Das Fell, das fehlt

In den glockenhellen Gedichten des melancholischen Bandes „Es fielen die schönen Bilder“ von Utz Rachowski schlägt einem Hund die letzte Stunde

Von Andreas UrbanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Urban

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Autor und Lyriker Utz Rachowski, 1954 im sächsischen Plauen geboren und zu DDR-Zeiten von der Stasi nicht eben verschont geblieben, hat eine Lebensschau in Form eines Gedichtbandes vorgelegt. Der biografische Blick ist zunächst unverstellt, der Ton der Gedichte glockenhell und klar. Tatsächlich handelt es sich um zutiefst melancholische Texte. Daran wirken vor allem die sinnfälligen Bewegungsrichtungen mit, von denen Rachowskis Gedichte gezeichnet werden.

Bereits die Einteilung des Lyrikbandes in seine fünf Kapitel lotet das ganze Spektrum zwischen Tiefe und Höhe aus. Mit der ersten Kapitelüberschrift Wurzeln (Rachowskis Vor- und Familiengeschichte) und der letzten Im Himmel (in welchem der Autor seinen verstorbenen Hund wähnt) gibt Rachowski seinem Buch die räumliche Bewegungsrichtung von unten nach oben vor. Das ist aber auch zeitlich zu verstehen, sind doch Vergangenheit, Gegenwart und am Ende eine Art mystifizierte Schau ins Jenseits die aufeinanderfolgenden Themenkomplexe. In den Gedichten selbst bildet deswegen die umgekehrte, die negative Bewegungsführung von oben nach unten die Dominante: Wie im Titel des Bandes Es fielen die schönen Bilder fixiert, geht es in der existenziellen Lebensschau dieses Buches metaphorisch ums Fallen, konkret um die Erfahrung von Verlusten, um das Aufhören, Enden und Vorbeisein.

Ganz klar: Das Buch hat seine Stärken am Anfang, erreicht seine Höhe dort, wo es inhaltlich auf der tiefen Ebene der Wurzeln angesiedelt ist. Rachowskis Poetik des Unpolierten kommt hier voll zur Geltung. Die Sprache ist ungekünstelt, bestimmendes Formprinzip aller Texte ist die auffällige Kürze der Strophen: Ein bis vier Wörter pro Vers sind keine Seltenheit. Schlank steigen die Texte in den Ring. Und teilen doch gewaltig aus. Dank der reduzierten Technik entsteht Betroffenheit und Bedeutsamkeit. Voilà – verdichtete Sprache wie gewünscht. Oder um es hymnischer zu sagen: In vielen seiner Lebensgedichte wird der Atem spürbar, den es einem in Anbetracht existenzieller Situationen verschlagen kann. Melancholie mit dem Muster der Mühelosigkeit.

In einem der eindrücklichsten Gedichte (Die letzten Fragen) stößt das lyrische Ich bei seinem letzten Besuch der Mutter im Krankenhaus auf eine überraschte Reaktion: „wie kommst / du denn hierher“, fragt da die Mutter, bedeutungsvoll genau in der Mitte des Textes platziert. Der Zeilenbruch mit seinem Leserhythmus entgegen der alltagssprachlichen Betonung (bei der die Sprechpause eher zwischen „denn“ und „hierher“ liegen würde) macht die bedrückende Situation sprachlich erfahrbar. Und die Ortsveränderung, nach der hier gefragt wird, akzentuiert feinsinnig die diversen Bewegungsformen und Ortsveränderungen, die zum Leitmotiv des ganzen Buches avancieren.

Auch die Verlusterfahrung, das Fallen, wird früh, und zwar gleich im ersten Text des ersten Kapitels, zum Thema. So geht es bei der familiären Vorgeschichte von Verankerung & Standorte um den materiellen Niedergang: „Sie waren / alter Landadel“, heißt es von den Vorfahren. Später „siedelten sie bei Łódz // dem / Manchester / des Ostens // Offenbar / verarmt“. Und ein weiteres Stilprinzip des Lyrikbandes wird ebenfalls früh eingeführt: die Assoziation. Denn Rachowski verbindet die Geschichte seiner Ahnen mit seiner eigenen Biografie. Auch das lyrische Ich sei „offenbar verarmt“, sei nur ein „magerer Dichter“.

