Pflichtlektüre für Fleischesser

Friederike Schmitz ebnet in „Tiere essen – dürfen wir das?“ den argumentativen Weg in die Agrar- und Ernährungswende

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dürfen wir Tiere essen? Wenigstens die „glücklichen“? Und was ist eigentlich mit Insekten? Vielleicht geht es bei diesen Fragen ausnahmsweise nicht um uns, nicht um die klügsten Begriffe, nicht um den intellektuellsten Duktus, nicht um irgendeinen ausgefeilten hypothetischen Sonderfall, nicht um ein hochphilosophisches Gedankenexperiment – sondern tatsächlich einmal um die Tiere. Deshalb kommt die Philosophin Friederike Schmitz in ihrem neuen Buch gleich anfangs zur Sache und fragt danach, wie es denn eigentlich um die Lebewesen in der Nutztierhaltung und Fischerei bestellt sei: Über wen und was sprechen wir eigentlich, wenn wir über Tiere und deren Haltung diskutieren? Um diese Frage zu klären, folgt nach einer kurzen Auslotung des kleinstmöglichen moralischen Konsenses zu diesem Thema – etwa: unnötiges Leid sollte nach Möglichkeit vermieden werden – und der Einführung in die Fragestellung eine sachliche, detailgetreue Beschreibung konventioneller und vermeintlich ökologischer Nutztierhaltungsformen verschiedener Tiere.

Die abstrakte und grundsätzliche Frage, ob Tiere Rechte haben und ob man sie also überhaupt für den Verzehr züchten und töten darf oder nicht, ist offensichtlich nicht Thema des Buches. Vielmehr geht es um praktische philosophische Fragen. Da die Autorin also nicht von kontroversen philosophischen Thesen ausgeht, sondern von einem minimalen moralischen Konsens bei der tierethischen Bewertung der beschriebenen Praktiken, ist der Einstieg in ihre Ausführungen unbeschwert: Wenn wir uns fast alle einig sind, dass Tiere nicht unnötig leiden sollten, welche Argumente kann man dann wirklich noch für ihre Nutzung und Konsumption hervorbringen? Schmitz entkräftet so einige von ihnen – unsentimental, ehrlich und faktenbasiert. Ihr geht es letztlich nicht rechthaberisch um das Für und Wider des Tierkonsums, sondern um eine nüchterne Einsicht in die Realität der Nutztierhaltung, die bereits für sich spricht.

Philosophie findet nicht im luftleeren Raum, nicht im bombenfest verriegelten Elfenbeinturm statt, sondern darf und kann sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus anderen Disziplinen berufen und so Rückschlüsse auf die Einordnung philosophischer Fragen ziehen. So etwa wird gleich zu Beginn des Buchs der nahezu kulturübergreifende, tiefsitzende Irrglaube zurückgewiesen, eine gesunde Ernährung käme nicht ohne Tierprodukte aus. Dieser Einwand ist so relevant, weil die Diskussion um Fleischkonsum eine andere wäre, wenn man Fleisch wirklich bräuchte.

Schmitz sammelt die Erkenntnisse verschiedener agrar- und ernährungswissenschaftlicher Beiträge aus den letzten Jahrzehnten und präsentiert die wichtigsten Faktoren zur Bewertung der Problematik. Das Ergebnis: Eine kostengünstige, genussvolle und vollwertige, rein pflanzliche Ernährung ist durchaus zu bewältigen, kann Menschen vor den häufigsten Zivilisationskrankheiten bewahren, bestenfalls eine ganze ausbeuterische Industrie boykottieren, zu alledem auch noch zu einer Erholung und Erhaltung der Ökosysteme beitragen und könnte, von deutlich mehr Menschen umgesetzt, späteren Generationen einen lebenswerten Planeten hinterlassen, was wiederum mehr Gesundheit bedeutet. Unter anderem beruft sich Schmitz bei ihren ernährungsbezogenen Ausführungen auf den aktuellen, größtmöglichen Konsens in den Ernährungswissenschaften, der sich auch in den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung spiegelt. Mit anderen Worten: Tierkonsum ist – vor allem in Industrienationen, die sich regionale, saisonale und damit nachhaltige pflanzliche Alternativen leisten können – aus gesundheitlicher Perspektive in keiner Lebensphase notwendig.

Elegant entfaltet sie dabei auch die ökologischen Zusammenhänge und verweist auf die notwendigen Quellen, deren Ablehnung hieße, Fakten zu bestreiten. Alle relevanten Zahlen und Daten zum aktuellen Stand hinsichtlich landwirtschaftlicher Nutzungsflächen, schädlicher Treibhausgase und ökologischer Konsequenzen liefert die Autorin. Die Quintessenz: Ist Tierkonsum gesundheitlich zumindest obsolet, so ist er ökologisch betrachtet sogar ein Desaster. Doch immer noch wissen nur die wenigsten Menschen, weshalb der Amazonas eigentlich brennt – wir essen ihn. Nur selten assoziieren wir verschmutzte Gewässer, vergiftete Böden, Raubbau, multiresistente Keime, Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Herzerkrankungen und Diabetes, den Klimawandel, die Ausbeutung von Niedriglöhnern oder Ressourcenverschwendung mit unserem Mittagessen. Und wenn, dann sagen wir uns, dass das Tier wenigstens, wenn schon kein gutes Leben, dann immerhin eines hatte. Schwach, urteilt Schmitz zu Recht angesichts des Daseins, das diese Wesen fristen müssen.

Verharrt man einen Moment bei der Idee des guten (Tier-)Lebens, stellt sich eine weitere Frage: Ist es denn tatsächlich besser, Tiere aus sogenannter ökologischer Nutztierhaltung zu konsumieren? Bekanntermaßen geben immerhin nahezu alle Fleischessern an, nur beim Metzger des Vertrauens zu kaufen, der seine grasgefütterten Tiere nach einem Leben in Glück und Freiheit totkuschelt, während gleichzeitig über 99 % aller konsumierten Tierprodukte deutschlandweit aus der Massentierhaltung stammen. „Bio“ sollte doch heißen, dass die Tiere unter freiem Himmel ein artgerechtes Dasein führen. Solch beschönigende Mythen um die Bio-Tierhaltung widerlegt die Autorin minutiös und auf wissenschaftlicher Grundlage, ohne die Argumente der Gegenseite zu belächeln: Durchaus kann es einzelne pflanzliche Produkte geben, die sowohl auf gesundheitlicher, ökologischer als auch auf tierethischer Ebene schlechter abschneiden als ein Tierprodukt. Das bilde allerdings die Ausnahme und insgesamt schneide eine ausgewogene, nachhaltige pflanzliche Ernährung deutlich besser ab als eine, die Tierprodukte enthalte.

Alle essbaren Produkte befinden sich hinsichtlich ihrer Produktionsbedingungen auf einem Kontinuum der Vertretbarkeit, absolut „richtig“ und „falsch“ gibt es nicht. Doch der von schuldgeplagten Fleischessern gern bemühte Strohmann-Veganer, der nur Avocados und Fertigprodukte isst, existiert nicht, und tendenziell scheint eine pflanzliche Ernährungsweise aus allen genannten Gründen die moralisch vertretbarere zu sein.

Ein besonderer Fokus des Buches liegt indirekt auf der soziopolitischen Bedeutung der Frage, ob man Tiere essen darf. Denn Veganismus ist keine Diät. Wer vegan lebt, lehnt üblicherweise nicht Kalorien ab, sondern unnötige Gewalt gegen Tiere und ihre Konsequenzen für Mensch und Umwelt. Um das zu verdeutlichen, erläutert Schmitz unter anderem die konkreten standardisierten, legalen Praktiken in Mastanlagen und Schlachthöfen. Die alltägliche Realität der Nutztierhaltung wirkt, selbst möglichst neutral und emotional distanziert beschrieben, wie einem Splatterfilm entnommen: Auch die meisten „Bio“-Tiere sind hochgezüchtete Individuen, die von ihren Familien getrennt, von ihren Haltern zur besseren Nutzung verstümmelt, auf engstem Raum gehalten und schließlich jung geschlachtet werden – und zwischendrin ein Leben führen, das alles andere als artgerecht ist. Sie sind dabei struktureller Gewalt und Aggression von menschlicher Seite schutzlos und ohne Fluchtmöglichkeit ausgesetzt. Berichte ehemaliger Metzger belegen bereits, dass neben den legalen Praktiken in der Tierhaltung auch mutwillige, beliebige Misshandlungen gegenüber Tieren an der Tagesordnung sind.

Da diese Zustände von außen schwer einzudämmen sind und das Tierprodukt auf dem Teller keinerlei Informationen über das vorherige Leben bereitstellt, ist die Behauptung, man „wisse“, woher man sein Fleisch beziehe, zweifelhaft. Kein Label, keine Initiative und kein blumiger Begriff auf der Verpackung gibt tatsächlich wieder, was im Einzelnen in der Tierindustrie mit den Körpern empfindungsfähiger Wesen passiert. Das zu akzeptieren, fällt den meisten Menschen schwer, weil kaum jemand wirklich möchte, dass Tiere für unseren Konsum leiden.

Fein unterscheidet Schmitz auch zwischen utilitaristischen, politischen und deontologischen Perspektiven. Die von Schmitz dargestellte vierte Perspektive, eine Ethik der Sensibilität, die verschiedene tierethische Ansätze zusammenfasst, fokussiert sich nicht auf ein bloßes Mitleiden mit den Tieren, sondern auf eine begründete, sensitive Einstellung gegenüber den Empfindungen anderer Lebewesen – und den eigenen. Nicht die Anwendung starrer moralischer Prinzipien steht dabei im Vordergrund, sondern die Überprüfung der eigenen Empfindungen auf Angemessenheit. Schmitz appelliert an einen gesunden Menschenverstand, ein offenes Herz und ernsthafte, selbstkritische Reflexion bei der tierethischen Bewertung bestimmter Praktiken, die sich nicht an anthropozentrischen Ideologien festklammert, sondern möglichst unvoreingenommen und mutig bewertet, was in diesen Ställen passiert. Wer realisiere, was in der Tierindustrie wirklich geschieht, könne, so Schmitz, eigentlich nicht zu dem Schluss kommen, dass das moralisch vertretbar sei. Sobald man Tiere als Individuen mit Charaktereigenschaften und Empfindungen erstnehme, sei es üblicherweise schwieriger, sie als essbare Produkte zu behandeln.

Dieser kognitive Wechsel ist nicht einfach für Personen, die moralische Urteile als Aufgabe der Ratio allein betrachten, doch es ist der Wechsel, den Schmitz mit ihrem Buch anstrebt. Denn darüber, „was moralische Richtigkeit ausmacht, wie sie begründet wird und was zur ethischen Reflexion dazugehört“, ist man sich leider bis heute nicht einig. Mit dieser Uneinigkeit geht Schmitz intelligent um: Aus jedem der vier theoretischen Lager zieht sie allgemeinverständliche, positive Schlüsse. Diese spielen die verschiedenen Argumente nicht gegeneinander aus, sondern werden produktiv auf die Frage des Buches angewendet. Ein Ergebnis dieser Anwendung im Abgleich mit den tatsächlichen Bedingungen in der Tierindustrie ist unter anderem, dass die realitätsferne Annahme „glücklicher Nutztiere“ und „leidfreier Tiernutzung“ sich immer wieder in die Argumente jener mischt, die Fleischkonsum befürworten – was die Debatte verfälscht und das Problem verschlimmert. Denn akzeptiert man diese bukolischen Vorstellungen widerstandslos, so generiert man damit nicht eigentlich politische Übergangslösungen mit dem Ziel, Tiere zu schützen, sondern zementiert den Status Quo. Schmitz schlägt vor, die Abwertung und Beherrschung tierlicher Subjekte grundsätzlich zu hinterfragen und die ideologischen Implikationen auch im persönlichen und politischen Handeln zu reflektieren.

Ein sozialphilosophisch nicht zu unterschätzendes Argument der Autorin ist beispielsweise auch, dass der Konsum von Tierprodukten nicht nur praktisch Geld in eine Industrie fließen lässt, die Tieren systematisch Leid zufügt, sondern dass bereits der Kauf eines Tierproduktes die Gewalt gegen Tiere auf sozialer Ebene normalisiert und damit sogar indirekt dazu beiträgt, das bestehende System normativ zu erhalten. So sei, argumentiert Schmitz, allein die Tatsache, dass ein Einzelner noch nichts gegen das tierausbeuterische System verrichten könne, kein solides Argument für Fleischkonsum. Denn die moralische Einstellung, Tieren kein Leid durch den Konsum ihrer Körperteile zuzufügen, wird nicht nur in direkter Abstimmung mit den Konsequenzen des eigenen Handelns kultiviert, sondern von Schmitz auch in ihrem sozialen Zusammenhang evaluiert: Wer Tierprodukte kauft und isst, und sei es nur „ganz selten“, der signalisiert allen anderen, dass das, was momentan in der Tierhaltung passiert, prinzipiell in Ordnung ist und sogar unterstützt werden sollte.

Die Philosophin macht jedoch auch deutlich: Sogenannte „Nutztiere“, die heute unter den Bedingungen und Konsequenzen des tierindustriellen Komplexes leiden müssen, haben eigentlich keine Zeit für Menschen, die sich in aller Ruhe über die Feinheiten tierethischer Argumente erst noch streiten müssen, bevor sie – eventuell und auch nur, wenn es köstliche, bequeme, günstige Alternativen gibt – Tierprodukte vom Menü streichen. Die konkrete Situation der Tiere wird allzu oft in Diskussionen ausgeklammert. Wer erst noch die absolute, überzeitlich geltende Definition eines politischen Wesens braucht, bevor er Kälbern zugesteht, dass ein Bolzenschuss in den Kopf ein wenig brutal ist, könnte vielleicht auch von dem vollständigsten, aufwendigsten Argument nicht überzeugt werden, vegan zu leben. An Schmitz’ Texten lässt sich wunderbar beobachten, wie zerrissen Tierphilosoph*innen heutzutage zwischen ihrer erstaunlichen Geduld mit den Lesenden und dem omnipräsenten Tierleid sind, mit dem sie sich beschäftigen. Hinzu kommt der zeitliche Druck durch die ökologische Krise – wie viele Menschen lassen sich wie schnell von Argumenten überzeugen, bevor sie einen der Haupterzeuger des Klimawandels, die Tierindustrie, boykottieren?

Ob Boykott sinnvoll sein mag oder nicht, stattfinden wird oder nicht: Aufbauend auf ihrer Argumentation plädiert die Philosophin am Ende für eine Agrar- und Ernährungswende. Diese Wende scheint angesichts derzeitiger politischer Verhältnisse jedoch noch nicht absehbar, bedenkt man, dass der Deutsche Bauernverband e.V. eine der einflussreichsten Lobbyorganisationen Deutschlands ist und dass die Mehrheit der CDU/CSU-Vertreter im Bundestagsausschuss Ernährung und Landwirtschaft tatsächlich aus der Branche kommt oder mit ihr zu tun hat. Wie also kann man einen echten, effizienten und radikalen Strukturwandel, aus dem alle möglichst unbeschadet herauskommen, begünstigen, wenn sich politisch nichts tut? Schmitz vertritt die Position, dass Protest und Widerstand gegen diese Zustände unabdingbar sind – gepaart mit individuellen Verhaltensänderungen, die diesen oppositionellen Impetus unterstreichen und zeigen, dass Strukturwandel möglich und von der Bevölkerung gewollt ist. Längst wurde in der Agrarwissenschaft dargelegt, wie ein solcher Strukturwandel aussehen und sozial gerecht umgesetzt werden könnte und was seine ökologischen Vorteile wären. Individueller Konsum und gesellschaftliche Verhältnisse bedingen einander, und in beiderlei Hinsicht tragen wir, so Schmitz, Verantwortung.

Neben seiner agrarpolitischen und konsumtheoretischen Relevanz ist Tiere essen – dürfen wir das? auch eine notwendige, fast absehbare Reaktion auf die aktuelle missliche Lage der öffentlichen Diskussion um Tierschutz- und -rechte. Denn ein Streitgespräch mit jemandem zu führen, der noch Tiere konsumiert, kann sich für vegan lebende Menschen oftmals als eine lange Fahrt in ein tiefes Tal intellektueller Enttäuschungen darstellen: Plötzlich sind Menschen Löwen, Mastschweine leben auf einsamen Inseln, jemanden zu essen ist ein Zeichen von tiefem Respekt, Kühe „geben“ einfach so Milch und Elektrozäune sind die idealen Bedingungen für artgerechte Haltung.

Auch für noch so intelligente Menschen ist es oft schwierig, die historische Entwicklung und Komplexität tierethischer Argumente unmittelbar zu erfassen. Abhilfe kann dieses Buch schaffen. 100 Seiten lesen sich an einem Sonntag. Souverän, geduldig, belesen, sachlich und respektvoll geht Friederike Schmitz mit möglichen Einwänden gegen eine vegane Ernährung um und lässt nichts gelten, was jeglicher Nachvollziehbarkeit entbehrt. Die Autorin vertritt eine radikale Außenseiterposition in der Debatte, die jedoch immer mehr zum Mainstream werden könnte. Daher ist das Buch ein Must-Read für jede Person, die glaubt, noch eine funktionierende Rechtfertigung für den eigenen Konsum tierlicher Produkte zu haben. Schmitz ist eine Meisterin der unprätentiösen, doch sauberen Argumentation, eine minimalistische Wortkünstlerin, die ihre Ausführungen auf ein absolut notwendiges, allgemein verständliches Minimum reduziert, ohne dabei die Komplexität der Gedanken zu schmälern. Kurz: Wer Schmitz nicht versteht, will sie nicht verstehen.

Titelbild

Friederike Schmitz: Tiere essen – dürfen wir das?
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2020.
XV, 95 Seiten in 1 Teil , 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783476056559

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