Die sexuelle Evolution
Jasmin Schreiber und Lorenz Adlung haben ein ebenso gut lesbares wie informatives Buch über „Liebe, Sex & Erblichkeit“ geschrieben
Von Rolf Löchel
Seit einigen Jahren sind die AutorInnen des vorliegenden Bandes Jasmin Schreiber und Lorenz Adlung miteinander verheiratet, stehen also nach eigener Aussage zumindest in Sachen Liebe und Sex „quasi direkt an der Front“. Da es sich zudem nicht nur um ein Ehe-, sondern auch ein BiologInnenpaar handelt, kennen sie sich auf dem Gebiet der Erblichkeit ebenfalls bestens aus. Dies gilt insbesondere für Adlung, der in dem vorliegenden Band die Abschnitte über Gene, Chromosomen, DNA, Hormone und die mit all dem zusammenhängenden biochemischen Vorgänge geschrieben hat. Schreiber brilliert hingegen mit ihren Kenntnissen über die Tierwelt. Von ihr stammen etwa die Kapitel über „Balz und Flirt bei Tieren“, die „Körperformen“ tierischer Genitale und die überaus unterschiedlichen Fortpflanzungsarten diverser Spezies. Zusammen haben sie so nicht etwa ein staubtrockenes Fachbuch, sondern ein unterhaltsames „Lesebuch mit subjektiv von uns ausgewählten Geschichten und Fakten“ auf den Markt gebracht. In den von Schreiber verfassten Abschnitten macht sich insbesondere ihre Erfahrung als Autorin einiger erfolgreicher Romane positiv bemerkbar. Auch gewährt sie gelegentlich sehr persönliche, fast schon intime Einblicke in ihr (Geschlechts-)Leben.
Adlungs Stil liest sich zwar nicht immer ganz so flüssig wie der seiner Mitautorin. Das mag allerdings auch an seinen abstrakteren und wohl auch schwerer zugänglichen, in jedem Fall aber weniger anschaulicheren Themen liegen. Dieses geringe Manko des Buches (so es denn überhaupt eines ist) wird durch die zahlreichen überaus ansprechenden Aquarelle der Autorin allerdings mehr als ausgeglichen. Außerdem schmücken einige ihrer Zeichnungen den Band – sowie zwei, drei Fotos, die das Paar mit seinen Hunden zeigen.
In ihren jeweils separat verfassten Kapiteln messen die AutorInnen aus, „wie die Liebe in all ihren Facetten das Leben auf unserem Planeten prägt, wie Sex die Evolution vorantreibt und wie Vererbung unsere Identität und unser Schicksal bestimmt“. Dass Identität und Schicksal eines Menschen durch Vererbung bestimmt werden, dürfte allerdings zu viel gesagt sein. Zutreffender ist wohl, dass Vererbung sie neben anderen – etwa kulturellen und sozialen, aber auch gänzlich kontingenten – Faktoren beeinflusst.
Für viele Lesende dürften die Abschnitte über „Beziehungsformen“ und das Sexualleben von Tieren am informativsten und interessantesten sein. Dabei hat die Autorin etliche Überraschungen, wenn nicht gar die eine oder andere kleine Sensation auf Lager: Vom „Propeller des Grauens“ männlicher Flusspferde über die „sexuelle Symbiose“ von Anglerfischen bis hin zur „penisähnlichen Struktur“ der Genitale weiblicher Staubläuse, die in die „Genitalöffnung“ der Männchen eindringen und den Samen aus ihnen heraussaugen. Bestimmten Quallenarten dient hingegen ein „Generationenwechsel“ als probates Mittel der Vermehrung, während die Männchen der Stuart-Breitfußbeutelmaus „bis zum (S)Exitus [rammeln]“. Sie verausgaben sich bei der Paarung so sehr, dass sie vor Erschöpfung sterben, während die Weibchen des Dattel-Borkenkäfers ihre Sexualpartner selbst „‚erstellen’ können“ und Feigengallwespen bereits „‚schwanger’ zur Welt [kommen]“. Einige Spezien sind „fakultativ sexuell“, können sich also sowohl ungeschlechtlich vermehren als auch sexuell fortpflanzen. Andere pflanzen sich dagegen überhaupt nicht sexuell fort.
Zu den Tieren, die sich ausschließlich sexuell vermehren, zählen die Seidenlaubenvögel. Ihre Männchen betreiben eine aufwendige Brautwerbung, die im gesamten Tierreich ihresgleichen sucht. Doch zeichnet sie noch etwas weit wichtigeres vor den meisten anderen Spezies aus. Denn bei den Seidenlaubenvögeln ist „Konsens King“. Das heißt, die Begattung erfolgt stets einvernehmlich. Ansonsten ist „sexuelle Gewalt im Tierreich“ derart weit verbreitet, dass Schreiber ihr einen eigenen Abschnitt gewidmet hat. Der gewalttätige Part ist dabei so gut wie immer das Männchen. So sind Gruppenvergewaltigungen weiblicher Delphine ebenso wenig eine Seltenheit wie Sexualmorde bei Enten. Dass manche Spinnenweibchen die Männchen nach oder schon während der Begattung verspeisen, ist eine andere Geschichte. Jedenfalls greift Schreiber immer mal wieder recht tief in die „eher gnadenlose[] Geschichtskiste der Natur“.
