Hörverlust und Psyche

Von der Flucht in eine Fantasiewelt handelt Adèle Rosenfelds Debütroman „Quallen haben keine Ohren“

Von Christina DittmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Dittmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Quallen haben keine Ohren. Aber sie haben Sinnesorgane für die visuelle Wahrnehmung und das Gleichgewicht. Das erfährt die Protagonistin Louise in Adèle Rosenfelds Debütroman im Naturkundemuseum. Und sie fühlt sich direkt verwandt mit diesen Nesseltieren, denn von Geburt an ist sie schwerhörig. Nach einem kürzlich, mit Mitte 20 erlittenen Hörverlust von 15 Dezibel entgleitet ihr die Welt der Hörenden immer mehr, an die sie sich verzweifelt zu klammern versucht.

Wie viele Behinderungen ist Schwerhörigkeit ein Spektrum. Konnte Louise sich in der Vergangenheit mit ihrem Hörgerät immer noch relativ gut in der hörenden Welt bewegen, schwankt sie nun zwischen der hörenden und der gehörlosen Welt, was sie in eine ausgewachsene Identitätskrise stürzt. Ein Cochlea-Implantat soll es richten, so wird es ihr empfohlen. Doch möchte sie wirklich, dass ihr Gehör künstlich ist? Bei Implantatträger:innen ist ein intensives Hörtraining erforderlich, um die empfangenen Signale richtig interpretieren zu können. Die Angst vor dieser Künstlichkeit und einer Persönlichkeitsspaltung durch die neue Hörweise zieht sich durch den Roman. Es geht darum, was der Verlust eines Sinnes mit der Psyche macht, selbst wenn dieser noch nie ganz zuverlässig war.

Der Roman spricht viele Aspekte an, die Menschen mit Behinderung in ihrem Alltag herausfordern, wie die Unsichtbarkeit ihrer Behinderung, durch die sich Betroffene häufig nicht ernst genommen oder als Hochstapler:innen fühlen, wenn sie ihre Probleme artikulieren. Louise schert sich sogar die Haare, damit andere Menschen ihr Hörgerät – und damit ihre Einschränkung – sehen, doch auch das bringt nicht den gewünschten Effekt. Bei ihrer neuen Arbeitsstelle im Rathaus erfährt sie Diskriminierung von Teammitgliedern, die wenig Verständnis für ihre Situation aufbringen und sich auch nicht darum bemühen, von ihr verstanden zu werden.

All dies schildert die Autorin sehr empathisch und berührend, sodass Nicht-Betroffenen mehr als einmal die Augen geöffnet werden, wie es für Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung ist, in einer hörenden und oftmals ignoranten Umgebung zu leben. Das Nicht-verstehen wird dabei auf immer wieder unterschiedliche Weise im Roman abgebildet und führt nicht selten zu Situationskomik:

„Übrigens, weißu Valei finsi immeinfa soauf Wien untergeht.“ Wien untergeht? Puh, das Thema war nicht interessant genug, um meine Aufmerksamkeit zu halten. „Warum hörst du mir eigentlich nicht zu?“, fragte sie verärgert. „Der Untergang von Wien deprimiert mich eben.“ Jetzt schaute sie mich ihrerseits verständnislos an. Demnach bestimmte weder sie noch ich das Thema. Es war ein Zufallsspiel. Wer aber mischte dann die Karten der Unterhaltung?

Louise entwickelt ihre eigenen Strategien, um mit der Situation umzugehen. Sie redet, um nicht zuhören zu müssen, reimt sich zusammen, was vermutlich gesagt wird – oft nicht besonders erfolgreich – oder schaltet das Hörgerät ab, wenn sie sich über ihre:n Gesprächspartner:in ärgert. Und sie flüchtet sich in eine Fantasiewelt. Drei Gestalten tauchen immer wieder auf und interagieren mit ihr, symbolisieren ihre Ängste und Unsicherheiten oder spenden ihr Trost: ein Soldat aus dem Ersten Weltkrieg, ein (mal bissiger, mal netter) Hund namens Zirrus und eine Botanikerin. Für Louise überlagern sich Realität und Fantasie, besonders, wenn sie ihre Umwelt mal wieder nicht verstehen kann.

In Interviews erfährt man, dass die selbst hörbeeinträchtigte Adèle Rosenfeld ihre eigene Geschichte mit diesem Roman verarbeitet. Einer hörenden Autorin wäre es wohl auch kaum gelungen, so realistisch und nahbar über die Empfindungen zu schreiben, die einen Hörverlust begleiten. Dabei ist der Roman sprachlich sehr gut konstruiert und spielt gekonnt mit Bildhaftigkeit:

Die tiefe Stimme spulte die Wörter herunter, die allmählich leiser wurden und im Nebel verschwanden. Ich musste ihnen in der Abenddämmerung im Geiste hinterherrennen und gegen die sich abzeichnenden Landschaften ankämpfen; ein Refugium gegen die Granattrichter der Sprache.

In Frankreich stand der Roman auf der Shortlist des Prix Goncourt du Premier Roman und wurde ausgezeichnet mit dem Prix Fénéon 2022. Die Übersetzung aus dem Französischen von Nicola Denis ist sehr gelungen, dennoch erschließt sich die Komik ausgerechnet des ersten Satzes nur französischsprachigen Menschen, da keine Erklärung mitgeliefert wird, dass „Castagne“ Prügelei bedeutet: „Es war das Gebäude Castaigne, ich hatte Castagne verstanden.“ Für deutsche Leser:innen buchstäblich witzlos.

Die Stärke des Romans, einen Hörverlust so detailreich mit allen psychischen Folgen und Gewissenskonflikten, Diskriminierungen und Unsicherheiten zu schildern, ist gleichzeitig auch eine kleine Schwäche. Denn der Hörverlust bleibt das zentrale und einzige Thema des Romans. Die Protagonistin und alle Nebenfiguren bleiben blass. Louise ist als Person weniger interessant als ihr Hörverlust. Dennoch ist Quallen haben keine Ohren eine sehr lohnenswerte Lektüre, die nachdenklich macht und Aufmerksamkeit schafft für ein wichtiges Thema.

Titelbild

Adèle Rosenfeld: Quallen haben keine Ohren. Roman.
Aus dem Französischen von Nicola Denis.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
221 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431351

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