Vielsagende Korrespondenzen

Albrecht Schöne porträtiert in „Der Briefschreiber Goethe“ Kunstform und Künstler

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kunstvoll verfasste Briefe werden heute gelegentlich vermisst oder nostalgisch verklärt. Albrecht Schönes Buch über Johann Wolfgang Goethe sorgt für wohltuende germanistische Nüchternheit. Seinerzeit war die Niederschrift ein „umständliches und zeitraubendes Geschäft“. Goethe selbst diktierte Briefe in Weimar zumeist, auch weil er mit dem seinerzeit üblichen Schreibgerät – dem „aus einer Flugfeder einer Gans geschnitzten Federkiel, den man ständig von neuem ins Tintenfaß tunken und schon nach kurzem Gebrauch mit mehreren kunstgerechten Schnitten eines Federmessers wieder zurichten mußte“ – praktische Schwierigkeiten hatte. Er nutzte für seine literarischen Werke lieber einen Bleistift, der aber für briefliche Mitteilungen ungeeignet war.

Schöne stellt neun „Fallstudien“ zu einzelnen Briefen von Goethe vor. So entsteht skizzenhaft ein biografisches Porträt des Dichters. Manche Zeitgenossen neigen zur Bewunderung Goethes. Über dessen Briefe wird mitunter gesprochen, als handelte es sich bei Korrespondenzen um eine fast erhabene Form des dichterisch-philosophischen Gesprächs. In diesem Buch aber werden Floskeln auch Floskeln genannt, die etwa im Schriftverkehr mit Hoheiten rituell verwendet werden und in denen sich nichts Persönliches ausdrückt. Die gespreizte Ehrerbietung entspricht der Konvention. Schöne macht auf eine wissenschaftlich gelegentlich übersehene Besonderheit aufmerksam:

Wie dichterische Werke realitätsbezogene und wirklichkeitsgetreue Passagen enthalten können, so umgekehrt die ,echten‘ Briefe auch fingierte Darstellungen. Weit weniger der Falsifizierung ausgesetzt als öffentlich Mitgeteiltes, können sie nicht nur irren, sondern auch färben, können verschweigen und frei erfinden.

Nicht erfunden ist hingegen, dass der 16-jährige Goethe darüber nachdachte, dass es ungleich reizvoller sei, „Lehrer für das schöne Geschlecht“ zu werden – statt Anwalt – oder als „Direktor einer höheren Mädchenschule“ vorzustehen, die es damals noch gar nicht gab. Der junge Goethe hatte also wirklich vernünftige Ideen.

Briefe dienten im persönlichen Schriftverkehr auch dem „Rollenspiel“. Solange Goethe öffentliche Mittel zu verwalten hatte, achtete er darauf, dass diese „arbeitswilligen, tüchtigen und nützlichen Untertanen zugute kamen“. Für den durchaus mildtätigen Privatmann waren jegliche „Standesrücksichten“ ohne Belang. Goethe war hilfreich, ja spendabel, aber nicht realitätsfremd. Auch „messianische Imperative“ mied er. Kriegerisches war ihm fremd, ebenso pathetische Vaterlandsliebe. Einige Weggefährten nahmen ihm das übel, vor allem Christoph Martin Wieland sah ihm jahrelang nicht nach, dass er sich anmaßte, gänzlich leidenschaftslos über eine „Schlacht fürs Vaterland“ zu denken und auch ohne Emphase zu dichten.

Goethe verzichtete im brieflichen Gespräch mit Herzog Carl August zuweilen auf „Kanzleifloskeln“ und „kuriale Präliminarien“. Die üblichen Umständlichkeiten mied er in jungen und mittleren Jahren gelegentlich, Grußformeln fasste er knapp und verzichtete auf dekorative Wortgirlanden. Er formulierte behutsam, diskret und sachorientiert. Über einen Brief Goethes an den 21-jährigen Herzog im Jahr 1779 etwa schreibt Schöne: „Er gibt sehr wohl Entscheidungshilfen, aber keineswegs doch Handlungsanweisungen oder auch nur Verhaltensvorschläge. Nicht was der Herzog zu beschließen habe, trägt ihm sein Ratgeber hier vor, sondern wie er zu einer Entscheidung kommen sollte.“ Der Germanist sieht hier eine Analogie zur zeitgenössischen Politikberatung:

Auch als Kriegskommissar hält er sich gegenüber der beschließenden Gewalt des aufgeklärt-absolutistisch regierenden Fürsten an die Befugnisse des Geheimen Consiliums: eines in allen gewichtigen und nicht nach bestehendem Recht zu regelnden Angelegenheiten nur mehr deliberierenden Gremiums, dessen Voten sich im Vorfeld des eigentlichen politischen Handelns bewegten – wie, bis heute, jede verfassungskonforme Politikberatung, die nicht aus dem Kreis der selbst Entscheidungsbefugten kommt.

