Literarisches Labyrinth

Zahlreiche Neuausgaben zeigen die literarische und kulturhistorische Wirkmacht Venedigs auf

Von Carina BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der bloße Gebrauch seiner Augen ist schon Glück genug in Venedig und hingebungsvolle Beobachter behalten kaum den Überblick über die Früchte ihres Sehens.“ Diese Einsicht hat Henry James bei der späteren Niederschrift der Eindrücke seiner ersten Venedig-Reise als 26-jähriger angehender Schriftsteller, den es aus Amerika weg- und nach Europa hinzieht. James ist bei weitem nicht der erste, der über den Reichtum der Serenissima schreibt, über ihren Zauber, der sich aus der unmittelbaren Greifbarkeit einer reichen Geschichte und der Ästhetik des Verfalls derselben speist. Venedig, also die historische Altstadt mit ihren sechs Sestieri, misst nur einige Quadratkilometer und doch vermag die Insel ihre Besucher seit jeher in einen Zustand von Staunen und Entzücken zu versetzen.

Die Feststellung, dass Beobachter, die sich dieser Insel hingeben (Kreuzfahrt- beziehungsweise Tagestouristen sind hier von James wohl ausgeschlossen), der Mannigfaltigkeit ihrer Eindrücke ausgeliefert sind, lässt sich auch in der Literaturproduktion, die Venedig angeregt hat, wiederfinden. Die Fülle von Romanen, Novellen und Essays, deren Schauplatz Venedig ist, oder aber die Unmenge an kunst- und kulturhistorischen Schriften, die sich mit dem Erbe der Serenissima beschäftigen, ist beeindruckend; die Reihe reicht von Casanova, Goethe, Byron, Ruskin, James, Proust, Mann, bis hin zu Begley und Ortheil. Louis Begleys Essay Romane und Venedig aus dem von ihm und seiner Frau Anka Muhlstein verfassten Prosasammlung Unser Venedig bezeugt diese Tradition zugleich aus Leser- und Autorperspektive: Hier treten Schriftsteller in einen vielstimmigen Dialog über einen Ort, der selbst der Zeit enthoben scheint und seit Jahrhunderten Gesprächsstoff liefert.

Es ist also weder leicht, den Überblick über die Inselstadt selbst noch über das Schreiben über sie zu behalten. Die Literatur ahmt in ihrer Vielfalt das Labyrinthische Venedigs nach. Einen roten Faden bieten jedoch die Klassiker der Venedig-Literatur, wie Henry James‘ Essays oder Ruskins umfassende Studie Die Steine von Venedig, die neu aufgelegt wurden. So begleitet beispielweise Hanns-Josef Ortheil Henry James in einer großzügig kommentierten deutschen Neuausgabe seiner Venedig-Essays, die den Italian Hours entstammen, über ein Jahrhundert später durch Venedig. Man muss feststellen, dass James‘ glänzende Prosa und seine subtile Beobachtungsgabe nichts an Aktualität eingebüßt haben – Venedig ist wahrscheinlich auch einer der wenigen Orte Europas, der auf Grund seines spezifischen Stadtbilds zu gewissen Tageszeiten den Eindruck einer nicht völlig durchmodernisierten Stadt macht.

Das Venedig von James scheint von dem heutigen nicht so weit entfernt: Wasser und enge Gassen schlucken den Lärm, motorisierten Verkehr gibt es, von den Vaporetti, Polizei- und Rettungsbooten abgesehen, nicht. Von daher ist das Bild der Insel, das Henry James in seinen Essays entwirft, kein fremdes für heutige Leser. Zwar war seine Anreise wahrscheinlich weniger komfortabel, doch auch der heutige Besucher erkundet Venedig zu Fuß, oder wenn er das nötige Kleingeld hat, wie James empfiehlt, per Gondel. Der hübsch ausgestattete Band Henry James in Venedig präsentiert die fünf Essays des amerikanischen Autors, die nicht nur paradigmatische Kunst- und Architekturanalysen bieten, sondern den eigenen, individuellen Blick des Autors auf die Stadt und die reichhaltigen Erfahrungen, die er aus diesen verschiedenen Aufenthalten geschöpft hat, reflektierend nachvollziehen. So finden auch alltägliche Momente Eingang in die Texte, etwa die Zigarette, die der Autor in einem Moment des Erfülltseins mit Blick auf den Canal Grande raucht, oder das besondere Farbspiel des Sonnenaufgangs mit den für Venedig typischen rosafarbenen Fassaden, das sich dem Autor nachhaltig ins Gedächtnis brennt. James übt aber auch schon in den 1870er Jahren Kritik an der touristischen Ausbeutung der Stadt und dem kontinuierlichen Verfall, dem man seiner Meinung nach nicht genügend Initiative entgegensetzt. Diese Einsichten sind hochaktuell, bedenkt man, dass die UNESCO erst letztes Jahr damit gedroht hat, Venedig auf die Rote Liste der gefährdeten Welterbe-Stätten zu setzen und auch James‘ Beschreibung von San Marco als ‚Marktbude‘ hat nichts von ihrer Gültigkeit verloren.

