Ein Sonderweg
Michael Schröter legt mit „Auf eigenem Weg – Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945“ eine umfassende Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Psychoanalyse vor
Von Michael Fassel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMichael Schröters umfangreiche Monographie verspricht mehr als der Titel zunächst suggeriert. Glücklicherweise beschränkt sich der Soziologe und Herausgeber von Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse nicht ausschließlich auf Deutschland, sondern weitet den Fokus auf den deutschsprachigen Raum aus. Denn die eigentliche Geburtsstunde der Psychoanalyse fand mit ihrem Gründungsvater Sigmund Freud in Wien statt, als sich der studierte Mediziner am 25. April 1886 mit eigener Praxis selbstständig machte.
Schröter berücksichtigt namhafte Akteure aus Österreich und der Schweiz, die wichtige Impulsgeber gewesen sind. Allen voran die österreichischen Universitäten trugen um die Jahrhundertwende zur Verwissenschaftlichung der Neuro-Psychiatrie bei und bildeten den Boden für eine gedeihende Psychoanalyse, die jedoch stets unter Rechtfertigungsdruck stand. Schröters „Präludium“ setzt jedoch früher ein:
In diesem zeitdiagnostischen Kapitel stellt der Autor dar, wie sich die Psychoanalyse aus der nervenärztlichen Praxis heraus überhaupt entwickeln konnte. Freud und seine Ausbildungszeit nehmen hierin Schlüsselrollen ein. Deutlich wird etwa, dass die Ausgangssituation für ein Fach wie die Psychoanalyse alles andere als einfach gewesen ist, da selbst die Neurologie und Psychiatrie keinesfalls als vollwertige akademische Fächer anerkannt waren. Und schon bevor Freud seine Praxis in Wien eröffnete, zeichnete sich der Sonderweg der Psychoanalyse ab, der sich spätestens zehn Jahre nach Praxiseröffnung als erfolgversprechend erweisen sollte: „Der Entschluss von 1896 zur Selbstisolierung kann als eine Weichenstellung in der sozialen Geschichte der Psychoanalyse gelten: als erster Schritt des Weges, auf dem sich Freud von der wissenschaftlichen community seines Fachs löste und seine eigene community schuf […].“
Dass die Betrachtung der Geschichte der Psychoanalyse aus einer soziologischen Perspektive erfolgt, macht der Autor in seiner instruktiven Einleitung deutlich. Ihn interessiert zum Beispiel die Profilierung der Psychoanalyse unter den gegebenen sozio-historischen Umständen. Denn auch wenn Freud wie kein anderer sein Fach prägte, betont Schröter, dass auch der Wiener Psychoanalytiker „in einem sozialen Kontext“ agierte. Dies ist keine beiläufige Bemerkung, sondern eine wichtige Erkenntnis für die Entwicklung der Psychoanalyse. Vor diesem Hintergrund legt der Autor einen diskursanalytischen Fokus auf ihre Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Die Untersuchung bietet zudem ein Stück weit ideengeschichtliche Impulse. Immerhin spielen bei der Entstehung und Rezeption der Psychoanalyse epochengeschichtliche Mentalitäten eine gewichtige Rolle. Auffällig ist dabei, dass die Psychoanalyse in der wissenschaftlichen Landschaft einen Sonderweg eingeschlagen hat. Auch deshalb warfen gegnerische Stimmen der neuen Schule um Freud vor, sie sei eine „Sekte“ und würde sich wie eine „Epidemie“ ausbreiten.
