Ein Text wie ein Fiebertraum

Der argentinische Schriftsteller Hernan Ronsino legt mit „Cameron“ ein wunderbar surreales Verwirrspiel vor

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was genau geht hier vor? Wo befinden wir uns eigentlich? Inwieweit ist dem mysteriösen Ich-Erzähler zu trauen? Oder, wie dieser selbst immer wieder fragt: Welches Datum haben wir? Dies sind nur einige der Fragen, welche die Novelle Cameron des argentinischen Schriftstellers Hernán Ronsino provoziert. Beantworten kann man sie auch nach der Lektüre der rund 90 Seiten nicht. Aber gerade das macht den Reiz dieses kleinen Meisterwerks aus.

Seit mehreren Jahren veröffentlicht der kleine Schweizer bilgerverlag das Werk Ronsinos in der wunderbaren Übersetzung Luis Rubys, leider vom Lesepublikum weitgehend unbemerkt. Der hauptberufliche Soziologieprofessor verfasste Cameron während eines mehrmonatigen Stipendienaufenthalts als Writer In Residence in Zürich. Die Zeit in der Schweiz scheint Ronsino gut genutzt zu haben. Eine leichte, sofort einnehmende Lektüre ist die Novelle jedoch nicht.

Erzählt wird die Geschichte eines Mannes namens Camerón, der abends gerne in einen bestimmten Jazz-Club geht, dort zum einen einer dicken, obszön anmutenden Sängerin lauscht, zum anderen einem Mann namens Juan Silverio zum Flussufer folgt, wo dieser unter einer Eisenbahnbrücke raucht. Warum er das tut, weiß er selbst nicht so genau. Tatsächlich hat Camerón als Jugendlicher einst geholfen, jene Brücke zu erbauen, dabei ist ein Unglück passiert, ein anderer Jugendlicher verlor einen Arm. Gleichzeitig hat er beim Feierabendbier seinerzeit einen (späteren) Dichter kennengelernt, der sich dann im Liebeskummer von der Brücke stürzte. So ganz klar wird dies aber nicht.

Deutlich wird stattdessen, dass Camerón an seiner Beinprothese eine elektronische Fußfessel trägt; warum, erfahren wir nicht. Eines Abends geht er mit der Jazz-Sängerin und Silveiro, die er beide zuvor kaum kannte, auf eine Sauftour. Er erwacht im Hof des Nachbarhauses, ohne Prothese und Fußfessel, der Eingang seines Hauses wird bereits von Polizisten bewacht. Camerón wiederum wird vom Nachbarn, einem Programmierer, aufgenommen und versteckt; warum, wissen wiederum beide nicht so genau.

So geht es noch lange weiter. Jeder neu begonnene Erzählstrang öffnet gleichzeitig einen weiteren, der Ich-Erzähler springt zwischen Realität und Fiebertraum, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunftsprojektion hin und her, und doch ist der Roman unheimlich spannend, eigentlich fast schon ein Pageturner, obwohl man nie so recht versteht, was hier genau vor sich geht. Der Ton des Erzählers ist dabei lakonisch, er erfreut sich an seiner Überlegenheit, nicht nur in Bezug auf seinen Nachbarn, sondern auch auf den Leser; denn man kenne nicht die Wahrheit über ihn, seine Geschichte. Gleichzeitig weiß er selbst nicht, was in der schicksalhaften Nacht passiert ist, als ihm die Prothese gestohlen wurde. Und die Geschichte um den Verlust seines Beins vor vielen Jahren, die er gegen Ende dem Leser erzählt, ist schwammig und vernebelt wie ein Fiebertraum.

Cameron bezieht nicht nur Figuren aus Ronsinos Erzählkosmos – etwa den Romanen Lumbre und Glaxo, ein; die Novelle hat auch mehrere Vorbilder in der argentinischen Literatur. Unbedingt wäre hier César Aira zu nennen, dessen ebenso surreale wie bewusst sinnfreie Novellen Ronsino ebenso beeinflusst haben wie die wohl berühmteste Erzählung Argentiniens, Jorge Luis Borges El sur. Vor allem letztere sollten sich verzweifelte Leser von Cameron einmal aufmerksam durchlesen, denn womöglich findet sich hier der Schlüssel zu diesem herrlich vertrackten Werk.

Titelbild

Hernán Ronsino: Cameron.
Aus dem argentinischen Spanisch von Luis Ruby.
bilgerverlag, Zürich 2020.
120 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783037620854

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