Das zweite Kapitel Wege konzentriert sich auf die Beschreibung konkreter Orte und das Unterwegssein. Bewegung kommt nicht nur in der Wahl der Kapitelüberschrift zum Ausdruck. Gleich im ersten Text vollzieht sich eine fallende Bewegungsführung: Eine Kamera geht zu Bruch. Denn „im kleinen Bamberg“, weiß das titelgebende Gedicht zu berichten, „fiel auf das schöne Pflaster vorm Rathaus // mein Fotoapparat“. So „verlor ich alle Bilder“, beklagt das lyrische Ich. Und der Apparat samt gespeicherter Bilder fiel, führt es weiter aus, „sicherlich […] // im richtigen Moment // müde der schönen / der traurigen Bilder“. In diesem Gedicht taucht sogar in der betont einfachen Lyrik Utz Rachowskis, hauchzart angedeutet nur, das Pathos der Antike mit ihren denkerischen Abstraktionen auf: das Schöne, das Sterben, ja die Bewegung im Stillstand.

Wenige Gedichte später wird dieser feine Faden in der ikonografischen Beschreibung des Buchstaben M weitergesponnen: „M // der einer römischen Villa / mit ionischen Säulen gleicht // wo das Urteil über Seneca / schon gesprochen ist“. Auch dies eine sehr schöne Stelle des Buches. Mit M beginnt – und das ist die Pointe – der Name der Ehefrau des lyrischen Ichs. Von dieser wird es allerdings samt Kindern verlassen. Das Gedicht heißt Zu spät

Wie angedeutet spielt die Zeit, und damit auch die Todesthematik, eine wichtige Rolle in den Texten dieses Bandes. Vor allem im zweiten Kapitel beschreibt Rachowski relevante Stationen seines Lebens. „Leuchttürme / funkten in meine Frühe“, heißt es zum Beispiel, womit das Gedicht Welcher Weg nicht nur die frühmorgendliche Stunde auf dem Weg zur Arbeit meint, sondern auch die Jugendzeit mitsamt ihrer Weichenstellung für die spätere Lebensphase als Dichter. Geht das Ich „nach Warschau“, dann um sich „zu nähern den Wurzeln“, die in diesem Fall bis ins 17. Jahrhundert zurückführen (Ewa schrieb). In Tucson, Arizona wird eine universitäre Dichterlesung samt Literaturworkshop mit der Welt da draußen, wo „das Abenteuer glühte“, in Abgleich gebracht und mit der Todesthematik kurzgeschlossen. Dass jeder Mensch sein Ding mache und seine eigenen Lebensentwürfe habe, ist die Erkenntnis eines anderen Gedichtes (Auch ich). Dem kann man nur zuzustimmen. Nur wenn man jung sei, meint das Gedicht, habe diese Erkenntnis eine andere Bedeutung als im Alter, wenn sich die Perspektive auf der Zeitachse reichlich verschoben habe.

Assoziation vor dem Hintergrund der Zeitthematik erweist sich von Gedicht zu Gedicht mehr und mehr als Zusammenführung der beiden Bereiche von Leben und Tod. Die konkreten Beschreibungen von Räumen und biografischen Orten Rachowskis drängen zunehmend zu einer Erfahrung des Todesreiches, in die das lyrische Ich vermehrt zu schauen meint.

Utz Rachowski, der in der DDR Texte von Autoren wie Reiner Kunze oder Wolf Biermann verbreitete und deswegen in Cottbus im Zuchthaus saß, reiste zu Beginn der 1980er nach Polen, um dortige Schriftstellerkollegen in der Zeit der Militärdiktatur zu unterstützen. Autoren bilden einen wichtigen Bezugspunkt seiner Vita. Es kommt daher nicht von ungefähr, wenn es im dritten Kapitel Gefährten zu einem erheblichen Teil um Autoren geht. Nur: Dieser Wechsel der Todesthematik auf eine metaliterarische Ebene verläuft nicht ganz ohne Risiko.

