Arno Schmidt als Comic-Figur

Nicolas Mahlers witzige und bitter-böse Graphic Novel zu Schmidts Roman „Schwarze Spiegel“

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Buchtitel lautet in einer offiziellen Angabe des Verlags: Arno Schmidt / Mahler: Schwarze Spiegel. Der Titel auf dem Buchcover ist präziser: Arno Schmidt / gezeichnet von Mahler / Schwarze Spiegel. Noch informativer und gleichzeitig etwas verwirrender ist die Überschrift im Buchinnern: Arno Schmidt / in / Schwarze Spiegel / gezeichnet / von / Mahler. Auffällig dabei ist das Wörtchen „in“; aber es ist korrekt. Tatsächlich kommt der Autor in Mahlers Zeichnungen vor. Man kann seinen Kopf, auch sein markantes Gesicht, wie man es von Fotografien her im Gedächtnis hat, auf vielen Comic-Bildern erkennen. Arno Schmidt ist zu einer der Figuren in der Graphic Novel geworden. Das ist mehr als nur ein witziger Einfall des Zeichners Nicolas Mahler. Er führt mitten hinein in das Buch Schwarze Spiegel. Denn es macht Sinn, den Autor Arno Schmidt mit dem Ich-Erzähler im Roman gleichzusetzen.

Schwarze Spiegel wurde erstmals 1951 zusammen mit Brand’s Haide veröffentlicht und zwölf Jahre später, 1963, in der Trilogie Nobodaddy’s Kinder neu vorgelegt; da erweitert um den Roman Aus dem Leben eines Fauns. Diese Trilogie, der Roman Die Umsiedler, die berühmt-berüchtigte, wunderbare Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas, das Buch Das steinerne Herz und Arno Schmidts düsterer, packender Erstling Leviathan gehören zu den bedeutendsten Veröffentlichungen in den fünfzehn Jahren nach 1945. Sie handeln vom Leid und von der Not der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsjahre und von der seltsamen, mit viel Biederkeit und Bigotterie belasteten Aufbruchstimmung in der Adenauerzeit. Die Romane von Schmidt haben im wahrsten Sinn des Wortes literarische Nachkriegsgeschichte geschrieben.

Der Autor beansprucht mit seiner ersten Veröffentlichung bereits im Jahr 1949, mit Leviathan, eine Ausnahmestellung innerhalb der bundesrepublikanischen Literaturwelt. Sie zeigt sich nicht nur darin, worüber er schreibt, sondern vor allem auch in seiner Sprache. Von Anfang an schlägt er mit seinen Texten radikal-neue formale und sprachliche Wege ein, experimentiert mit Worten und Sätzen, benutzt dialekt- und umgangssprachliche, auch fremdsprachliche Ausdrücke und verändert immer wieder die Satzstrukturen und die Satzzeichen. Damit setzt er sich scharf von anderen deutschsprachigen Schriftstellern der damaligen Zeit ab. Er „erfindet“ und wählt eine Erzählform, die ohne eine streng fortlaufende Geschichte im traditionellen Erzählstil auskommt, die erzählerische Einschübe kennt, innere Monologe und Handlungssprünge und bestimmte Wörter oder Satzteile herausstellt, die wie Stichworte aufgegriffen und umschrieben werden. Diese Schreibweise wird auch als Snapshot-Methode bezeichnet.

Es gibt, wenn man von James Joyce’ Ulysses absieht, keine literarischen Vorbilder, an die der Autor anknüpft. Offensichtlich hat er als einer der wenigen Literaten der Nachkriegszeit gespürt, dass, um über die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und dessen Folgen für die Menschen überhaupt schreiben zu können, eine andere Literatur mit anderen Ausdrucksmitteln notwenig war.

Dieses andere Schreiben deutet sich in seiner frühesten Erzählung, in Leviathan oder Die Beste der Welten, bereits an, entfaltet sich dann in den Romanen der Nobodaddy’s-Kinder-Trilogie, die zwischen 1951 und 1953 entstanden, und wird später, z. B. in KAFF auch Mare Crisium (1960), zu noch extremeren Formen weiterentwickelt, um schließlich 1970 in dem gewichtigsten Werk des Autors, in Zettels Traum, einen Höhepunkt und Abschluss zu finden.

Das andere auffällige Moment in Schmidts frühen Texten, eigentlich auch in allen späteren Veröffentlichungen, ist seine „Präsenz als Autor“ in Form ständiger bissiger Kommentierungen, sarkastischer Einfügungen und bitter-böser Zusätze in Klammern. Man darf gerade auch von daher den Ich-Sprecher in den Romanen, Kurzromanen und Erzählungen mit dem Autor Arno Schmidt in manchem, vielleicht in vielem gleichsetzen. So spielt beispielsweise die Handlung mehrerer seiner Bücher in der Celler Gegend, in einer Landschaft, die Schmidt besonders am Herzen lag und in der er später (ab 1958) im kleinen Dörfchen Bargfeld mit seiner Frau Alice zusammen ein Haus erstand, das er bis zu seinem Tod 1979 bewohnte. Nicht zufällig ist der Ich-Erzähler in Brand’s Haide ein Schriftsteller mit Namen Schmidt. Und in dem Roman Schwarze Spiegel – das führt zurück zu Mahlers Graphic Novel-Adaption des Buches – entdeckt und beschreibt der Ich-Erzähler in einem verfallenen Haus einen Raum, der wohl einmal das karg ausgestattete Arbeitszimmer eines Schriftstellers war:

armselige Einrichtung: ein Bett mit Bretterboden, ohne Kissen und Federbetten, bloß 5 Decken. Ein zerwetzter Schreibtisch, darauf zwanzig zusammengelaufene Bücher in Wellpappkartons als Regälchen; ein zersprungener winziger Herd (na, der hat das große nasse Loch auch nicht erheizen können!), ich tippte ihm anerkennend aufs geborstene Eisen, und sah mich mürrisch um. Papier in den Schüben; Manuskripte; […] ergo ein literarischer Hungerleider, Schmidt hatte er sich geschimpft. Allerdings lange Knochen: mußte mindestens seine 6 Fuß gehabt haben. Das ist also das Leben. Ich salutierte den beinernen Poeten mit der Flasche (den Schädel müßte man mitnehmen und bei sich aufstellen; […]

Mahler setzt diese Szene aus Schwarze Spiegel kongenial in seinen Graphic Novel-Stil um: In einem rechteckigen Strich-Kasten, der die gute Hälfte des Blattes füllt, sind ein Schreibtisch zu sehen mit Büchern darüber, ein Stuhl davor, darauf und auf dem Tisch liegend ein Skelett, halb-bedeckt von so etwas wie Kleidung, alles in dunkelvioletter Farbe, alles wie hingekritzelt. Am Boden Schnapsflaschen und Papierblätter. Innerhalb des viereckigen Strich-Kastens die Sätze: „Ich salutierte den beinernen Poeten mit der Flasche“ und „Ein literarischer Hungerleider, Schmidt hatte er sich geschimpft“. Außerhalb noch einmal zwei Sätze: unterhalb der Zeichnung: „(den Schädel müßte man mitnehmen und bei sich aufstellen)“; rechts daneben: „‚Leser‘?? — Nee!! Sowas kenn ich nicht.“

Mahler trifft mit seinen skizzenhaften, cartoon-ähnlichen Bildern genau den lakonischen, völlig emotionslosen, „coolen“ Ton der Schmidt’schen Textvorlage. Dass er alle seine Zeichnungen und Illustrationen in solche „Strichkästen“ setzt und den Text dazu meist außerhalb unterbringt, ist eine geniale Art, die Schmidt’sche Schreibweise der „sprachlichen Schnappschüsse“ zeichnerisch zu erfassen. Wie im Originaltext die Sätze „für sich“ stehen und sich einer fortlaufend sich entwickelnden Geschichte entgegenstellen, macht auch Mahler klar, dass zwar alle Zeichnungen zusammen die Handlung der Romanvorlage wiedergeben, aber zunächst einmal für sich betrachtet und gelesen werden wollen. Mahler bleibt – das Beispiel des Schmidt’schen Skeletts verdeutlicht es – so eng wie notwendig am Original, entfernt sich aber gelegentlich auch souverän davon.

Vor allem natürlich musste er aus einer Fülle von Textmaterial der Schmidt’schen Vorlage auswählen. Er konnte nur einen kleinen Teil übernehmen. Aber die Auswahl stimmt. Wichtige Teile und wichtige Sätze, die man als Leser (fast) erwartet, sind berücksichtigt und andere Sätze, die beim Lesen des Originals vielleicht untergehen, erlangen bei Mahler eine neue überraschende Bedeutung. Er scheut darüber hinaus nicht davor zurück, Textteile des Originals umzustellen, neu zusammenzubauen, auch aus anderen Büchern von Schmidt Sätze zu übernehmen. Ihm gelingt etwas, was große Kunst ist: Er bleibt an der Vorlage, aber „schreibt“ doch ein eigenes Buch mit dem Titel Schwarze Spiegel.

Die eigentliche erstaunliche Leistung von Mahler liegt natürlich in seinen Illustrationen und Bildern, alle in einer violett-schwarzen Farbe. Seine „minimalistischen“ Zeichnungen, die andeuten, verzerren, witzig sind, grotesk, die Phantasie der Leser und Betrachter anregen, Assoziationen wecken und Querverbindungen innerhalb des Buches ermöglichen, kreisen um eine kleine, eher kümmerliche Figur mit einem unverkennbaren Arno Schmidt-Kopf. Sie ist der Erzähler der Geschichte, die Schmidt, als er sie 1951 veröffentlichte, in die Jahre 1960 und 1962 verlegte.

Die Geschichte hat es in sich, eine Zukunftsgeschichte, die damals, in den 1950er Jahren, als schlimmste Möglichkeit des immer brenzligeren Ost-West-Konflikts nicht so weit hergeholt erschien. Mitteleuropa, vielleicht große Teile der Kontinente, vielleicht die ganze Erde sind – so der Hintergrund der Romanhandlung – durch einen Krieg – „Atombomben und Bakterien hatten ganze Arbeit geleistet“ – verwüstet; die menschliche Rasse ist so gut wie ausgelöscht. Einige wenige Menschen sind übrig geblieben und irren seit „fünf Jahren“, wie es heißt, einsam in der Wüstenei umher. Der Erzähler ist einer von ihnen.

Er kommt mit seinem Fahrrad in ein Dorf südlich von Hamburg, beschließt dort für einige Zeit zu bleiben, da er in diesem Ort noch Essbares findet, auch Werkzeuge, so dass er ein notdürftiges Haus aus Stämmen und Brettern zusammenzimmern kann. Er richtet sich, so gut es geht, wohnlich ein, holt zum Beispiel aus der nahen Stadt Hamburg noch brauchbare Bücher, darunter – natürlich, möchte der Arno Schmidt-Leser sagen – Werke von James Fenimore Cooper und Bilder des Lieblingsmalers A. Paul Weber.

Zwei Jahre vergehen. Da tritt ein unvorhergesehenes Ereignis ein, das alles zu verändern scheint: Ein zweiter Überlebender, eine Frau, taucht auf, wie der Erzähler auf einem Fahrrad allein in der riesigen Ödnis der einstigen Dörfer und Städte unterwegs. Lisa, so ihr Name, ist eine von Arno Schmidts starken Frauenfiguren, selbstsicher und mutig auch in schwierigen Situationen und unabhängig, ebenbürtig jedem Mann. Sie gehört in die Reihe beeindruckender Romanfrauen bei Schmidt wie einer Katrin aus den Umsiedlern, einer Anne in Leviathan, einer Frieda und Line in Das steinerne Herz und – die Beispiele mögen genügen, sie ließen sich leicht erweitern – der erst achtzehnjährigen Käthe im Roman Aus dem Leben eines Fauns.

Das erste Treffen zwischen dem Erzähler und Lisa endet fast in einer Schießerei. Aber dann folgen ein „Waffenstillstand“, eine überaus rührende Liebesgeschichte und, auch das kennen Arno Schmidts Leser, ein typisches Schmidt’sches Ende der Romanze: Lisa eröffnet ihm nach einer kurzen Zeit des Miteinander, dass sie ihn verlassen werde. Damit hat er nicht gerechnet. Er bittet sie zu bleiben; sie sagt nein und macht sich fertig, mit ihrem Fahrrad weiterzufahren. Sie fragt ihn aber noch nach Streichhölzern; er geht ins Haus, um ein Päckchen zu suchen. Als er wieder nach draußen kommt, ist Lisa verschwunden. Es folgt ein lapidarer Satz, der an ähnliche Schlüsse in anderen Büchern von Arno Schmidt erinnert:

Noch einmal den Kopf hoch: da stand er [der Mond, d. Verf.] grün in hellroten Morgenwolken. Reif in Wiesenstücken. Auch Wind kam auf. Wind.

Die große Veränderung zwischen der Graphic Novel und der Romanvorlage besteht darin, dass Mahler dem Schmidt’schen Erzähler jeden Anflug eines heroischen Verhaltens nimmt. Bei Arno Schmidt ist das durchaus in der lakonischen Haltung des Erzählers angelegt. Er erscheint nicht als Opfer, sondern als einer, der mit seinem Sarkasmus und einer gewissen elitären Überheblichkeit die Situation des „letzten Menschen“ zu „genießen“ scheint. Es heißt da beispielsweise:„bloß gut, dass Alles ein Ende hat“ oder „Und ich war erst Anfang Vierzig; wenn Alles gut ging, konnte ich noch lange über die menschenleere Erde schweifen: ich brauchte Niemanden!“ Es gibt viele solcher Stellen in dem Roman, außerdem lange Abhandlungen über das Ende der Menschheit und die „guten Gründe“ dafür. Der Erzähler nimmt im Roman Züge eines Hemingway’schen „Macho-Helden“ an. Und ein Satz wie der folgende könnte aus einer Erzählung des großen amerikanischen Schriftstellers stammen:

Unermüdlich kamen sie: Tag und Nacht. Einmal würde ich keuchend irgendwo liegen (hoffentlich gings schnell; und ein Schuss als Freikarte ins Blaue mußte immer im Colt bleiben).

Erträglich gemacht werden solche und ähnliche Sätze in Schwarze Spiegel durch die sarkastischen Bemerkungen des Erzählers, seine Selbstironie und manchmal augenzwinkernde „coolness“ in so vielen Passagen.

Mahlers Zeichnungen unterlaufen solche heroischen Anwandlungen des Helden im Arno Schmidt-Text durch einen einfachen, aber wirkungsvollen Trick: Er kreiert einen Erzähler als eine kleine Witzfigur, ein Strich-Männchen. Damit holt er ihn herunter auf eine Ebene, die seine Erbärmlichkeit und „Kleinheit“ nicht nur nicht verhüllt, sondern – im Gegenteil – demonstrativ ausstellt und zeigt.

Erst dadurch gewinnt das Ganze eine überraschende Tiefendimension. Der kleine Mensch rackert sich ab in einer Umgebung, die längst mehr oder weniger in Schutt und Asche liegt, längst nicht mehr lebenswert ist. Aber er gibt nicht auf: Er setzt dem Weltuntergang noch sein „Trotzdem“ entgegen und erreicht gerade dadurch Größe, eine lächerliche Größe, die den Betrachter und Leser der Graphic Novel nicht zum Lachen bringt, vielleicht zum Schmunzeln, ihm manchmal den Atem verschlägt, den Leser zu einem nachdenklichen Grübeln mit dunklen Gedanken bringt.

Verstärkt wird das durch die auffällige „Leere“ vieler Zeichnungen, die den Betrachter zu eigenen Bildern anregt und ihn auf wunderliche Weise beunruhigt. Das kleine Haus und die kleine Figur in vielen Strichkästen sind der „weißen Leere“ regelrecht „ausgesetzt“, werden dadurch noch winziger, werden regelrecht verdrängt und erdrückt. Einzelne Bilder haben eine starke Wirkung; der Text ist dabei fast Nebensache.

Die Schlussbilder zeigen das eindrucksvoll. Es ist die Szene, in der der „letzte Mensch“, wie er sich einmal selbst nennt, von dem anderen „letzten Menschen“, der Frau, wieder verlassen wird. Mahler entwirft dazu fünf Bilder, die sich jeweils auf einen kleinen Teil des Schlusssatzes beziehen. Auf den Zeichnungen ist immer weniger zu sehen, so als verschwinde der „letzte Mensch“ langsam in einem Nirgendwo oder einem Nichts, als entferne sich eine Kamera von ihrem Objekt und verliere es langsam aus den Augen. Das letzte Bild zeigt dann in der Tat nichts als eine Wolke – oder ist es ein in der Luft schwebender Mensch? – und ein winziges Häuschen in weiter Ferne. In der unteren rechten Bildecke erscheint ein Wort: „Wind“. Nur einmal vorher, ganz vorn auf den ersten Seiten des Buches, steht schon einmal ein Wort in der unteren rechten Bildecke: das Wort „Ende“. Der Text dort lautet:

Bloß gut, daß Alles zu Ende war; und ich spuckte aus:

So verweist der Schluss der Mahler’schen Graphic Novel zurück auf ihren Anfang: Alles ist zu Ende. Nichts bleibt als der Wind und vielleicht irgendwo ein kleines Männchen mit einem Arno Schmidt-Kopf: eine gruselig-groteske Vorstellung. Überall scheinen schwarze Spiegel zu stehen, in denen nichts zu sehen ist, absolut nichts. Die Arno Schmidt-Welt ist öd und leer.

Schmidts Roman – das beweisen Nicolas Mahlers Zeichnungen – hat nichts von seiner ehemaligen Brisanz eingebüßt. Die zeichnerische „Nachdichtung“ des Comic-Künstlers siebzig Jahre später ist dem Original ebenbürtig und macht das Buch Schwarze Spiegel aufregend neu und zeitgemäß.

Titelbild

Nicolas Mahler / Arno Schmidt: Schwarze Spiegel.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
140 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225288

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