Der Fänger im DDR-Roggen

Eine Rezension von 1973 zu Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ und über sein wichtigstes Vorbild J. D. Salinger

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Über diese „Neuen Leiden des jungen W.“ ist schon allerlei geschrieben worden. Und nicht nur in der DDR, wo das Werkchen verständlicherweise Furore macht, stehen sich sehr unterschiedliche Urteile schroff gegenüber. So meinte Fritz J. Raddatz in der „Süddeutschen Zeitung“ – schon vor mehreren Monaten übrigens, als die Erzählung in „Sinn und Form“ gedruckt war –, Plenzdorfs Prosa scheine „die Geburt einer eminenten neuen Begabung zu annoncieren, vielleicht sogar den lang, erwarteten Anfang einer neuen Literatur“. Dies, dachte ich mir still, ist zumindest stark übertrieben.

Als jedoch Dieter E. Zimmer das Plenzdorf-Opus unlängst in der „Zeit“ mit einem beiläufigen und gleichwohl kräftigen Fußtritt in die unmittelbare Nachbarschaft der „Love Story“ beförderte, da hatte ich Lust, abermals zu widersprechen und dem so schnöde in Segal‘sche Niederungen verbannten DDR-Produkt einen Platz auf etwas höherer Ebene zuzuweisen.

Dabei haben meine beiden verehrten Kollegen gar nicht unrecht, und wer immer diese Erzählung rühmt oder missbilligt, kann mit ernsten und triftigen Argumenten aufwarten. Nur dass die extremen Urteile, zu denen dieses Buch in der Tat verleitet, stets bloß einen Aspekt dieses Gegenstands akzentuieren. Hier haben wir es, glaube ich, mit einem Buch zu tun, dem man auf die Gefahr hin, als lauwarmer Kompromissler verschrien zu werden, lediglich mit einem vorsichtigen Einerseits, Andererseits und einem abwägenden Zwar, Aber beikommen kann. Denn so unverkennbar der süßliche Geruch einer proletarischen „Love Story“, so präsentiert sich dieser Autor zugleich als eine „eminente neue Begabung“. Fragt sich nur: Begabung wozu und wofür?

Ulrich Plenzdorf, geboren 1934, arbeitet seit Jahren für die DEFA als Szenarist. Er ist also ein leidgeprüfter Mensch. Nein, das soll keineswegs eine Anti-DDR-Äußerung sein. Denn das Schreiben von Filmdrehbüchern mag zwar seinen Mann ernähren, ist aber überall, im Osten wie im Westen, ein besonders mühseliges Geschäft: Wer an ihm teilnimmt, muss sich nach der Decke strecken und ist, ungleich mehr als ein Buchautor, von Auftraggebern abhängig, die mit Hilfe von Filmen entweder ihr Scherflein zum Klassenkampf beisteuern oder ein Vermögen verdienen wollen und bisweilen beide Fliegen – die edle Idee und den schnöden Mammon – mit einer Klappe schlagen möchten.

Aber wenn auch die Zusammenarbeit mit dem Film in der Regel keinen übermäßig günstigen Einfluss auf den Charakter der Schriftsteller ausübt und meist ihre Gefügigkeit und Resignation rasch steigert, so kann sie doch dazu beitragen, dass sie lernen, listig vorzugehen und das Ihre unter den auferlegten Bedingungen an den Mann zu bringen.

Dem Autor Plenzdorf lässt sich die harte und langjährige Schule in der Filmbranche sehr wohl anmerken: Er ist ein wendiger und gewitzter Schreiber, gewohnt, seine Arbeitgeber zufriedenzustellen, das Publikum zu unterhalten und auf jeden Fall die Kirche im Dorf zu lassen. Er hat ein gutes Ohr für die Sprache des Alltags und eine feine Nase für das Aktuelle, er hat vor allem ein erstaunliches Gespür für das Mögliche, für das jeweils Realisierbare. Er weiß auch sehr genau, wie und was die Konkurrenz (die friedlich-sozialistische und erst recht die wölfisch-kapitalistische) produziert. Kurz: ein richtiger Fachmann.

