, nachdem sie nur mit einem einzigen Geistlichen gesprochen hat. In ihrem Buch skandalisiert und übertreibt sie, äußert sich „abgrundtief pauschalisierend, dass Alarmglocken läuten müssten“, wie sie selbst einmal schreibt, macht unnötige Fehler, etwa wenn sie „Azan“, den muslimischen Gebetsruf des Muezzins als „Singen“ bezeichnet. Hinzu kommt der flapsige, teilweise unpassende und auch beleidigende Ton ihrer Erzählung. Ein Beispiel dafür findet sich in einem Abschnitt, in dem die Reisende zufällig eine Kirche entdeckt, als sie sich in Hamadan aufhält:

Wann und warum sie ausgerechnet hier erbaut wurde, bleibt unbeantwortet. Der Innenraum ist gottverlassen. Über dem Altar hängt ein Gemälde von Jesus. Er trägt ein Kreuz und sieht nicht glücklich aus. An den Wänden Bilder von Maria und anderen Stars aus der Bibel. Außerdem eine Kopie von Leonardo da Vincis Abendmahl. Bedauerlicherweise wurde für diesen Job der schlechteste Maler des gesamten Mittleren Ostens angeheuert. Denn das hier ausgestellte Werk sieht aus, als hätte ein verhaltensauffälliges Kind zu viel Ritalin geschluckt und wäre daraufhin in den Farbtopf gefallen. Im Zeugnis würde stehen: Es hat sich bemüht.

Nach der Lektüre wirkt der Untertitel Wie der Iran mein Herz berührte wie Hohn. Das verlorene Kopftuch ist ein unausgegorenes Buch, das zwischen flapsiger Reiseschilderung mit typischen Touristenfotos im Mittelteil des Buches, wenig reflektierter Kritik an Religion und Staat sowie kitschiger Liebesgeschichte mit Kleine-Mädchen-Attitüde pendelt. Es wäre die Aufgabe des Lektorats gewesen, die Redundanzen, inhaltlichen Ungenauigkeiten und Fehler sowie die sprachlichen Entgleisungen, die der Text leider aufweist, zu beheben und dem Reisebuch eine klarere Struktur zu geben. So trifft man letztlich auf eine Erzählerin, die zwar lebendig, humorvoll und szenisch schildern und den Leser mitten in das Geschehen hineinziehen kann. Sie scheint aber vom Sujet Iran mit all seinen Facetten überfordert. „Der Iran ist kein Ponyhof“, schreibt Nadine Pungs einmal in der für sie typischen Art. Recht hat sie. Die Situation im Land und für seine Bewohner ist einfach zu ernst, als dass sie sich als Thema für ein „lustiges Taschenbuch“ eignen würde.

Titelbild

Nadine Pungs: Das verlorene Kopftuch. Wie der Iran mein Herz berührte.
Malik Verlag, München 2018.
251 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783890294940

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