Pegasus in der Schwemme

Ein Sammelband über die Entstehung literaturkritischen Schreibens im 18. Jahrhunderts

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker sind im angelsächsischen und romanischen Raum ziemlich beste Freunde, nicht aber in Deutschland. Die einen mögen hierzulande dem anderen gerne beweisen, wie man denn besser mit dem gemeinsamen Gegenstand – der Literatur – umzugehen habe. Das aber war nicht immer so. Bevor sich in der bürgerlichen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts jenes Master-Design literarischer Kritik herausbildete, das den Lesern bis heute hilft, Neuerscheinungen zu mustern, zu überprüfen und zu bewerten, die journalistische Einzelrezension also, gab es in der frühen Neuzeit ein breites Spektrum an Kommunikationsformen und Schreibpraktiken literarischer Kritik. Wie sich daraus die Literaturkritik entwickelt hat, darum geht es – verkürzt gesagt – in diesem Sammelband über literaturkritisches Schreiben im 18. Jahrhundert.

Essen, töten, heilen: Der Titel des Bandes fasst die Funktionen dieser frühaufklärerischen Schreibpraktiken zusammen. Der Kritiker betätigte sich als ‚Literaturkoch‘, als ‚Kunstadvokat‘, als ‚Literaturarzt‘. Die Auseinandersetzung mit poetischer und philosophischer Literatur stand dabei im engen Zusammenhang mit der Wissenskultur der Aufklärung als einem „Zeitalter der Kritik“ (Kant). Wenn Literatur als Wissensproviant dient, dann muss ihre Nahrung wohldosiert sein und selektiert werden. Dem Konzept der Historia literaria als Disziplin und als Praxis entsprechend ging es dabei weniger um eine Geschichte der Literatur, sondern vielmehr um eine Kunde der Gelehrsamkeit. Im Dienst der Gelehrtenrepublik machten so zum Beispiel Nicolaus Hieronymus Gundlings Neue Unterredungen (1702) die Literatur mundfertig, der galant-gelehrte Kritiker kaute dem Leser die literarische Kost vor.

Vor einer vorschnellen Unterscheidung zwischen Lobrede und Verriss muss man sich bei der Betrachtung der literaturkritischen Frühzeit der neueren deutschen Literatur ohnehin hüten. Daniel Georg Morhofs Polyhistor (1688) lieferte ein Vorbild für die Vorreden-Rezension. Hier betätigte sich der Kritiker als Polyhistor im Betrieb der sogenannten Buntschriftstellerei, einer Mischkultur literarischer Kritikformen, die von Vor- und Nachrede über Brief, Bericht und Abhandlung bis zur Streitschrift und Satire reichten.

Interessant ist der Fall des von Christoph Schmitt-Maass untersuchten literarischen Totengesprächs. Goethes Farce Götter Helden und Wieland (1773), auch lesbar als „Göt[…]He und Wieland“, trug den Autor des gescholtenen Werks buchstäblich zu Grabe: Die Kritik mortifiziert das Werk eines zeitgenössischen Autors zu dessen Lebzeiten. Wieland hat übrigens im Teutschen Merkur 1774 souverän darauf reagiert, wiederum in einer Kritik, und Goethes Farce als kleines „Meisterstück von Persiflage“ bezeichnet.

Beliebt waren im 18. Jahrhundert fiktionale Settings für literaturkritische Gespräche wie in Johann Burckhardt Menckes Unterredung Von der deutschen Poesie (1710/27), wo sich einige wohlmeinende Kritiker beim Rheinwein über Literatur, Poetik und Ästhetik unterhalten. Aus dem erfundenen Gespräch entspinnt sich – so zeigt Dirk Niefanger in einem brillanten Beitrag – ein „verbaler Austausch über Poesie“ und dann ein „materialer Austausch von Poesie“, der wiederum in die neue Ausgabe der Unterredung Einlass findet. Diese zirkuläre Struktur (so auch Gunhild Bergs Beitrag über „Literatur als Digestivum für den ‚hungrigen Gelehrten‘“ in diesem Band) und die Selbstreflexivität literaturkritischen Schreibens haben sich bis zu den Unterredungen des popkulturellen Quintetts im Berliner Hotel Adlon (Tristesse Royal, 1999) fortgezogen. Lessing wäre wohl nicht der Prototyp des modernen Kritikers geworden, der sein Metier schlagfertig, witzig und mit dem Gesicht zum Publikum betreibt, wenn er sich nicht selbst so meisterlich jener Praktiken der lockeren, gleichwohl lehrreichen Konversation befleißigt hätte (so Stefanie Stockhorst), die ihm seine Vorgänger überliefert hatten.

Titelbild

Barry Murnane / Ritchie Robertson / Christoph Schmitt-Maaß / Stefanie Stockhorst (Hg.): Essen, töten, heilen. Praktiken literaturkritischen Schreibens im 18. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
294 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835333956

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