Und was gute und richtige Fachleute im Bereich der Literatur zu liefern pflegen, zeichnet sich oft durch eine auf den ersten Blick paradoxe Eigentümlichkeit aus: Es ist epigonal und dennoch nicht unselbständig, es wirkt höchst routiniert und scheint trotzdem durchaus originell.

Man sollte aber nicht vermuten, Plenzdorfs Erzählung habe etwas Epigonales, weil er sie als moderne Werther-Paraphrase ausgibt. Diese Geschichte des siebzehnjährigen Lehrlings und Arbeiters Edgar Wibeau hat mit dem „Werther“, bei Lichte besehen, nicht viel zu tun.

Gewiss, auch Plenzdorfs Held empfindet die Verhältnisse, in denen er lebt, als eng und unerträglich und zieht sich in Einsamkeit und Innerlichkeit zurück, auch er sucht Trost bei der Kunst: In dem verlassenen Ostberliner Schrebergarten, in dem er haust, malt Edgar Wibeau (abstrakte Bilder), dort hört er Tonbänder (vornehmlich Beat-Musik), dort meditiert er auf seine Weise über Literatur (doch nicht über einen Roman etwa von Scholochow, sondern von Salinger).

Und dort findet er (auf dem Klo übrigens) ein Reclam-Heft, dessen Titelseite er zwar für dringende und eher prosaische Bedürfnisse verwendet, dessen Text ihn jedoch – es handelt sich eben um den „Werther“ – zunächst nur belustigt, aber später irritiert und geradezu fasziniert. Mehr noch: Die bald einsetzende Liebesgeschichte, die er in jenem Schrebergarten erlebt, ist in ihren Umrissen dem Goethe’schen Roman nachgebildet.

Auch Edgars Lotte (er nennt sie smarterweise Charlie) erscheint, wie es sich gehört, von Kindern umgeben (sie ist Kindergärtnerin), auch hier wird das Idyll vom heimkehrenden Verlobten gestört, der, dem Goethe’schen Albert nicht unähnlich, ein korrekter, doch trockener und ziemlich langweiliger Kerl ist. Die Erzählung endet mit dem Tod des leidenden jungen W., der freilich diesmal – und mit gutem Grund – keinen Selbstmord verübt.

An ernsten und munteren „Werther“-Analogien fehlt es also nicht, auch nicht an wörtlichen Zitaten. Denn in den Berichten, die Edgar seinem Kumpel schickt (aus Wilhelm ist Old Willi geworden, und er erhält statt der Briefe Tonbänder), führt er, zunächst bloß aus Jux, Goethe-Stellen an, vor allem solche, die seine eigene Situation verdeutlichen können.

Welch Einfall, aber ach, ein Einfall nur! Mit anderen Worten: Plenzdorfs Rückgriff auf den „Werther“ erweist sich als ein amüsanter Trick, als ein frappierender Gag. Nicht mehr und nicht weniger. Der klassische Stoff, als Folie und Rahmen verwendet, ist letztlich doch nur, was die Journalisten einen Aufhänger nennen. Die Parallelen, die vielen Verweise und Anspielungen haben häufig etwas (im fragwürdigen Sinne) Kabarettistisches, etwas Operettenhaftes. Sie sind und bleiben vordergründig und bisweilen billig und auch, kurz gesagt, einfach läppisch.

Wie wenig Plenzdorf seinem fundamentalen Einfall abgewinnen konnte, zeigen die beiden neben dem Titelhelden wichtigsten Figuren: Sowohl die zwanzigjährige Kindergärtnerin Charlie als auch ihr Verlobter Dieter, der gerade seinen Dienst als Offizier bei der Volksarmee abgeleistet hat, sind kaum mehr als skizzenhafte Rollenentwürfe, denen vielleicht hervorragende Schauspieler – handelte es sich um einen Film – zu etwas Leben verhelfen könnten.

Da aber Dieter und vor allem Charlie pure Schemen sind, bleibt auch die Liebesgeschichte blass und schemenhaft. Das Erotische hat, mit Verlaub, sogar der Großkitschier Erich Segal in seiner vielgeschmähten „Love“ Story“ denn doch etwas besser gemacht. Nur dass Edgars Romanze mit Charlie hier, möchte ich meinen, fast nebensächlich ist.

