Es bildet ein Talent sich inmitten von Gewalt

Ulrike Almut Sandig gelingt mit „Monster wie wir“ ein ebenso erschütternder wie beeindruckender Roman über sexuellen Missbrauch und Musik

Von Anna Christina KöbrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Christina Köbrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Melancholische Schönheit gepaart mit Wehklage – durch ihre unverstellt wirkende Gefühlsfülle hat Beethovens als Mondscheinsonate bekannte Klaviersonate Nr. 14 op. 27/2 quasi una fantasia in cis-Moll enorme Popularität erreicht, genauer gesagt: ihr erster Satz, der die Satzbezeichnung Adagio sostenuto (dt.: ruhevoll, gehalten) trägt. Im 2020 erschienenen Debütroman der als Lyrikerin längst bekannten Ulrike Almut Sandig fragt sich die Protagonistin Ruth: „Darf man so heulen, wenn man ein Stück summte, von dem es schon so viele Aufnahmen gab, dass seine emotionale Wirkung eigentlich der eines Radiojingles gleichkommen müsste?“ und lenkt den Blick von sich auf Beethovens vermeintlich abgedroschene Mondscheinsonate. Diese gerät in Monster wie wir zum Leitmotiv. Der Roman enthält viele Szenen, in denen Musik Figuren rührt, sie abtauchen und sich vergessen lässt. Erfreulicherweise werden diese Szenen nicht demonstrativ zur Schau gestellt, sondern bleiben dezent und lassen nachvollziehen oder erahnen, wie bzw. warum das Musizieren und die Musik zu bedeutenden Selbstanteilen einer Protagonistin werden, die inmitten von Gewalt aufwächst und lebt.

Ruth verbringt ihre Kindheit und Jugend in der DDR der 1980er-Jahre. Ihre Eltern – die Mutter ist Apothekengehilfin und Katechetin, der Vater Pastor – streiten häufig; das Verhältnis zum großen Bruder ist kameradschaftlich, dennoch hin und wieder ein Kräftemessen. Viel Zeit verbringt Ruth mit dem gleichaltrigen Viktor, Sohn einer Ukrainerin und eines Offiziers. Ruth und Viktor eint nicht zuletzt, dass sie innerhalb der Familie sexuell missbraucht werden; nach dem Zusammenbruch der DDR trennen sich jedoch ihre Wege. Die mit einer gehörigen Portion Talent ausgestattete Ruth wird Berufsmusikerin, lebt mit ihrem gewalttätigen Partner, dem Sänger Voitto, und tritt mit ihm gemeinsame Konzertreisen an; Viktor dagegen driftet zunächst ins politisch rechte Krawallmilieu ab und sucht Ablenkung in körperlicher Ertüchtigung, bevor er einen Au-Pair-Aufenthalt in einer französischen Familie antritt.

Die Konstruktion von Monster wie wir ist gut austariert, zwei längere Kapitel („1. Ruth“, „2. Viktor“), die jeweils aus 15 durchnummerierten Einheiten von maximal zehn Seiten bestehen, werden umrahmt von einer kürzeren Einleitung („Mondster“) sowie von einem drei Einheiten umfassenden dritten Kapitel („Voitto“). Neben der vierteiligen Grundstruktur lässt die klare Rollenverteilung von einer Hauptfigur pro Kapitel den Roman insgesamt rund wirken. Motivwiederholungen verflechten die Kapitel, der Roman ist dank variierender Erzählhaltung, Schauplätze und Figurenkonstellationen abwechslungsreich gehalten.

Stilistisch gelingt es Sandig, die Handlungsorte aufzugreifen: Kapitel eins ist durchsetzt vom rauen Ton in der Spät-DDR, Kapitel zwei – Schauplatz Südfrankreich – lässt beinahe eine mediterran-lichte Stimmung aufkommen, würden sich nicht auf Dunkles hinweisende Andeutungen häufen. Lediglich streckenweise wirkt das in der Er-Form erzählte zweite „französische“ Kapitel wie eine – um mit Franz Liszt zu sprechen – „Blume zwischen zwei Abgründen“, ähnlich dem heiteren Zwischensatz von Beethovens Mondscheinsonate. Und doch kommt in diesem Kapitel, das Viktor in der französischen Gastfamilie verbringt, bald ein Abgrund zum Vorschein: Der Vater vergeht sich am Stiefsohn – kein Kapitel ohne sexuellen Missbrauch. Die Motivwiederholung wirkt jedoch keinesfalls konstruiert, vielmehr erinnern die Missbrauchsfälle daran, dass Gräueltaten – freilich in spezifischen Konstellationen – in jeder Familie auftreten können. Der als Kind einst selbst betroffene Viktor nimmt im zweiten Kapitel als junger Erwachsener die Rolle des Befreiers eines Opfers ein, wobei die Leserinnen und Leser noch vor ihm erfahren, dass in der ihn beherbergenden Familie ein Junge vom Stiefvater missbraucht wird – ein gelungenes Spannungsmoment. 