Dass die (auch vor allem kritisch-reflektierte) Rezeption der Psychoanalyse mitunter zur Institutionalisierung beitrug, erläutert Schröter im ersten Teil seiner Studie. Doch nicht nur die Wirkung auf die verwandten Wissenschaften wie Psychiatrie und Neurologie waren für die beginnende Erfolgsgeschichte der Psychoanalyse ausschlaggebend, sondern auch Freuds Persönlichkeit, die in nicht geringem Maße zum Gemeinschaftssinn der Analytiker beigetragen hat. Insbesondere in den Anfangsjahren prägte er seine neue Erkenntnismethode:
Die community der Analytiker wurde nicht nur durch gemeinsame Überzeugungen gestiftet oder durch die allmählich entstehenden Organe und Institutionen des Meinungsaustauschs und der literarischen Traditionsbildung, sondern bis in die 1920er Jahre hinein wesentlich auch durch das Charisma, mit dem Freud seine Schüler an sich band.
In diesen Jahren war es ein wichtiges Unterfangen, Freuds Psychoanalyse zu verbreiten. Dies geschah durch Vorlesungen einerseits, durch Publikationen andererseits. Letztere sind in beachtlichem Ausmaß vor allem auf den niedergelassenen Münchener Nervenarzt Leopold Löwenfeld zurückzuführen, der mit Freud vor ihrer freundschaftlichen Bindung einen ergiebigen Schlagabtausch betrieben hatte. Bei dem bislang in der Geschichtsschreibung der Psychoanalyse kaum beachteten Löwenfeld schließt Schröter ein Desiderat, denn es handelt sich doch um einen der bedeutendsten Protagonisten der frühen Publikations- und Rezeptionsgeschichte. Überhaupt festigten freundschaftliche Bindungen den Gemeinschaftssinn, etwa zwischen Freud und Wilhelm Reich. So nannten die beiden Analytiker ihre Zusammenkünfte symbolhaft „Kongresse.“
Während Freuds Hauptwerk Die Traumdeutung zunächst zögerlich rezipiert wurde (Schröter beschränkt sich hier auf fünf Seiten, da die Rezeption des Werkes in der Forschung häufig diskutiert worden ist), ist durch die Freud-Rezeption am Bürghölzli ein Durchbruch zu verzeichnen. Züricher Universitätspsychiater – allen voran Eugen Bleuler – institutionalisierten die Freud’schen Theorien. Etwa zur gleichen Zeit begann C.G. Jungs Karriere als Psychoanalytiker, einem der wichtigsten Weggefährten Freuds. Die Kollegen um Bleuler
machten nach einer Phase, in der sie sich wie andere aus der Literatur und autodidaktisch mit der Psychoanalyse als Theorie und Technik vertraut gemacht hatten, den Schritt, den Freud generell von interessierten Kollegen verlangte: dass sie aktiv auf ihn zukamen, um sich von ihm über seine Methode und seiner Befunde belehren zu lassen.
Der zweite Teil widmet sich der Etablierung der Psychoanalyse der Jahre 1908 bis 1918. Schröter legt den Fokus verstärkt auf die Entwicklungen in Deutschland. Vorrangig sei der Name Karl Abraham erwähnt, Wegbereiter der Psychoanalyse in Deutschland im Allgemeinen, in Berlin im Besonderen. Mit der Niederlassung als Nervenarzt Ende 1907 in Berlin nimmt die Psychoanalyse in Deutschland ihren Anfang. Abraham war somit nach Freud der erste Berufsanalytiker und gründete 1908 die Berliner Psychoanalytische Gesellschaft. Freud blieb weiterhin gerade im deutschsprachigen Raum die Leitfigur, wie es Sándor Ferenczi 1910 in einem Brief zum Ausdruck bringt: „,Sie sind ja die Psa in Person!‘“ Und doch entwickelten sich allmählich abweichende Meinungen, interne Konflikte mit den Wiener Anhängern zeichneten sich ab. Obgleich C.G. Jung mit Freud gebrochen hat und der Erste Weltkrieg ein Dämpfer für die Entwicklung der Psychoanalyse in Europa war, gewann Abraham in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) mehr Einfluss, so dass gar Berlin und nicht mehr Wien als das Zentrum der Psychoanalyse galt. Eine Zäsur für die Psychoanalyse in Deutschland und ihr internationales Umfeld war der Tod Abrahams 1925.