Nein, es ist eben nicht die Liebe, an der Edgar Wibeau leidet, wie es auch nicht Goethes Schatten ist, von dem dieses Büchlein lebt. Wenn es streckenweise epigonal anmutet, so der (oft aufdringlich durchscheinenden) zeitgenössischen Vorbilder wegen: Von Böll, auf den Plenzdorf in einer Diskussion selber hingewiesen hat, bis zu Uwe Johnson und Christa Wolf. Zumal die Komposition der „Neuen Leiden“ ist den Johnson’schen „Mutmaßungen“ stark verpflichtet und scheint mir auch vom „Nachdenken über Christa T.“ nicht unabhängig.

Das Ganze besteht aus (meist knappen) Gesprächen mit Personen aus Edgars Umgebung, die, da er nun gestorben ist, seinen Weg in die Einsamkeit zu erklären versuchen. Es sind die schwächsten Passagen des Buches: Die eher dürftigen und auch in stilistischer Hinsicht farblosen Dialoge tragen zur Geschichte, die hier erzählt wird, überraschend wenig bei. Diese Gespräche ergänzen den Bericht des toten Edgar, der – also gewissermaßen aus dem Jenseits – über sein Leben plaudert, die kommentierenden Äußerungen der befragten Personen seinerseits kommentiert und auch noch jene Briefe zitiert, die er in der Gartenlaube auf Tonband gesprochen hat.

In diesem Bericht, der weit über die Hälfte des Buches ausmacht, wird mehrfach und enthusiastisch Salingers „Fänger im Roggen“ (1951) erwähnt: Dieser Roman ist Edgars Lieblingslektüre und Plenzdorfs wichtigstes Vorbild.

Nicht darauf kommt es an, dass er von Salinger vieles übernommen hat – bis hin zu den in Edgars Ich-Erzählung refrainartig wiederkehrenden stereotypen Wendungen –, sondern dass er sich von der Fragestellung in diesem Meisterwerk der amerikanischen Nachkriegsliteratur, von seiner Atmosphäre und seinem ganzen Ambiente eindeutig und nachhaltig inspirieren ließ. Nicht „Die neuen Leiden des jungen W.“ sollte Plenzdorfs Buch betitelt sein, vielmehr: „Der Fänger im DDR-Roggen“.

Aber so unverkennbar seine direkte Abhängigkeit von Salinger, so geschickt und häufig überzeugend die Adaptation des Vorbilds, seine Paraphrasierung auf dem Hintergrund der Ostberliner Verhältnisse. Daher kann Plenzdorfs schriftstellerische Leistung als epigonal und originell zugleich gelten.

Edgars Diktion zeigt dies ebenfalls. Sein kesser und schnoddriger, gelegentlich derber und oft bewusst unbeholfener Slang soll die Sprache der jungen Arbeiter in der DDR, wie dortige Kritiker versichern, glänzend wiedergeben. Ich bin da etwas skeptisch, weil mich Edgars Ausdrucksweise und Tonfall doch sehr an Salinger erinnern oder, richtiger gesagt, an Bölls Übersetzung des „Fänger im Roggen“. Wir haben es wohl eher mit einer (durchaus gelungenen und für Plenzdorf sehr typischen) Synthese aus Nachahmung und Authentizität zu tun.

Ähnlich wie der amerikanische Roman erzählt auch dieses Buch von einer eigentlich sehr simplen und fast rührenden Rebellion. Und wie es dort nicht um den Kapitalismus ging, geht es hier nicht um den Sozialismus. Sowohl Salingers College-Student Holden Caulfield als auch Plenzdorfs Lehrling Edgar Wibeau halten die Gesellschaftsordnung in den Ländern, in denen sie geboren wurden und aufgewachsen sind, für etwas Selbstverständliches. Eine andere Welt kennen sie überhaupt nicht.