 „Mondster“, das erste und das dritte Kapitel werden von der Protagonistin Ruth retrospektiv aus der Ich-Perspektive erzählt. Adressat der referierten Gedankenrede ist der gewalttätige Partner Voitto – was Ruth an ihn richtet, kann sie ihm schwer ins Gesicht sagen: „Auch später habe ich […] nicht erzählt, was Großvater gemacht hat. Und auch du, Voitto, wirst es dir zusammenreimen müssen.“ 

Missbrauch und Musik bzw. Musizieren prägen Ruths Kindheit maßgeblich. Dabei scheint das Geschehen auch deswegen plausibel, da im Blick auf die Musikerinnenpersönlichkeit der Aspekt der Gewordenheit sorgfältig entfaltet wird: Ruth ließe sich von frühester Kindheit an dem zuordnen, was man gemeinhin als auditiven Wahrnehmungstyp beschreibt: „In meinem Kopf aber summte, klatschte und sang es“. Schnell spielt sie von Schallplatten abgehörte Melodien auf der Geige, rasch wird das Instrument zum verlässlichen Objekt, Ruth resümiert: „Wenn ich Geige spielte, vergaß ich alles.“ 

Vergessen muss Ruth vor allem die regelmäßigen Übergriffe des Großvaters. Sie flüchtet dabei in die Geräusche der Umgebung – in die Warnsignale eines Bahnübergangs, welche die Grenzüberschreitung gleichzeitig metaphorisch illustrieren – und verdrängt das Geschehen: „Ding ding, läutete die Schranke vor dem Haus. Wenn ich nur fest daran glaubte, schlief ich wirklich, und Großvater war nichts als dichte Dunkelheit, die außerhalb meines Körpers donnerte […].“ Ruth gerät in Folge des Missbrauchs zu einer „Puppe mit einem Stapel Notenbücher neben dem Bett“, sie stellt fest: „[A]lle schienen etwas zu fühlen, wenn ich spielte. Nur ich nicht. Aber das war in Ordnung.“ 

Auch Viktor entwickelt in Folge des Missbrauchs durch den Partner der großen Schwester im Kindesalter eine enge Objektbeziehung – zu einem „Ding“, keinem Musikinstrument, sondern einem Mondglobus, der den im Roman immer wieder aufgegriffenen Sehnsuchtsort Mond repräsentiert. Doch die Trost spendenden Objekte können schützende Elternfiguren nicht ersetzen, Ruth etwa ist auch mit der Geige vor dem Großvater nicht sicher: 

Einmal stand er plötzlich hinter mir auf dem Dachboden, ich war mitten in der Eröffnung des dritten Satzes, presto agitato, der Mondscheinsonate […]. Die rechte Hand spielte ich nach, die Basslinie der linken mitsummend, als Großvater mir eine kühle Hand an den Hals legte. Den Bogen in der Luft, fuhr ich herum. Hier bist du, sagte er und nestelte an seinem Hosenstall. Liebst du Vati denn gar nicht mehr? 