Rachowskis etwas quälerische Gedanken kreisen ab jetzt beständig um die Frage nach dem eigenen literarischen Nachleben. Das verengt den Themenkreis. Zuhause, das scheint in diesem Kapitel nicht unbedingt ein konkreter Ort mit Menschen aus Fleisch und Blut zu sein. Das kann nun vielmehr auch die in sich abgeschlossene Welt eines Gymnasiums meinen. In Peter Kurzeck beschäftigt sich das Ich mit Aussagen der Lehrerschaft über andere Schriftsteller und schließlich mit dem Bild, das die Nachwelt möglicherweise von ihm selbst haben werde. Ähnlich im kurzen Vielleicht, das auf den Punkt bringen möchte, dass nach einem Selbstmord eines Schriftstellers unter Umständen mehr als das Wort bleiben werde.

In einem anderen Text lässt sich ein Friseur als Symbol für den Schnitter deuten – es ist ein Text über einen Autor (und zwar Józef Czechowicz). Das Gedicht Christoph Meckel entstand am Tag und anlässlich der Beerdigung des Verfassers des Romans Licht, „der beste über die Liebe // die es vielleicht nicht gibt“. Mit leichter Hand wird Gegenspieler Eros aus dem Reich des Thanatos hinauskomplimentiert. Filmregisseur Krzysztof Kiéslowski, die einsamen Dichter Wolfgang Hilbig und Giacomo Leopardi, schreibende Kollegen mit ihrer Lust am Alkohol, sind ebenso düstere Gestalten, die aufgrund der mit ihnen durchgespielten Todesthematik den hellen Ton der Gedichte Rachowskis verdunkeln.

Die Frage nach dem Tod verschiebt sich hier auf eine rein literarische Ebene. Ist das geglückt? Darf man Fragen nach dem Nachruhm nicht getrost der Nachwelt überlassen? Nach dem starken Auftakt des Buches hätte man sich unter dem Titel des dritten Kapitels Gefährten in ähnlicher Weise Beschreibungen authentischer Begegnungen gewünscht.

Stattdessen treibt das Kapitel eine Mystifizierung der Bilderwelt voran. Dafür wird die Assoziationstechnik jetzt auf eine Weise genutzt, wie man sie bei Bildbeschreibungen aus der Kunstgeschichte kennt. In diesem Fach, deren Student Rachowski war, werden bekanntlich mit Vorliebe zwei verschiedene Werke einander gegenübergestellt. Dasselbe macht Rachowski in den Gedichten dieses Kapitels durch die immer häufiger auftauchende Nennung mehrerer Künstlernamen in einem Text. 

In Rilke lesend wird Rainer Maria Rilke der vogtländische Schriftsteller Jürgen Fuchs an die Seite gestellt. Von beiden wird jeweils eine Handvoll Gedichte aufgezählt, die – wie man so gerne voll tragischem Ernst sagt – bleiben werden. In Wiener Garnituren fragt das Ich in Bezug auf Heinrich Heine und Franz Schubert ebenfalls explizit: „was // dachte ich / ist beider Hinterlassenschaft“. In Kälte werde den Verfasser selbst das „Vergessen […] sehr schnell / überkommen“.

Tatsächlich gewinnt Rachowski dieser Technik am Ende des dritten Kapitels einen neuen Aspekt ab. Die formale Bipolarität bezieht er nun auf das Seelische und die Einheit zweier getrennter Seiten wird nun als möglich angesehen. Ein und dieselbe Person könne „zwei Seelen haben“, lautet der tröstliche Abschluss des Kapitels (Reine Dummheit). Hierin liegt denn auch der Hebel, der die realistische Bildlogik der ersten Kapitel aus den Angeln heben möchte. Das nimmt leider keinen guten Ausgang, weil sich die existenzielle Grundmusik der ersten Gedichte in mystisches Rauschen verwandelt.

Denn in den Kapiteln vier und fünf, in denen es nun inhaltlich steil nach oben in den Himmel geht, gibt es auf Seiten der Lektüre einen bedenklichen Abfall. In den Liebesgedichten an den Hund Suki (Kapitel vier) lässt sich beim besten Willen nicht mehr die elementare Kraft der Lebensgedichte aus den ersten Kapiteln erkennen. Vor allem die Wahl des Hundes als Sujet dieser Liebestexte dürfte LeserInnen so einiges abverlangen.

