Entführt werden und entführen in Delhi

Der indische Autor Rahul Raina schreibt seinen Roman als tempo- und geistreiche Anleitung „How To Kidnap The Rich“

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das erste Kidnapping war nicht meine Schuld.“ Dieser Romananfang ist preiswürdig, und der zweite Satz erhöht die Spannung: „Alle weiteren – das war definitiv ich.“ In Indien spielt der Debütroman von Rahul Raina, einem Land, zu dem einem vieles einfällt: Hinduismus, heilige Kühe, Ganges, Witwenverbrennung, Neu-Delhi und Mumbai (früher Bombay), Mahatma und Indira Gandhi,  „Apotheke der Welt“ – und neuestens bevölkerungsreichstes Land der Erde. Filminteressierte denken an „Bollywood“, ein aus „Bombay“ und „Hollywood“ montiertes und in Indien unbeliebtes Wort. Aus dieser größten Filmproduktion der Welt stammt der mit acht Oskars ausgezeichnete Film „Slumdog Millionär“, in dem es wie in diesem Buch um einen Aufsteiger von ganz unten und eine Fernseh-Quizshow geht.

Der Aufsteiger und Ich-Erzähler im Roman heißt Ramesh Kumar und stammt aus dem ärmlichen Ost-Delhi („ein grauer Fleck auf den Google Maps“), wo der Junge, dessen Mutter bei seiner Geburt starb, dem brutalen Vater am Teestand zur Hand gehen musste. Ramesh, dem die an einer Klosterschule unterrichtende französische Nonne Claire zu Bildung verholfen hat, ist „Bildungsberater“ für den hässlichen und unbeholfenen 18-jährigen Rudraksh Saxena, genannt Rudi. Berater? Nein, er wird diesen dumpfen Burschen bei fünf Prüfungen betrügerisch „vertreten“, deren glänzendes Bestehen alle Türen auch im Ausland öffnet. Das von Rudis reichen und arroganten Eltern zu zahlende Honorar von 1.300.000 Rupien plus geeigneter Kleidung findet Ramesh angemessen für vier Wochen fieberhaftes Lernen. Skrupel hat er keine, sind doch solche Betrügereien in China und anderswo gang und gäbe, und Indien ist halt ein Land der Deals. Darum wird er, der als Kind zwar weder am Verhungern noch obdachlos, doch ohne jede Aufstiegschance war, keine Geschichte über Armut erzählen, sondern eine über Reichtum. Denn er will nach oben, unbedingt! Von Anfang an überzeugen die in schnoddrigem Ton vorgetragenen scharfsinnigen und illusionslosen Urteile Rameshs über Indien, den Westen, seine Mitmenschen und auch sich selbst.  Das klingt durchweg authentisch, was in hohem Maße dem Übersetzer Alexander Wagner zu verdanken ist. So geistreich und witzig Ramesh auch formuliert, bleibt doch unüberhörbar, wie wütend ihn die schreienden Ungerechtigkeiten machen. So leiden Straßenkinder in Delhi unter verminderter Körpergröße und Lebenserwartung, weil sie die Abgase der Protzautos einatmen müssen.

Zunächst ist nicht von einem Millionär die Rede, sondern von einem mit dem Gemüsemesser abgeschnittenen kleinen Finger. Das ist ein Vorgriff, wie überhaupt das lineare Erzählen gelegentlich durch Zeitsprünge unterbrochen wird.

Dank seines „Beraters“ wird Rudi sensationeller Zweitbester in der „All India“-Prüfung und von den Nationalisten als Sieger gefeiert, weil der erste Platz an einen Moslem ging. Rudis Eltern erkaufen sich Rameshs Schweigen, indem sie ihn zum Manager ihres Sohns mit zehn Prozent Gewinnanteil machen. Das lohnt sich, denn Rudi wird zum Star einer Quizshow im Fernsehen („Beat The Brain“) mit hoher Einschaltquote und profitablen Werbepausen. Rameshs Zugeständnis: Die Saxenas dürfen ihn „Assistent“ nennen. Nur sie! Der intelligenten und entschlossenen Produktionsassistentin Priya mit dem nach Rosen duftenden Haar, in die Ramesh sich verliebt, sagt er, sie solle jeden erschießen, der diese Bezeichnung verwendet. Priyas fieser Chef Shashank Oberoi, Produzent der Show, lässt einen jungen Kandidaten vor einem Millionenpublikum demütigen, um noch mehr Aufsehen zu erregen.

Der zweite Teil des Romans beginnt damit, dass Ramesh und Rudi gekidnappt werden – vom reichen Vater des durch Oberoi gedemütigten jungen Burschen. Als der Fernsehsender kein Lösegeld schickt, verliert Ramesh den kleinen Finger. Dann aber werden Ramesh und Rudi zu Entführern. Es wäre unverzeihlich, den spannenden Verlauf hier zu spoilern. Wohl aber sei demonstriert, wie Ramesh denkt: Als er Gewissensbisse bei Rudi feststellt, mutmaßt er, der werde „demnächst freiwillige medizinische Hilfsdienste im Kongo“ anbieten.

Rudi bleibt für Ramesh nicht die hirnlose Niete, die er anfangs in ihm sah, und beweist hin und wieder Mut und Lebenslust. Am Schluss aber ist er doch noch ein Kind, und ein Rechtfertigungsversuch im Fernsehen scheitert an seiner Nachlässigkeit. Rudis Denunziation als angeblicher pakistanischer Agent, die Auftritte einer (für Indien als kaum glaubhaft dargestellten) unbestechlichen Beamtin und Rameshs Finale als Vermieter in Texas – alles wird so spannend und temporeich erzählt, dass die Nachricht über die bevorstehende Verfilmung durch den Kabelfernsehgiganten HBO nicht überrascht.

Der Verlag hat sich entschieden, den Romantitel nicht ins Deutsche zu übersetzen. Möglicherweise spielte dabei eine Rolle, dass der auf einer Seite im Anhang zu findende Titel „Bekenntnisse eines Betrügers“ gar zu fade klang.

Titelbild

Rahul Raina: How to Kidnap the Rich.
Aus dem Englischen von Alexander Wagner.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2023.
402 Seiten , 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783036961569

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