Das „konditionale, futurisch-prognostische Sprachspiel“ des Briefes bilde die „angemessene Vorsicht“ und das „strategische Gedankenspiel des Politikberaters“ ab. Vielleicht aber lässt sich der Rat eines verständigen Einzelnen doch nur bedingt mit den institutionellen, oft ökonomisch denkenden Beratungsfirmen heute angemessen vergleichen.

In späteren Jahren amüsiert sich Goethe zwar über den „Schwulst“ der „Hofsprache“, deren Phraseologie „nothwendig ein Lächeln erregen“ müsse. Indessen stellt Schöne fest, dass er sich selbst weiterhin „solcher Formen und sprachlicher Bilder bediene“:

Wie sich Goethes amtliche und geschäftliche Schriftsätze in Weimar alsbald dem gängigen Kanzleistil angepaßt haben, so fügten sich seine floskel- und phrasenreichen Schreiben an hoch- und höchststehende Personen dem Ritual einer höfischen Zeremonialsprache, um dessen peinliche Befolgung er bis in die späten Jahre bemüht blieb. Und nun hier in Goethes Brief – auch noch in den absoluten Superlativ des Verlangens erhoben und mit der offenen Ortsangabe irgendwo versehen, die fast schon ins Komische abzugleiten scheint: Mein höchster Wunsch wäre, der Allverehrten Monarchin mich irgendwo zu Füßen zu legen. 35 Jahre zuvor endete einer seiner Briefe an Charlotte von Stein mit der Liebeserklärung: „Ich liege zu deinen Füssen.“ Später hat Goethe diese Worte als eine ganz ins Formelhafte verblaßte Wendung allein auf fürstliche Personen bezogen.

Das „konventionelle Komplimentierwesen“ stand unter dem „Verdacht heuchlerischer Übertreibung und Verstellung“. Auch die Verwendung von „abgenutzten Formeln“ sowie „konformistischen Adjektiven“ scheute der alte Goethe in privater Korrespondenz nicht. So entstand mitunter der Eindruck „versteifter Förmlichkeit“ und „konventioneller Umständlichkeit“. Er pflegte den „formelhaften Kanzleistil“, inklusive „umständlicher Geheimratsschnörkel“. Albrecht Schöne beschreibt das oft angestrengte Bemühen, auch die möglicherweise verborgene Botschaft der Briefe zu erraten:

Nicht nur bei Werken der Dichtkunst werden dem aufmerksamen und nachdenkenden Leser und Zuhörer neben den direkten, offensichtlichen und unzweifelhaften Bedeutungen eines Textes mitschwingende Ober- und Untertöne vernehmbar. Bei allem Geschriebenen und Gesprochenen ist das so. Auch die Wörter und Sätze von Briefen geben auf indirekte Weise mehr zu verstehen, als sie obenhin besagen. Eines ist, was der Schreiber selber mitteilen wollte; etwas anderes wieder, was davon oder was darüber hinaus der ihm vor Augen stehende Adressat dem Geschriebenen entnehmen mochte. Und wieder anders ist es um das Verständnisvermögen späterer Leser bestellt, das gewiß häufig zurückbleibt hinter dem, was der Urheber ,eigentlich gemeint‘ haben mag oder was dem Adressaten eines solchen Briefes einsichtig geworden sein könnte – aber sehr wohl auch über beides hinausgehen kann.

In diesem reichhaltigen, ausführlichen Band entsteht ein differenziertes Porträt des sehr bekannten Briefschreibers aus Weimar, das fachwissenschaftlich anspruchsvoll ausgearbeitet ist und einen verlässlichen Einblick in Goethes Korrespondenzen bietet. Der Name Albrecht Schöne bürgt in der Literaturwissenschaft für Kenntnisreichtum, Qualität und auch stilistische Souveränität. Der alte Goethe hätte mutmaßlich nicht widersprochen.

Titelbild

Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
543 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406739675

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