Wer sind wir?

„Über den Menschen“ ist die Altersbilanz des Hirnforschers Gerhard Roth

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerhard Roth zieht mit seinem neuen Buch Über den Menschen Bilanz. Mittlerweile ist der Hirnforscher, der mit Büchern über die Funktionsweise des Gehirns zu einem populären Wissenschaftler in Deutschland wurde, 79 Jahre alt. Über den Menschen ist zugleich eine Rückschau auf seine jahrzehntelange Forschung, ein Blick auf umstrittene Hypothesen und zugleich ein Buch mit einem ambitionierten Ziel: Gerhard Roth untersucht, ob und wie neurowissenschaftliche Erkenntnisse und mit ihnen einhergehende psychologische Erkenntnisse dazu beitragen können, „ein umfassenderes Menschenbild zu entwerfen“.

Zunächst blickt Roth auf die Anatomie, erklärt die Funktionen des orbifrontalen Cortex, die sechs psychoneuralen Grundsysteme und wie diese Temperament und Persönlichkeit eines Menschen festlegen. Dabei betont er, dass es eine rundum ausgeglichene Persönlichkeit selten gibt. Im Menschen kämpfen widersprüchliche Antriebe – beispielsweise das Streben nach der Erkundung der Welt und ihrer Chancen gegen das Streben nach Schutz. „Wie viel Veränderung halten wir aus?“, fragt er. Wie werden neue neuronale Verbindungen geknüpft? Wie bilden sich Gefühlswelt und Persönlichkeit beim Kleinkind? Was regt sich im Sekundärunbewussten? Welche Möglichkeiten eröffnet eine Gesprächstherapie? Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Ist die menschliche Sprache ein Alleinstellungsmerkmal? Mit Blick auf die Evolution konstatiert Roth, dass die kognitive Überlegenheit gegenüber anderen Tierformen möglicherweise „nur eine flüchtige Tatsache“ ist. Im Hinblick auf geistige Fähigkeiten und Verhaltensweisen gebe es kein einziges Merkmal, „das ausschließlich und ohne deutliche Vorstufen beim Menschen und sonst bei keinem Tier zu finden ist“. 

Jedes Kapitel beginnt mit einer Aufgabenstellung und endet mit einem Fazit, in dem der Autor das Gelernte für den Leser noch einmal zusammenfasst. „Ich habe darzustellen versucht“ und „ich habe bereits festgestellt“, beginnt er professoral seine Conclusiones. In lehrhaftem Ton schreibt er, was „wir erkennen“, was „wir noch sehen werden“ und was „uns das sagen“ müsse. Die Kapitel wirken daher wie eine Vorlesungsreihe. Wenn der Professor am Rednerpult das Buch zuschlägt, kündigt er hernach an, womit „wir uns genauer befassen“ werden – in der nächsten Lehrstunde, ist der Leser geneigt hinzuzufügen. Die Atmosphäre ist durchaus nicht unangenehm. Die komplexe Materie wird in leicht verdauliche Happen zerteilt. Der Leser wird an die Hand genommen und aufgeklärt. Schritt für Schritt nähert er sich dem zentralen „Geist-Gehirn-Problem“.

Gerhard Roth zitiert auf seinem Weg viele Neurophysiologen, führt in die Theorien von Sigmund Freud und Karl Jaspers ein und stellt Wilhelm Dilthey, Immanuel Kant, Isaac Newton und den Motivationspsychologen Bernard Weiner vor. Er reist durch die Geschichte der Hirnforschung und blickt auf Schlussfolgerungen bedeutender Philosophen. Er stellt komplexe Studien vor und erläutert etwaige methodische Unzulänglichkeiten mit klaren Worten („sehr laienhaft“, „halte ich jedenfalls für Unsinn“ etc.).

