Patchwork am Himmel

Klaus Reichert umkreist in „Wolkendienst“ das Ungreifbare

Von Rolf SchönlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Schönlau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um gleich beim Titel zu beginnen: Ein Kompositum mit dem Grundwort „Dienst“ verspricht Ernsthaftigkeit im Vorhaben, Beständigkeit in der Ausführung und Verpflichtung dem Thema gegenüber, das mit dem Bestimmungswort „Wolken“ gekennzeichnet ist. Ausgeborgt hat sich Klaus Reichert – Anglist, Übersetzer, Lyriker und ehemaliger Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung – den Titel seines neuen Buches bei John Ruskin, der William Turners Kunst einmal „service of clouds“ nannte. Beschauliche Betrachtungen sind im „Wolkendienst“ also nicht zu erwarten. Auch sucht man vergebens nach einem Inhaltsverzeichnis, was nahelegt, dass es sich nicht um eine systematische Darstellung der Wolkengattungen Cirrus, Cumulus, Stratus und Nimbus samt Arten und Unterarten handelt.

Schon beim schnellen Durchblättern zeigt sich das Buch als Gefüge verschiedener Textsorten wie Tagebucheinträgen, Prosagedichten, Essays und Literaturzitaten, Erzählungen von Mythen, Nachrichtenmeldungen und Gedankensplittern sowie Bild- und Musikbeschreibungen, durchsetzt mit Fotografien, Abbildungen von Gemälden und Grafiken sowie Notenbildern. Eine ausführliche Bibliographie gibt Aufschluss über die zahlreichen Quellen, aus denen der Autor geschöpft hat, um die „Figuren des Flüchtigen“ festzuhalten. Metaphorisch wurden die Wolken schon immer als Spiel von Gestalt und Auflösung gelesen und, so etwa von Virginia Woolf, mit dem Menschenleben verglichen.

Die Patchwork-Struktur gibt vor, wozu der Autor den Leser ausdrücklich in der Einleitung ermuntert – sein Buch nicht von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen, sondern nach Belieben irgendwo aufzuschlagen, „so wie man zufällig den Blick zum Himmel aufschlägt“ und sich dann bei der Lektüre treiben zu lassen. Nun denn!

„Musik 6. – Claude Debussy“: Ein guter Griff, denn als Zeitkunst tut sich die Musik leichter, das Prozesshafte der Geschehnisse am Himmel abzubilden, als etwa die Literatur. Debussy selbst greift in einem erläuternden Text zu den „Nocturnes“ auf Wolkenbilder zurück, um das Schwebende, Flirrende und Irisierende seiner Tonmalerei in Worte zu kleiden. Und auch für Reichert findet das musikalische Geschehen gleichsam am Firmament statt: „Der Himmel zeigt, was er alles kann in seinen Möglichkeitsformen, drohend, schmeichelnd, zum Greifen nah, und wenn wir es packen wollen, ist es nicht mehr da.“

Gleich im Anschluss „Tagebücher – London, 9. bis 12. Januar 2015“: Schon der Anflug auf London gleicht einer kleinen Kulturgeschichte: Ein Blick durch Wolkenfetzen evoziert das „Öd und leer das Meer“ aus dem Tristan, die Themsemündung die Insel Sheerness-on-Sea, wo Uwe Johnson lebte und starb. Dann die Museumstour: Reflexionen über „dieses Nunc stans, das Einhalten des Flüchtigen“ bei Constable im Victoria and Albert, rasende Wolken vor der Tate Britain, drinnen Turners geharkte oder gehackte Komma-Wolken, auf einem van Gogh in der Courtauld Gallery Wolken von Signac oder Seurat, schließlich in der National Gallery bei Mantegna „eine künstliche Luftmatratzenwolke – oder ein breites Surfbrett – mit fünf Engeln“ und bei Ruisdael „Aufrauchen von Haufenwolken“. Reichert fährt in London reiche Beute ein und verwebt sie mit leichter Hand zu einem Tagebucheintrag, der die Struktur des ganzen Buches im Kleinen vorführt.

Beim Weiterblättern bei „Essay 8 – Goethes Wolkenlehre (nach Albrecht Schöne)“ hängengeblieben: von Luke Howard gelesen, der den Wolken 1803 ihre bis heute gültigen Namen gab, und von Arnold Schönberg, der 1914/15 ein Kriegs-Wolkentagebuch geschrieben hat. In Ausweitung der gängigen Metapher von drohenden Kriegswolken setzt Schönberg die Ereignisse am Himmel über Berlin-Steglitz in Beziehung zu denen an der West- und Ostfront. Minutiös notiert er Tag für Tag den Eindruck, den der Himmel auf ihn macht, und sieht Siegeshimmel, Wolkenbataillone, Schwerter am Himmel oder Schlachtenwolken. Auch seinen Schülern Anton Webern und Alban Berg empfiehlt er die tägliche Himmelsbeobachtung, woraufhin Berg seinem Lehrer in materialistischer Manier antwortet, Korrespondenzen von Krieg und Wolken seien allenfalls auf die Millionen von Schüssen zurückzuführen, die an den Frontlinien abgegeben würden.

Weiter zu „Prosagedichte 2“: Über das ewige Werk des Wolkenversammlers Zeus schreibt Reichert in hohem Ton: „Das Gesicht in den Wolken aus weichem Ton geknetet, und manchmal vergeht ein Jahrhundert, bis es vollendet ist. Wie ein Bildhauer lässt der Wolkenversammler den Abdruck seines Daumens auf der Stirn, die die Glorie des Himmels erleuchtete.“ Und im schönen Kontrast dazu eine salopp hingeworfene Bemerkung in „Splitter 2“: „Spätwinter. Manchmal sind Lehrlinge am Werk, die das Material verhunzen.“

In „Katastrophenwolken 4“ noch einmal auf Luke Howard gestoßen, der als kleiner Junge im Sommer des Jahres 1783 bleiche Mittagssonnen, trockene Nebel, glühende Sonnenuntergänge und Polarlichter über England sah. Die monatelang anhaltenden Phänomene am Himmel, die auf den Ausbruch zweier Vulkane in Island und Japan zurückzuführen waren, stellten für den elfjährigen Howard jedoch keine göttliche Drohung dar, sondern legten den Grundstein für seine lebenslange Beschäftigung mit der Meteorologie.

Zum Abschluss aufgelesen beim Parforceritt durch das Buch „Maler 12 – Barbara Klemm“: „Wolkenstudie 2013“, eine Schwarz-Weiß-Photographie wie eine Malerei, ein Spiel mit Nähe und Ferne, darin winzig als Menschenwerk ein Flugzeug und die Spitze eines Strommastes. In Reicherts brillanter Entzifferung: „Die Wolken fliegen, das Flugzeug fliegt, die Photographie aber ist angehaltene Zeit, der ‚Inbegriff des Stillstands‘. Wie Zenons Pfeil, der die Bewegung negiert und den Barbara Klemm auch noch ins Bild geholt hat.“

Klaus Reicherts Buch bietet eine Fülle an Beobachtungen, Gedanken, Reflexionen und Werken von Aristophanes bis William Wordsworth, von Ferruccio Busoni bis Wassily Kandinsky, ausreichend für viele Lektürereisen, von denen man so reich beschenkt zurückkehrt, wie Walter Benjamin von seinen Gängen durch die Pariser Passagen. Dank seiner offenen Form gelingt es dem „Wolkendienst“ tastend zu erschließen, was sich der begrifflichen Fixierung immer wieder aufs Neue entzieht. Dass man nach dem Zuschlagen des Buches öfter zum Himmel aufblickt, gehört vielleicht zu den schönsten Lesefrüchten.

Titelbild

Klaus Reichert: Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
248 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972283

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