Wogegen sie naiv und trotzig protestieren, sind die Formen des Zusammenlebens, die sie für unerträglich vor allem deshalb halten, weil sie ihre Selbstverwirklichung permanent verhindern. Holden und Edgar lassen sich in eine Außenseiterposition treiben, die gesellschaftsfeindlich ist, für die aber beide Autoren die Schuld bei der Gesellschaft suchen.

Also eine apolitische Meuterei, eine pubertäre Auflehnung? Das schon, nur dass in einem Staat, wo die Politik in das private Leben eines jeden Individuums eindringt und es unentwegt regeln und überwachen möchte, jede Kritik an der Welt der Erwachsenen automatisch einen eminent politischen Charakter hat. Das eben unterscheidet Plenzdorfs Buch – von dem Qualitätsunterschied will ich hier überhaupt nicht reden, er ist gewaltig – von dem Roman Salingers.

Wie immer der DDR-Autor sich wenden und drehen mag, wie sehr er sich bemüht, die Flucht Edgars aus dem Betrieb, in dem er arbeitet, mit seiner jungenhaften Sehnsucht nach dem großen Abenteuer zu entschärfen und mit einem Hauch von Exotik zu verharmlosen – sein Leben in der Schreberkolonie soll bisweilen einer Robinsonade inmitten der Großstadt ähneln –, so gewiss ist jene Abkürzung, die kein einziges Mal in dem Buch verwendet wird, doch stets zwischen den Zeilen gegenwärtig – die Abkürzung SED.

Edgar flieht, weil er die staatliche Bevormundung und die ewige Gängelung junger Menschen in der DDR satt hat, weil er die als sozialistische Erziehung geltenden Demütigungsriten verabscheut. „Irgendwie entwürdigend“ nennt er die öffentliche Selbstkritik: „Ich finde, man muß dem Menschen seinen Stolz lassen.“Damit wird eine Institution, die im kommunistischen Ritual dieselbe Bedeutung hat wie im katholischen die Beichte, kurzerhand verurteilt.

Von Lehrern immer wieder mit der Frage nach seinen Vorbildern bedrängt, hätte er – aber er hat es nicht gewagt – am liebsten geantwortet: „Mein größtes Vorbild ist Wibeau. Ich möchte so werden, wie er mal wird. Mehr nicht.“ Ja, es genügte, dass ihm ein Buch empfohlen wurde, damit er es „blöd fand, selbst wenn es gut war“. Sogar seine Abneigung gegen die Volksarmee darf Edgar, wenn auch sehr vorsichtig, andeuten. Den Schlüsselsatz, der die Art der Rebellion Edgars unmissverständlich erkennen lässt, sagt er über eine Filmfigur: „Alles das macht er mit, aber einreihen ließ er sich deswegen noch lange nicht.“

Für seinen Rückzug aus dem Kollektiv macht Edgar eindeutig das Kollektiv verantwortlich: „Und daran seid ihr alle schuld, die ihr mich in das Joch geschwatzt und mir so viel von Aktivität vorgesungen habt.“ Mehr noch: Dieser jugendliche Einzelgänger, dieser Rowdy und Gammler, ist frech genug, seine passionierte Vorliebe für allerlei Westliches, zumal Amerikanisches, ostentativ zu bekennen. Hier findet sich der immerhin bemerkenswerte Satz: „Für Jeans konnte ich überhaupt auf alles verzichten…“ Damit aber auch alle Leser Plenzdorfs verstehen, dass das, sollte man denken, harmlose Kleidungsstück hier zugleich symbolisch gemeint ist, heißt es etwas weiter: „Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen.“

Das alles darf man also in der DDR schreiben und drucken? Nein, man darf es nicht oder jedenfalls noch nicht. Um sagen zu können, was er sagen wollte, hat Plenzdorf einen hohen Preis gezahlt. Er versieht seinen kessen Trotzkopf und Outsider mit allerlei Attributen, die ihn unter der Hand den traditionellen positiven Helden des sozialistischen Realismus wieder annähern, und das auf ziemlich fatale Weise.