Auf der Suche nach einem „umfassenderen Menschenbild“ beschäftigte sich Gerhard Roth schon in den vergangenen Jahren mit dem Bösen. Dass antisoziales, „böses“ Verhalten einer Kombination aus anlagebedingten und umweltbedingten Faktoren erwächst, ist bekannt. Häufig wird die Frage gestellt, ob jeder Mensch zum Mörder werden könnte. Der Autor glaubt, dass unter hohem Druck und im Angesicht der Option, Macht über andere Menschen ausüben zu können, unterste Antriebe freigesetzt werden können. 

Gleichzeitig auf Kritik an den Thesen eines biologischen Determinismus einzugehen und aufzuzeigen, wo die Grenzen der Neurowissenschaft liegen, ist eine Stärke des Buches. Gerhard Roth appelliert an die Gesellschaft, mit geeigneten Mitteln schon in einer frühen Lebensphase den vielfältigen Wurzeln gewaltbereiten Verhaltens entgegenzuwirken. Über den Menschen geht insbesondere in diesem Bereich weit über die Beschreibung des Forschungsstandes hinaus und betont das Ziel, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse in Gesellschaft, Gerichtsbarkeit und Politik zu handeln.

Eine weitere wichtige Schlussfolgerung von Roth ist, dass natur- und biowissenschaftlichen Denkweisen nur in Kombination mit den Geistes- und Sozialwissenschaften in der Lage sind, den Menschen zu verstehen und beispielsweise die Wirksamkeit der Psychotherapie zu steigern. Er verwehrt sich trotz hoher Rückfallquoten gegen Kritiker, die eine Pharmakotherapie als bessere Alternative zur Psychotherapie sehen. Es sei stattdessen wichtig, Elemente aus verschiedenen Therapieschulen zu verbinden. Es gebe „nicht die eine stets wirksame Interventionsform“. Deutlich unterstreicht er außerdem mehrmals, dass Worte allein nicht heilen. Roth spricht sich für eine disziplinübergreifende, integrative Psychotherapie aus. 

Der Höhepunkt des Buches ist schließlich die Zusammenführung aller erarbeiteten Erkenntnisse in der These, dass der Geist als physikalischer Zustand akzeptiert werden muss. Der Mensch füge sich in die Natur ein. Der Mensch müsse sich „von der Vorstellung verabschieden, [der Geist, bzw. das Bewusstein] sei etwas ‚Übernatürliches‘“. Nach Schlaganfällen und mit voranschreitender Altersdemenz gehen Aspekte des Ichs verloren, etwa den Körper als den eigenen zu erleben. Roth folgert: „Wir sind nicht ein einziges Ich, sondern mehrere, vielleicht viele Ich-Zustände“. Sein wahres Ich erkennen zu wollen, sei deshalb aussichtslos. Das Gehirn sei ein „hochkomplexes, selbstreferentielles System von Zuständen, das im Wesentlichen mit sich selbst interagiert.“ Die Bedeutungen der Zustände dieser Welt würden rein intern erzeugt.

Agnostizismus hält Gerhard Roth indes für logisch vertretbar, aber „für uninteressant und auch unfruchtbar“. Auf die Frage, ob unser Gehirn die Welt überhaupt objektiv wahrnehmen kann, antwortet er, die Realität sei „zumindest in manchen, vielleicht sogar in vielen Eigenschaften erkennbar“. Und „die konstruierte und von mir erlebte Welt ist die einzige, die mir direkt zugänglich ist. Ich kann nicht aus ihr heraustreten und sie von außen betrachten.“ Deutlichere Antworten sind nicht möglich. Vielleicht ist der Laie nach der Lektüre besser in der Lage, sein eigenes Wesen einzuschätzen. Denn von der lebensnahen Analyse, ob er eher zum Haupttyp des Stabilen oder des Dynamikers gehört, über die Überlegungen, welche Veränderungsmaßnahmen im Leben vielversprechend sind bis zur philosophischen Erkenntnis der Wirklichkeit als Konstrukt unseres Gehirns bietet Über den Menschen eine Menge fruchtbarer Anregungen. Das Gehirn des Lesers profitiert von dem Buch.

Titelbild

Gerhard Roth: Über den Menschen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
368 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587669

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch