Levante, Tunis, Sternenkatze
Joachim Sartorius‘ Gedichtband „Wohin mit den Augen“ erkundet Formen der Welthaltigkeit
Von Martin A. Hainz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJoachim Sartorius‘ Lyrik ist ein Memorieren und bei der Spurensuche auch Wahrnehmungskunst – oder umgekehrt: Sartorius schreibt als Wahrnehmungskünstler, der auf dem Weg übers Vergangene auf das zu Sehende und zu Sagende kommt. Der Dichter, der am 19. März 2021 75 Jahre alt wurde, zeigt diese Beziehungen zwischen Erinnerung und Sensorium, wobei das Sensorium auch und vor allem die Sprache ist, die Erinnerung aber der Wortschatz, den es immer auch zu bergen gilt, auch in seinem neuen Band.
Dabei geht es diesmal vor allem um seine Gedächtnisorte. Er wuchs in Tunis auf und spricht nun hiervon wie von anderen Orten seines Lebens, von Alexandria und der Levante etwa. Die Nähe des Dichters und des lyrischen Ichs ist hierbei groß, jedenfalls in manchen Momenten. Das gilt schon für frühere Bände, etwa für Für nichts und wieder alles (2016 ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch erschienen) – schon damals war da jene intime, biographisch begründete Kenntnis des ortskundigen Dichters, die gepaart war mit Reflexion. Durch diese Einschübe oder diese Ironie konnte und kann auch diesmal das Genaue ins Phantastische wachsen, etwa zu einer doch nicht vernichteten Bibliothek von Alexandria, deren Katalog sie nicht ausschöpft, worin zwischen all dem akkurat Verzeichneten etwas fehlt, weil in der Bibliothek selbst auch „die Schatten aufbewahrt“ sind.
Diese Drift ins Exakte, aber auch Phantastische lässt schon der Titel des neuen Bandes ahnen: Wohin mit den Augen, das ist die Frage dessen, der nicht weiß, wohin er bei all dem, was es zu sehen gibt, zuerst sehen soll, aber auch dessen, der nicht weiß, wohin er sich abwendend noch schauen könne. Und es ist die Frage, was man mit den nutzlosen Augen tun solle.
Man sieht: Das Akkurate, die parataktischen Schilderungen, das täuscht rasch: „Die Nacht wäscht das Meer. / Am Morgen ist das Wasser neu.“ Die Spuren ritzt schon das Meer, und zwar in die Münzen, „in eine jede / den Namen einer Nymphe“, wie es heißt. Das Lesen wie das Schreiben ist eine Sache, die sich zuträgt, ein „Erinnern, falls es das gibt, ohne Person“, um ein zweites und letztes Mal aus dem Vorgängerband zu zitieren. Manchmal hole der „Verstand […] ein anderes Gedicht wieder zurück“, so schreibt Sartorius diesmal, das Erinnern macht dann freilich mitunter auch das zum Ganzen, was nicht ganz werden soll: „Fragmente / nicht zu ergänzen“ seien da. Erinnerung ist also eine Lüge. Es ist allenfalls in seltenen Ausnahmen doch eine, die mitunter etwas entbirgt – etwa hier: Manchmal ist das „die Schulter der schönen Göttin“, ein Erinnern daran, „wie die Alten die Hauptinsel nannten“, das aber ein Wahrnehmen ist, da sie sie nicht ohne Grund so nannten. Sieht man hier die Insel dieses Namens, sieht man hier der Göttin Schulter? Und wann hat man sich „zu Ende / erinnert“?
Die Erinnerungen sind flüchtig. Erinnert man sich aber an das Flüchtige, nämlich Arethusa, die Nymphe, die flüchtend zur Quelle verwandelt wird, so ist das ganz Erinnern. An der Quelle und „in den Cafés“, „Arethusa, habe ich dich gesehen“, so heißt es. Ansonsten ist Erinnerung nur in dem Moment gegeben, an den man sich erinnern würde: „Ich will den Sommer im Sommer bewundern. / Ich will im Meer mein Meer bewundern.“ Der Umstand, dass das lyrische Ich das will – wollen muss –, legt freilich nahe: Selbst da ist das, was da ist oder sei, gar nicht so sehr da, wie im Verlustgefühl dessen, der sich erinnern wird.
Erfolge sind unmöglich. „So ist von der Versuchung der Macht / kaum etwas geblieben“, sagt das lyrische Ich retrospektiv. Statt Schlachtordnungen ist da eine „Ameisenstraße“ – immerhin. Und selbst das Meer schwillt eingehegt an: „Dem Meer hat Sand die Grenze gesetzt.“ Aber ganz so ist es doch nicht, die kleinen Anklänge sind nicht zu marginalisieren. Wenn im öden Hinterland die „Fledermaus […] um einen schnellen, eckigen Tanz“ bittet, dann fragt sich die abgeklärte Stimme: „Hat sich das Meer hierher verirrt?“
Hier mischt sich präzise Beobachtung und existentielle Meditation im sorgsam aufgebauten Band mit etwas Leichtem: ebenso, wenn eine türkische Katze voller Launen die Leserschaft in der Folge begleitet. Die Katze ist ein kleines Ungeheuer, das „im Schlaf“ „lächelt“: „Erinnert sich an drei Mäuse, / mit denen sie in der Frühe spielte, / und wie die Amsel mit ihren Flügeln schlug.“ Sie ist grausam und unschuldig zugleich – und lebt außerhalb der Zeit. „Sie strauchelt nie“, sie obsiegt, „nichts als Wahrnehmung und Instinkt“: Sie bringt als „Gartengeist“ Mäusen und Vögeln den Tod, dann still, „worttot“. So streicht sie durch die Nacht. „Immer nimmt sie ihre Krallen / mit in die Nacht“ und doch ist tags „dieses Schnurren / das Wesen des Lebendigen“.
Ganz von dieser Welt ist sie nicht, eine „Sternenkatze“, aber dann ist nichts ganz von dieser Welt in dieser Lyrik; und manches kann darum in diese Welt gelangen. Das „Vertraute“ kommt „fast überfallartig“, das Unbekannte dagegen nähert sich und wird lesbar. Es ist eine Art von Dialektik, die da entsteht, bei aller Knappheit, bei aller Evidenz der Metaphern oder auch der genauen Beschreibungen. Das Falsche weist auf das mögliche Richtige: „Wir versuchen Fehler in den Ornamenten zu entdecken. / Wir finden sie. Kleine Unregelmäßigkeiten.“
Sartorius ist ein wunderbarer Band geglückt. Die unverwechselbare Stimme dieses Lyrikers nimmt dem nichts, was wie von selbst aufscheint, sie fügt Brüche ein, die die Räume weiten, ohne etwas zu sprengen – und man liest und staunt und will das Buch weiteren Lesern ans Herz legen.
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