Kunst und die Erneuerung der Welt

Zur Ausgabe von Max Herrmann-Neißes „Kritiken und Essays“

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich erinnere mich noch gut, dass Ende der 80er Jahre bei Zweitausendeins die von Klaus Völker herausgegebene 10-bändige Werkausgabe des damals kaum mehr bekannten Max Hermann-Neiße erschien. Diese gesammelten Werke umfassen vier Gedicht-, drei Prosa- und drei Essaybände, die in je einem Band – neben eigenen Stücken – auch Schriften zum Theater, Texte zum Kabarett und zur bildenden Kunst sowie Aufsätze und Essays zu Literatur und Politik enthalten. Mit der hübschen und anspruchsvoll gestalteten Werkausgabe konnte dann auch, wie etwa der Eintrag in Killys Literaturlexikon vermerkt, eine neue Rezeption des schlesischen Schriftstellers angestoßen werden.

Max Herrmann-Neiße, eigentlich Max Herrmann, fügte erst 1917 den Namen seiner Geburtsstadt Neiße seinem Nachnamen hinzu. Herrmann, liebevoll von seinem Jugendfreund Franz Jung Macke genannt, begann noch zu Schulzeiten mit dem Schreiben und legte bereits 1906 einen ersten, noch weitgehend epigonalen Gedichtband unter dem Titel Ein kleines Leben vor. Jung berichtet in seiner Autobiographie Der Weg nach unten (auch unter dem Titel Der Torpedokäfer, 1961) davon, wie er durch den einige Jahre älteren Herrmann in den Literaturbetrieb eingeführt wurde:

Mackes Vater hatte einen Bier-Vertrieb, Vertreter verschiedener Brauereien außerhalb Schlesiens. Für seine Kunden war ein kleiner Probeausschank eingerichtet, der zugleich als Kontor diente. Außer den Bierkutschern, die mit dem Vater Herrmann abzurechnen hatten, kam kaum jemals ein Fremder dorthin. Dort trafen sich Schüler der höheren Klassen zum Kartenspiel. Am zweiten Tisch saß Macke mit seinen Freunden, zu denen ich allmählich zugezogen wurde, und ich wechselte von den Kartenspielern zu den Literaturbeflissenen hin und her.

Es folgen Hinweise auf die frühen Lektüren und Prägungen, die von dem Kritiker Alfred Kerr über die Naturalisten Holz, Schlaf und Hauptmann bis zum George-Kreis reichen. Von herausragender Bedeutung aber sind für die jugendlichen Provinzler und angehenden Schriftsteller – denn auch Franz Jung gelingt es schon früh, mit Novellen, etwa dem Trottelbuch, Anerkennung zu finden – die Kontakte zu Repräsentanten des Expressionismus mit ihren verschiedenen Zeitschriften, die ihnen Publikationsorte bieten. Auf diese Weise vermag sich Herrmann-Neiße, der trotz mäßiger Verkaufserfolge seiner Werke unter chronischen Geldsorgen gelitten hat, ein materielles Polster zu verschaffen. Nachdem er in frühen Jahren für die Provinzpresse wie die Breslauer Zeitung und das Neisser Tageblatt vorwiegend Literaturkritiken geschrieben hat, arbeitet er dann 1913 für die Neue Rundschau sowie für expressionistische Zeitschriften, in erster Reihe für Franz Pfemferts Die Aktion, mit der er bis 1927 zusammenarbeitet. Hinzu kommen noch u. a. Die weißen Blätter und Das Zeit-Echo, die er mit Kritiken und Glossen beliefert, schließlich noch der vom Schriftstellerkollegen Armin T. Wegner herausgegebene Der Osten, eine Breslauer Zeitschrift. Ergänzt werden seine vielfältigen Kritikeraktivitäten durch Kontakte zu zwei großen Tageszeitungen, dem Kölner Tageblatt und dem Berliner Börsen-Courier. Insgesamt, bemerkt die Bearbeiterin von Band 1 der neuen dreibändigen Ausgabe Kritiken und Essays,

bilden sich sein Stil als Autor und Kritiker in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander aus. Der Stil seiner Kritiken ist zudem in einem nicht unerheblichen Maße auch von den Publikationsorganen, in denen Herrmann publizierte, abhängig. Es gehörte zu einem der Erfolgsrezepte seiner Kritikertätigkeit, sich der Programmatik und dem Selbstverständnis des jeweiligen Publikationsorgans mit seinem Schreibstil und -duktus anzupassen, sodass Herrmann einen Kritikertypus repräsentiert, der unterschiedliche Stile gleichzeitig bedienen konnte.