So sehr diese Szene zu erschüttern vermag, die inhaltliche Verknüpfung des Missbrauchs durch den Großvater mit der Darbietung des dritten Satzes der Mondscheinsonate (Satzbezeichnung „presto agitato“, ein Satz von drängendem, brodelnden Charakter) ist geschickt, die Verwobenheit von Instrument und Musizieren in andere Beziehungsdynamiken wird so greifbar. Eine umfangreiche pathologisierende Ausdeutung bleibt glücklicherweise aus, was einer Überfrachtung entgegenwirkt und Suggestionspotenzial bewahrt. Und angesichts der fragil gehaltenen Symbiose von Musikerin und Geige wird ein später, überraschender Wechsel des Instruments, der während des Studiums erfolgt sein muss, nachvollziehbar: 

[…] seit ich im Zweitfach Klavier hatte, spukten mir Melodien im Kopf herum, die mir eigentlich peinlich sein müssten. Als befreite das Schwarz-Weiß der Tasten, die Resonanz der Saiten im Holzkorpus, die Gleichzeitigkeit beider Notenschlüssel etwas in mir, das ich mithilfe der Geige gut weggeschlossen geglaubt hatte. […] Im Tastenspiel wohnte ein monströser Golem, der es mit allem, was einem zustoßen konnte, aufnahm.

Das Instrument Klavier wird als ein mächtiges wahrgenommen, beim Klavierspielen kann die Protagonistin mehr Emotionen zulassen als beim Geigen. Doch selbst in Verbindung mit dem stärkenden Objekt hört sie in sensiblen Momenten, wie etwa in exponierter Stellung auf dem Podium, die Stimme des Großvaters; die dadurch aufkeimende Störung ihrer Verbindung zum Instrument muss sie „mit Gewalt zudrücken“. Was bei der realistisch erzählten Kindheit, Jugend und Gegenwart der Ich-Erzählerin herausragt, ist ihr Standpunkt: Die Protagonistin befindet sich zum Erzählzeitpunkt auf der Bühne und ist im Begriff, als Pianistin Beethovens Mondscheinsonate zu interpretieren. Gerade deren erster Satz entfaltet kurz vor dem Gang auf die Bühne während einer Autofahrt Ruths eine kathartische Wirkung: „Darf man so heulen, wenn man ein Stück summte, von dem es schon so viele Aufnahmen gab, dass seine emotionale Wirkung eigentlich der eines Radiojingles gleichkommen musste? Als ich fertig geheult hatte, war die Sache geklärt.“ Kurzerhand versenkt Ruth das Auto ihres gewalttätigen Partners nahe ihres zu Gunsten von Braunkohleabbau gesprengten Heimatdorfs in einen Krater. Die Blickrichtung in den Krater hinab entspricht der von einer Bühne auf das Publikum – die Kulissen verschwimmen und mit ihnen die Impulsrichtungen: Wie im dritten Satz („presto agitato“) der Mondscheinsonate eine überstaute Fülle vulkanischer Gewalt ausbricht, formt sich in Ruth ein finaler Impuls, etwas anzufangen. So kommt Hoffnung auf, dass die Protagonistin nicht nur die vermeintlich „schwere“ und technisch anspruchsvolle Mondscheinsonate im Konzert spielend meistert, sondern auch neue Formen des Umgangs mit einer schwer wiegenden Vergangenheit sucht: „Mit der Gravitation kann man so oder so umgehen. Alles ist gleichzeitig da, Vergangenheit und Gegenwart, das wiegt schon einiges. Und wir sind auch immer noch da. Also gibt es keinen guten Grund, es nicht zu wagen. […] Ich fange jetzt an.“ 

Monster wie wir überzeugt bis zum Schluss: Eine häufig einfühlsame, aber auch teils ins Lakonische abdriftende Erzählsprache, die austarierte Konstruktion, eine gehörige Portion Suggestionspotenzial und insbesondere die geschickte Verflechtung der Themenbereiche Musik und sexueller Missbrauch machen diesen Roman lesenswert. Die Entscheidung für Beethovens Mondscheinsonate als Leitmotiv wirkt keinesfalls kitschig, für die Leserinnen und Leser bietet sie dank ihres Bekanntheitsgrades – gerade im Beethoven-Jahr 2020 – einen Wiedererkennungsfaktor, auf der Handlungsebene fungiert sie zunächst als Katalysator, stößt aber später einen Befreiungsimpuls an. Selbst auf struktureller Ebene ist ihre dreiteilige Form erkennbar. Gleichzeitig gelingt es der Autorin, das Motiv des sexuellen Missbrauchs durch die Verknüpfung mit der Musik so zu verarbeiten, dass die Protagonistin zu einer ebenso bemitleidens- wie bewundernswerten Heldin geformt wird.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ulrike A. Sandig: Monster wie wir. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
240 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783895611834

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