Da bleibt man auch von einem Anflug von Peinlichkeit nicht verschont. Die Rhetorik beziehungsweise die Liebesdiskurse von Herz-Schmerz-Gedichten („was du / heute Nacht wohl siehst?“) taucht anlässlich des Aufenthalts an getrennten Orten ebenso auf wie die direkte Anrede an einen Hund (Irrungen am ersten Frühlingstag). Immerhin: Das schreibende Ich relativiert seine eigene Situation: „eine komische / Figur von Liebhaber“ nennt es sich selbst (Zweites Wiedersehen). Mehr noch: „jemand sagte // mit diesem Hund / da musst du // mal einen Psychologen / fragen // wofür / der bei dir steht“ (Das Versteck). Verse, bei denen man auf Leserseite innerlich aufatmet und sich verstanden fühlt.

An der Fokussierung auf den Hund hält Rachowski in den letzten Gedichten allerdings konsequent fest – mit Suki wird sogar das Stilprinzip der Verbindung enggeführt und festgezurrt. In zwei Hinsichten. Erstens: Kapitel vier mit den Liebesgedichten an Suki beschreibt konkrete Szenen der gemeinsam verbrachten Zeit, Kapitel fünf bringt mit den Todesgedichten Texte aus der Zeit, da der Hund bereits verstorben ist. Die beiden Kapitel bringen also die Sphären von Leben und Tod unmittelbar zusammen. Zweitens: In den Schlussgedichten des fünften Kapitels wird der (wohlgemerkt verstorbene!) Hund konkret zur Figur der Einung zweier Welten, im Himmel wird ihm eine neue Rolle als verbindendes Element zugedacht und die vorherige, variantenreiche Assoziationsmechanik allein auf den Hund projiziert: „mag sein / du verbindest […] Sonne und Mond“, die „angeblich nicht // zueinander / finden dürfen“ (Angeblich). Das erstreckt sich auch auf die Liebe des Ich zum Hund sowie den Wunsch nach Ganzheit und Einheit: Ich und Hund erblicken einander „aus zwei Welten / die vielleicht // wenn’s mit der Welt / gut geht // doch nichts trennt“ (Der zwanzigste März). Tod und Leben wären nun eins.

Gleichzeitig folgt – und das sollte nicht untergehen, ist es doch das titelgebende Thema des Buches – aus dem Bilderverlust der vorangehenden Gedichte am Ende der Versuch eines neuen, eines imaginativen Bildaufbaus, der auf der Erfahrung des Jenseitigen beruht. Die Gedichte des Todeskapitels fünf konzentrieren sich zu diesem Zweck auf die weltabgewandte, himmlische Sphäre. Der Hund wohne im Himmel, „[j]etzt / ist der Mond // dein Freund“ (Sehnsucht). Und in diesem Bildarsenal verfängt sich das ganze Kapitel. Das führt zu einigen Wiederholungen. Der Mond wird zum „Mondboot“ oder zur „Mondschaukel“ für den toten Hund. Die Wolken verwandeln sich fantasiereich zu „Schneewolkenwiesen“, zum „Wolkenbett“ oder zur „Schneewolke“. Offen gesagt ergibt das in Summe eher keine bedeutsamen Leitmotive, sondern dezente Langeweile.

Der Himmel, das ist ein Kino mit Hund, die Harmonie von Leben und Tod ist eine gedachte. So sinniert das Ich darüber, was der Hund im Todesreich gerade tue, ob er Champagner trinke oder „jauchzend / durch den Schnee“ renne (Suki versteckt sich). Schneit es, dann werden die Flocken selbstverständlich von Suki gestreut. Sogar ein Sternbild Suki wird ausgerufen, als sollte dem intendierten Bildaufbau ein Titel gegeben werden.

Das alles ist schade. Bereits die befremdlichen Fragen zum literarischen Nachruhm in der Mitte des Bandes bringen Misstöne in das Buch. In den mystifizierenden Himmelsgedichten am Ende lösen sich die existenzielle Betroffenheit und der wunderbar lyrische Feinsinn der erdigen Texte zu Beginn, nun ja: in Luft auf.

Titelbild

Utz Rachowski: Es fielen die schönen Bilder. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2022.
168 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305123

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