In dieser Ausgabe, deren gerade erschienener erster Band Texte von 1909 bis 1920 enthält, werden die Texte – anders als in Völkers Edition, die die Texte inhaltlich gewichtet und entsprechend aufteilt – historisch-chronologisch präsentiert, wobei zusätzlich noch nicht nachgewiesene und unidentifizierte Drucke sowie einzelne Typoskripte und auch Handschriften mitaufgenommen worden sind. Der Feuilletonist und Kritiker Herrmann zeigt auf stupende Art seine breite und tiefe Kenntnis der aktuellen literarischen Szene – national wie international. Er rezensiert nicht nur Neuerscheinungen, sondern vermittelt zugleich immer auch grundsätzliche ästhetisch-poetologische Überzeugungen. Wie in einer Nussschale spiegeln sich seine Ansichten in der Selbstanzeige seines Gedichtbandes Empörung. Andacht. Ewigkeit von 1918 für Pfemferts Die Aktion. Herrmann spricht darin von seinem „Erlebnis der Welt“: „‚Empörung‘ wider ihre Höllen, ‚Andacht‘ vor ihren Wundern, ‚Ewigkeit‘ in der letzten Hingabe an das Göttliche über ihr.“ Ins Grundsätzliche gehend dann weiter:

Und nicht zuletzt soll meine Dichtung gehört werden als ein unverkehrbares Bekenntnis zu einer in Blut und Hirn verankerten Weltanschauung, der aller Gewalt- und Macht-Kult in jeder Form als der ewige Widersacher gilt und die sich restlos einsetzt für eine Befreitheit und Erlösung alles Irdischen, vor welcher Herrschen und Beherrschtwerden zwei gleich verwerfliche Spiegelungen ein und desselben Bösen sind.

Dieser ethisch-humanistische Impetus zeigt sich in einer Vielzahl seiner Besprechungen, und er empfiehlt dementsprechend dann auch seine literarischen Favoriten, worunter bei den Zeitgenossen Heinrich Mann und Charles Louis-Philippe, Alfred Döblin und Leonard Frank, nicht zu vergessen Franz Jung herausragen. In einem umfangreichen Essay mit dem Titel Zum Neuen Roman für das Kölner Tageblatt aus dem Jahre 1917 beschreibt Herrmann die Entwicklung dieser, wie er es nennt, „wesentlichen Gattung der Literatur“, die maßgeblich durch Flaubert (den Analytiker der „Einsamkeit“) geprägt, von Zola dann weiterentwickelt worden und endlich bei Heinrich Mann angekommen ist.

Die vorbereitende, formschaffende Einsamkeit Flauberts, die Türen öffnende, Losung gebende Aposteltätigkeit Zolas, sie schneiden sich und durchtränken sich in Heinrich Manns unantastbarer, formen- und thesenerhabener Gütigkeit, die einer belebten Brüderlichkeit aller Herzen die Voraussetzungen zum innigsten Ausgleich schafft.

„Der neue Roman“, so die Quintessenz Herrmanns – wobei es reizvoll wäre, seine Ansichten mit denen des jungen Georg Lukács aus dessen Theorie des Romans (1916/20) zu vergleichen –, „ist neue Religion, nicht gepredigte, sondern gewirkte, übers Beschauliche in die gedeihlich bewegliche Luft der Aktivität sich schwingende, ist höchste Inbrunst und höchste Demut der dichterischen Offenbarung.“ Diesseits des expressionistischen Pathos, das viele dieser frühen Texte charakterisiert, bekundet sich Herrmanns Grundüberzeugung, dass moderner Literatur egal welcher Provenienz, ob nun in Erzählform, im Drama oder in der Lyrik, eine Funktion zukommt – nämlich gegen verlogene Ideologien samt praktischer Umsetzungen wie Kapitalismus und Krieg zu streiten. Positiv ausgedrückt, heißt das für Herrmann in dem Essay von 1919 Brauchen wir heute noch Kunst?, dass Kunst zur „Erneuerung der Welt“ beitragen soll.

Kunst, die die Menschen umformen und ihre Beziehungen ins Bessere ändern will! Revolutionäre Kunst! Sie braucht durchaus nicht drastisch die revolutionäre politische Aktion zum Inhalt zu haben, ja sie wird wohl umso echter, innerlicher revolutionär sein, je weniger sie der leicht zu handhabenden Staffage bedarf, aber der wahrhafte Instinkt der Aufsässigkeit muß in ihr glühen.

Die von der Gesamtherausgeberin Sibylle Schönborn verantwortete Ausgabe informiert in einem ausführlichen Kommentarteil über die jeweiligen Drucknachweise und bietet zudem einen kritischen Apparat, der Fehlerkorrekturen u.ä. enthält. Ein Anhang mit Bemerkungen zur Edition, einem umfangreichen Nachwort sowie einem Personenverzeichnis runden diese wichtige Ausgabe eines für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutenden – und leider immer noch nur mäßig bekannten – Schriftstellers und Kritikers ab.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Sibylle Schönborn / Beata Giblak (Hg.) / Max Herrmann-Neiße: Kritiken und Essays – Band 1: 1909-1920.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2021.
799 Seiten, 178 EUR.
ISBN-13: 9783849817503

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