Zwischen dem, was sein müsste, und dem, was ist

Julia Schoch befragt in ihrem Roman „Schöne Seelen und Komplizen“ unsere Gegenwart danach, was in ihr noch von den Träumen, Hoffnungen und Wünschen der Vergangenheit lebendig ist

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Julia Schoch hat ihren vierten und bislang umfangreichsten Roman Schöne Seelen und Komplizen in zwei Teile untergliedert. Teil 1 spielt zwischen 1989 und 1992, Teil 2, der mit „Heute“ überschrieben ist, cirka 25 Jahre später. Die Helden des Buchs sind 16 Männer und Frauen, die im ersten Teil als Jugendliche von der neunten bis zur Abschlussklasse eines Potsdamer Elite-Gymnasiums begleitet werden. Der zweite Romanteil stellt sie dem Leser dann als jene vor, die sie ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Verlassen des Gymnasiums geworden sind. Erzählt wird jeweils aus den Ich-Perspektiven der einzelnen Figuren, sodass sich eine Stimmencollage ergibt, deren zahlreiche inhaltliche Überlappungen Handlungsmomente erzeugen, also das genuin Romanhafte eines Textes hervorbringen, den man ansonsten auch als die Aneinanderreihung einzelner Befindlichkeitsprotokolle zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten lesen könnte.

Geschickt verflicht die Autorin die einzelnen Biografien ihrer Protagonisten, sodass der Leser schnell in das Mit- und Gegeneinander von 16 charakterlich und durch elterliche und gesellschaftliche Prägungen sich voneinander unterscheidenden Jugendlichen hineingezogen wird. Da ist Lydia, der in dem Sartre-Stück Die Fliegen (1943) jener Satz begegnet, dem Schochs Roman seinen Titel verdankt: „Ich kann nichts anfangen mit schönen Seelen: einen Komplizen wollte ich.“

Da sind Stefanie, die Naive, Ruppert, der Aufsässige, und Franziska, die allein mit sich zurechtkommen muss, seit ihre Mutter, eine Ärztin, in den Westen geflohen ist. Da sind Rebekka, die einmal Menschenrechtsanwältin werden möchte und sich in der Jungen Gemeinde engagiert, Alexander, der sich nicht aus Karrieregründen für drei Jahre zur Nationalen Volksarmee (NVA) verpflichten will, und Kati, deren Vater als Parteibonze religiöses Denken hasst und verachtet. Da sind Tomas, der von allen Mädchen Umschwärmte, Ellen, die Unangepasste, und Bodo, der als Erster aus der Klasse sterben wird und den Julia Schoch seine letzten Worte an den Leser richten lässt, als er schon tot ist. Und da ist natürlich – über all den Einzelschicksalen – die Zeit, in der diese Jugendlichen leben und die sie prägt, ganz gleich, ob ihnen das bewusst ist oder nicht.

Dass den gewaltigen Veränderungen, die im Herbst 1990 in die deutsche Wiedervereinigung mündeten, für das Leben ihrer Protagonisten eine besondere Bedeutung zukommt, macht Julia Schoch an den Auswirkungen deutlich, die der gesellschaftliche Umbruch im Leben jedes Einzelnen zeitigt. Eben noch als Schüler der Käthe-Kollwitz-Oberschule in die kleine Welt der DDR zwischen Fahnenappell und Ernteeinsatz gepresst, wird der Horizont für sie plötzlich ungeheuer weit, dürfen Träume nicht mehr nur geträumt, sondern auch in Angriff genommen werden. Als Absolventen des Luisengymnasiums, wie die Potsdamer Lehranstalt sich nach der Wende nennt, steht ihnen plötzlich die Welt offen, bieten sich Möglichkeiten, an die vor dem Fall der Mauer nicht zu denken war.

Doch nicht alle kommen mit und in der neuen Zeit zurecht. Das betrifft vor allem die Lehrer- und Elterngeneration. Diejenigen, die zu alt sind oder zu sehr am Alten mit seinen Verheißungen, die sich nie erfüllten, gehangen haben, als dass ihnen noch ein Neuanfang gelänge. Arbeitslosigkeit lähmt ganze Familien, der Unfalltod des ehemaligen Russischlehrers könnte auch ein Suizid gewesen sein, und Alexander Wagenthalers Vater, der als Künstler und im Namen der Freiheit der Kunst viele Kämpfe mit den Vertretern des alten Systems ausgefochten hat, sucht aus freiem Willen die geschlossene Psychiatrie auf, als sich bei der Einsicht seiner Stasi-Akten herausstellt, wer alles ihn über die Jahre bespitzelte und verriet.

Doch was ist aus den Schülern in der neuen Zeit geworden? Schochs Roman liefert, wenn er seinen großen Zeitsprung von 1992 bis in die unmittelbare Gegenwart hinter sich gebracht hat, eher melancholische Befunde. Zwar hat man weitestgehend die Chance genutzt, die Demokratie und Freiheit allen Absolventen des Luisengymnasiums boten. Man arbeitet inzwischen erfolgreich als Ärztin, Anwalt oder renommierter Historiker, Tourismusmanager, Verlagslektorin oder Pharmareferent. Man hat die Welt gesehen und bereist sie noch immer zwei-, dreimal im Jahr mit oder ohne eine Familie.

Etliche der einstigen  Gymnasiasten sind nach ihren Lehr- und Studienjahren nach Potsdam zurückgekommen, gar ins Lehrerkollegium ihres alten Gymnasiums hat es eine von ihnen verschlagen. Andere leben längst weit weg, ohne ihre Herkunft damit aber wirklich abschütteln zu können. Doch vom großen Glück, das nach ihrem Abgang vom Gymnasium so greifbar nahe schien, träumen die meisten immer noch. Denn ihre Ehen sind gescheitert, äußerem Aufstieg steht innere Leere gegenüber, bürgerlichem Wohlstand fehlt menschliche Essenz. Man funktioniert dort, wohin das Leben einen gespült hat, weiß, dass es nichts bringt, sein Ungenügen am Heute auf eine Herkunft zu schieben, die sich im Nachhinein nicht mehr ändern lässt, und sucht doch ständig nach Gründen, warum einem die Gegenwart als eine so „windstille […] Zeit“ erscheint.

Die poetische Idee ihres Romans hat Julia Schoch Bodo Stamm in den Mund gelegt, jenem Schüler, der als erster von den Klassenkameraden stirbt. „Der einzige Unterschied zwischen jetzt und der Zukunft ist, dass es in der Zukunft mehr Vergangenheit gibt“, weiß der schon als junger Mann. Und weiter: „Würden am heutigen Tag Beschreibungen von uns in einen Sicherheitsschrank eingeschlossen und dieser Schrank in dreißig Jahren wieder geöffnet werden, könnte Frau Schober [die Deutschlehrerin] es sehen. Sie könnte sehen, dass sich nichts geändert hat.“

Den Sicherheitsschrank aus diesem Bild hat Julia Schoch in ihrem ersten Romanteil für den Leser geöffnet. Die darauf folgende, in unserer unmittelbaren Gegenwart spielende Buchhälfte bestätigt scheinbar die Worte des jungen Mannes, denn die Lebensbilanzen der Heldinnen und Helden ihres Romans verweisen zwar oft auf äußerlichen Erfolg, der aber in vielen Fällen innere Leere, Enttäuschung und Desillusionierung kaum zu überdecken vermag. Ein paar der alten Klassenkameraden aber haben die Suche nach jenen Sartreʼschen Komplizen, die einem im Leben lieber sein sollten als noch so schöne Seelen, auch 30 Jahre nach dem Abitur nicht aufgegeben. Und begriffen, dass Freiheit und Demokratie als Voraussetzungen für Glück wohl doch nicht ganz ausreichen.

Titelbild

Julia Schoch: Schöne Seelen und Komplizen. Roman.
Piper Verlag, München 2018.
313 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783492057738

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