Allerdings warnt die Autorin davor, das menschliche „Verständnis von Monogamie, Polygamie und andere[r] Beziehungsstile […] auf Tiere [zu projizieren]“. Denn die Realität der Tierwelt sei „viel komplexer und nuancierter“. So mögen bestimmte Verhaltensweisen von Tieren den meisten Menschen „sexuell konnotiert[]“ erscheinen, ohne es allerdings wirklich zu sein. Auch hierfür bietet Schreiber einige Beispiele.
Im Zentrum der von ihr verfassten Teile stehen zwar Sex und Fortpflanzung verschiedener tierischer Spezies, doch unternimmt die Biologin auch je einen kleinen Ausflug in die Welt der Pilze mit ihren „Tausenden von Paarungstypen“ und in die der Pflanzen. Bei Letzteren hat die Catasetum-Orchidee eine besondere Methode entwickelt. Ihre Blüten „[schießen] ihre Pollensäcke buchstäblich“ auf eine vorbeifliegende männliche Prachtbiene.
Behandelt Schreiber vorrangig tierische Spezies, so schneidet sie doch auch „den einen oder anderen kulturellen Aspekt“ des menschlichen Geschlechtslebens und Paarungsverhaltens an und macht sich dabei immer wieder für Vielfalt, Anerkennung und gegenseitige Wertschätzung stark.
Nicht nur die Seidenlaubenvögel haben ein Alleinstellungsmerkmal, sondern auch Menschen. Sie sind die einzige Spezies, bei denen Sex „Privatsache“ ist. Keine andere Spezies käme auf die Idee, sich zur Paarung zurückzuziehen. Eine andere Frage der menschlichen Sexualität ist Schreiber zufolge aus evolutionärer Sicht noch offen: Warum können Frauen einen Orgasmus haben? Während Männer das Sperma beim Orgasmus heftiger ausstoßen, können Frauen auch ohne ihn schwanger werden. Schreiber nimmt an, dass er ein „Nebenprodukt[] anderer evolutionärer Prozesse“ ist. Könnte es aber nicht sein, so meine zugegebenermaßen laienhafte Vermutung, dass die direkte evolutionäre Funktion des weiblichen Orgasmus darin liegt, dass die Orgasmusfähigkeit die Bereitschaft von Frauen zum Geschlechtsverkehr erhöhen kann?
Das Thema Schwangerschaft teilen sich beide AutorInnen. Adlung übernimmt das Kapitel zur Schwangerschaft bei Frauen, Schreiber dasjenige bei weiblichen Tieren. Das Gebären ist dann aber – sowohl hinsichtlich der menschlichen wie auch anderer tierischer Spezies – ganz Schreibers Thema.
Selbst bei den besten Sachbüchern gibt es eine Handvoll Punkte zu monieren. So auch hier. Zwei von ihnen seien herausgegriffen. So geht Adlung in seinem Abschnitt zur Geschichte der Sexuologie zwar darauf ein, dass es
in der viktorianischen Zeit […] verpönt [war], als Gynäkologe auf die Vagina zu schauen, dass selbst Katheter vaginal eingeführt wurden, ohne hinzusehen. Die Hände des Arztes befanden sich unter einem Laken, das die Blicke abschirmte.
Leider versäumt es der Autor, in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass die Herren Ärzte den Gebrauch einer bahnbrechenden Erfindung aus eben diesem Grund vehement ablehnten. Die Rede ist vom zweischaligen Spekulum, das denn auch nicht etwa von einem Mann, sondern der Hebamme Marie Gillain Boivin (1779-1841) entwickelt worden war. Auch beschreibt Adlung zwar ehedem geläufige Maßnahmen und Instrumente zur Verhinderung der Onanie bei (jungen) Männern (wie etwa den Penisring). Hingegen geht er mit keinem Wort auf die grauenhaften Maßnahmen ein, die zur Verhinderung der Masturbation (junger) Frauen ergriffen wurden. Ihnen wurde nicht selten die Klitoris entfernt. Eine Verstümmelung, die zweifellos ein weitaus einschneidender Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit ist, als das zeitweilige Anlegen eines Penisrings. Der Londoner Gynäkologe Isaac Baker Brown tat sich dabei Mitte des 19. Jahrhunderts besonders negativ hervor. Begründet wurde die Ektomie der Klitoris damals damit, dass sie einer Hysterie vorbeuge oder diese so geheilt werden könne. Allerdings ist diese aus Frauenhass geborene Praxis sehr viel älter und reicht bis in die römische Zeit zurück. Adlung scheint beim Thema Verhinderung von Onanie und Masturbation (s)einem (allzu) männlichen (Tunnel-)Blick zu erliegen. Immerhin aber macht er das wieder etwas wett, indem er ausführlich über „die Geschichte von Rosalind Franklin“ informiert. Sie wurde um den Nobelpreis für ihre Entdeckung der DNA-Struktur betrogen.
Überhaupt ist der vorliegende Band sehr zu empfehlen; und zwar nicht nur wegen Schreibers Berichten aus dem Tierreich, sondern ausdrücklich auch wegen Adlungs kenntnisreichen Ausführungen über die „Biochemie der Liebe“.
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