Hanns-Josef Ortheil, der ferner mit Venedig, Eine Verführung einen eigenen, sehr persönlichen Reiseführer verfasst hat, welcher den Leser mit auf einen Spaziergang voller unterhaltsamer Anekdoten und Empfehlungen über die Insel mitnimmt, umrahmt James‘ Essays fachkundig. Der Band ist zeitgleich eine fundierte und angenehm zu lesende Einführung in Leben und Werk des Autors, die sein Interesse am Alten Europa kontextualisiert. Denn Henry James ist über weite Strecken auch Kunst- beziehungsweise Kulturwissenschaftler, der die Historizität der Inselstadt analysiert. Torcello, die Ur-Insel, wird zu einem Ort exotistischer Erfahrung: Die verfallene und wieder versumpfte Wiege Venedigs, dieser „Knochenhaufen von Vorfahren“, wird als das authentische Venedig-Erlebnis inszeniert, insofern diese nicht mehr zivilisierte Insel stellvertretend für den Wesenscharakter Venedigs als „schönste aller Mausoleen“ steht.

Dieses Interesse an Zivilisierung und Verfall ist auch der Ansatzpunkt für John Ruskins Blick auf die Inselstadt, freilich aus einer dezidiert kunstwissenschaftlichen Perspektive. Ruskin hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das zerfallende Venedig zu dokumentieren und mit Hilfe minutiöser Beschreibungen und bildlicher Darstellungen zu verewigen und auf diesem Weg der Essenz der Stadt auf die Spur zu kommen. Er wollte nicht weniger, als die Stadt Stein für Stein zu sezieren, „to eat it all up into my mind, touch by touch“. Ruskins kunsthistorische Rettung der Stadt geschieht zu einer Zeit der politischen Instabilität. Als er 1849 mit seiner Frau in Venedig ankommt, ist die Stadt nach der kurzen Zeit der unabhängigen Republik wieder von den Österreichern belagert, die Cholera grassiert und die kriegsbedingte Zerstörung sowie der schleichende Verfall des Stadtbildes sind unübersehbar. Ruskin stellt diesem Verfall seine manische Katalogisierung der Architektur entgegen, denn er sieht in der Serenissima die Geschichte der Menschheit enthalten, „not ‘in a nutshell’, but in a nautilus shell”.

In der Neuausgabe der Steine von Venedig präsentieren die Herausgeber Catharina Berents und Wolfgang Kemp eine überzeugende Textauswahl aus den drei Originalbänden, die ein Vielfaches der hier vorliegenden Seitenzahl umfassen. Ein Einführungsapparat, der sowohl Herausgeber als auch den Autor zu Wort kommen lässt, erleichtert den Einstieg in den Text. Interessanterweise bildet die Neuausgabe auch einige der Daguerreotypien ab, von denen Ruskin bei seinem Studienaufenthalt zahlreiche hat anfertigen lassen oder gar selbst angefertigt hat. Diese Bildaufnahmen galten, bis sie 2006 bei einer Auktion in England wieder entdeckt worden sind, als vermisst.

Ruskin nutzte das noch relativ junge Medium der Fotografie als Gedächtnisstütze und schätzte die genaue Abbildfähigkeit aus archivarischen Gründen. Aus heutiger Perspektive sind die Daguerreotypien insofern besonders interessant, als dass sie paradoxerweise an die von Filtern übersättigten Handyfotos, die der zeitgenössische Venedig-Tourist schießt, erinnern. Zwar ist die Patina der Instagram-Fotos digital produziert und die der Ruskin’schen Schnappschüsse real, doch scheinen die Motive unverändert. Genau das, was auf Ruskins Daguerreotypien dargestellt ist, zieht heute Millionen von Touristen an: Venedig als historischer Steinhaufen, voller Magie und Zauber, der Zeit enthoben beziehungsweise ihr im kontinuierlichen Verfall stur trotzend.

Solche Szenen wie der Canal mit seinen Palazzi, die Piazza San Marco oder die Rialtobrücke, denen sich Ruskin aus einer konservatorischen Perspektive zum Zwecke der Stildeutung widmete, laufen in ihrer ubiquitären Verbreitung mittlerweile Gefahr, Kitsch zu sein. Dass das aber nicht zwangsläufig der Fall sein muss, beweist Miroslav Saseks illustrierter Venedig-Rundgang. Ursprünglich 1961 erschienen und 2015 im Verlag Antje Kunstmann neu aufgelegt, fasziniert der Bilder-Stadtführer durch seine humorvolle Darstellung und eigenwilligen, klaren Stil. Zwar haben sich in der Zwischenzeit einige Dinge in Venedig verändert, wie die Anmerkungen im Anhang erklären, doch scheint Venedig in seiner Substanz, dem Zusammenspiel von Stein und Wasser, der Zeit weiter die Stirn zu bieten. Die reiche Tradition der Venedig-Literatur tut ihr Übriges.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Louis Begley / Anka Muhlstein: Unser Venedig.
Aus dem Amerikanischen und aus dem Französischen übersetzt von Christa Krüger und Grete Osterwald.
Mare Verlag, Hamburg 2015.
168 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482388

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Titelbild

Miroslav Sasek: Venedig.
Verlag Antje Kunstmann, München 2015.
56 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783956140327

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John Ruskin: Die Steine von Venedig.
Neu komponiert von Catharina Berents und Wolfgang Kemp.
CORSO, Hamburg 2016.
291 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783737407304

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Henry James: In Venedig. Begleitet von Hanns-Josef Ortheil.
Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2016.
200 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783871620881

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Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Venedig. Eine Verführung.
Insel Verlag, Berlin 2016.
159 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783458361824

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