In seiner Laube hört Edgar eben nicht nur kapitalistisch-dekadente Musik, dort arbeitet er auch einsam und hartnäckig an einer technischen Erfindung – einer neuartigen Farbspritzpistole –, die dem Kollektiv und dem volkseigenen Betrieb zunutze kommen soll. Überdies kritisiert er – vom Jenseits aus – nachdrücklich sein Verhalten, zumal seinen Rückzug: „Aber es soll keiner denken, ich hatte vor, ewig auf meiner Kolchose zu hocken und das … Immer nur die eigene Visage sehen, das macht garantiert blöd auf die Dauer. Das poppt dann einfach nicht. Der Jux fehlt und das. Dazu braucht man Kumpels, und dazu braucht man Arbeit. Jedenfalls ich.“ Und damit ist ja alles wieder in Butter.

Auch sein kleines Abenteuer mit der sauberen Kindergärtnerin verurteilt er post festum: „Zwar hatte sie mit der Küsserei angefangen. Aber langsam begriff ich, daß ich trotzdem zu weit gegangen war. Ich als Mann hätte die Übersicht behalten müssen.“ Unser kleiner Ausreißer ist, wie man sieht, doch ein rechter DDR-Musterknabe.

Schließlich und vor allem hat Plenzdorf eine massive didaktische Schlusspointe in Reserve, die er den Lesern gleich am Anfang mitteilt: Während der Arbeit an seiner Erfindung wird Edgar in der verlassenen Laube vom elektrischen Schlag getroffen und stirbt. Doch tötet den Jungen mitnichten jener Zufall, den man gern als blind bezeichnet. Edgar wird vielmehr zum Opfer seines Leichtsinns, seiner Querköpfigkeit und Einzelgängerei, seiner Unfähigkeit sich einzureihen und unterzuordnen. Der tote Edgar weiß auch genau, was sein größter Fehler war: „Ich war zeitlebens schlecht im Nehmen. Ich Idiot wollte immer der Sieger sein.“

Was wollte nun Plenzdorf zeigen? Dass in der DDR für einen jungen Menschen mit Charakter das Leben im Kollektiv eine Qual sei? Wollte er sagen, was Wolf Biermann schon vor elf Jahren ausgedrückt hat mit den Versen „Er ist für den Sozialismus / Und für den neuen Staat / Aber den Staat in Buckow / Den hat er gründlich satt“?

Oder wollte Plenzdorf mit Schiller predigen: Ans Kollektiv, ans teure, schließ dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen, hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft? Ich meine: Beides ist unzweifelhaft in seiner Erzählung, und man sollte sich hüten, nur eine der beiden Seiten zu sehen.

Auch sollte man sich nicht wundern, dass diese „Neuen Leiden des jungen W.“ in der DDR ganz außerordentlich ernst genommen werden und größtes Aufsehen hervorrufen. Nichts in dieser letztlich eher dürftigen Erzählung signalisiert den „lang erwarteten Anfang einer neuen Literatur“. Aber sie ist ungleich mehr als die „Love Story“.

Plenzdorfs geschickt präpariertes Opus gehört zu jenen Büchern – auch für Remarques „Im Westen nichts Neues“, auch für Hochhuths „Stellvertreter“ gilt dies –, deren künstlerische und intellektuelle Bedeutung geringfügig oder fragwürdig ist und die dennoch wichtige literarische Dokumente ihrer Zeit sind, weil sie zum ersten Mal etwas artikulieren oder doch erkennen lassen, was vorher überhaupt nicht oder nicht so deutlich sichtbar war.

Anmerkung: Die Rezension ist unter dem Titel „Der Fänger im DDR-Roggen. Ulrich Plenzdorfs jedenfalls wichtiger Werther-Roman“ zuerst erschienen in: Die Zeit, 4. Mai 1973, S. 27 (Rezension zu Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. Suhrkamp Verlag, Frankfurt / M. 1973). Sie wurde in mehreren Artikel-Sammlungen Reich-Ranickis nachgedruckt, zuletzt in Marcel Reich-Ranicki: Meine deutsche Literatur seit 1945. Hg. von Thomas Anz. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. S. 325-332. Die erneute Veröffentlichung in literaturkritik.de erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Carla Ranicki.