Schröter befasst sich in Teil III dezidiert mit den internen Machtkämpfen um Positionen innerhalb der IPV. Gleichwohl konnten die Berliner Analytiker ihre Reputation erhalten und neben Städten wie Leipzig oder Frankfurt am Main blieb Berlin das deutsche Zentrum der Psychoanalyse. Vor diesem Hintergrund wirft der Autor erkenntnisreiche Schlaglichter auf das Verhältnis dieser Städte zu den Berliner Analytikern. Wenige Jahre nach Abrahams Tod zeichnete sich ein Generationenkonflikt ab. Jüngere Analytiker fühlten sich nicht mehr „an die psychoanalytische Orthodoxie gebunden.“ Auch Kritik an Freud trat nun offener zutage. Schröter zeichnet präzise nach, welche weiteren Bedingungen – etwa auch der Streit um die Ausbildungsrichtlinien – Anfang der 1930er zu einer Abwanderung von vier führenden Mitgliedern in die USA beitrugen.
In Teil IV setzt Schröter – anders als der bis dahin chronologische Aufbau zunächst vermuten lässt – den Fokus auf die Rezeptionsgeschichte von 1918 bis 1932. Denn insbesondere während der Weimarer Jahre ist eine hohe Intensität an der Rezeption der Psychoanalyse zu verzeichnen. Der Autor konzentriert sich in diesem Teil auf „die engere Fachwelt.“ Die Beschränkung auf Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie scheint angesichts der Berücksichtigung eines enormen Korpus, das Quellen wie beispielsweise Lehr- und Handbücher oder Fachzeitschriften umfasst, geboten. Umso intensiver befasst Schröter sich mit der fachwissenschaftlichen Kontroverse. Sorgfältig lotet er die einzelnen Facetten der fachliterarischen Diskussion aus, „die sich“, so sein Resümee, „mit dem von Freud vorgezeichneten Raster ,pro oder contra‘ schlechterdings nicht adäquat erfassen lässt.“ Zugleich macht der Autor auf weitere Desiderate aufmerksam, die seine Studie nicht erfassen kann.
Die Psychoanalyse schien von politischen Umständen lange Zeit unberührt. Inwiefern sich dies Anfang 1933 änderte, schildert Schröter in Teil V. Bis auf wenige Ausnahmen verließen vor allem jüdische Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) Deutschland. Ihre Berufschancen im Ausland erwiesen sich als günstig, da die Freud-Schule international gut organisiert war. Für den DPG-Vorstand in Deutschland bedeutete die Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes hingegen gravierende Einschnitte. Schröter führt aus, wie das Regime zunehmend Einfluss auf die DPG nahm: Von der Gleichschaltungswelle im März 1933, die jüdische Funktionsträger betraf, über den Prozess der sogenannten „Arisierung“ des Ausbildungsbereichs bis hin zur Einverleibung der DPG durch das „Göring-Institut.“ Kürzer, aber nicht minder aufschlussreich, fällt die Darstellung der Rezeptionsgeschichte aus, die nun unter anderem auch weltanschaulich und rassenideologisch aufgeladen war.
Mit diesem Teil beschließt Schröter den Hauptteil. Im Epilog skizziert der Autor die Geschichte der Psychoanalyse nach 1945 und geht dabei etwa der Frage nach, inwiefern die freudianische Tradition in den Nachkriegsjahren und darüber hinaus eine Revitalisierung erfuhr. Die Ausführungen erfolgen in gebotener Kürze, da Schröter in diesem Zusammenhang auf umfassende Forschungsarbeiten verweist.
Michael Schröter liefert mit seinem glänzend erkenntnisreichen Buch eine breit gefächerte Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945 und in wenigen Anmerkungen auch darüber hinaus, so dass diese Rezension nicht allen Aspekten gleichermaßen gerecht werden kann. Ein Werk, das ausgesprochen erkenntnisreich, wissenschaftlich profund und sprachlich eingängig ist, so dass es für sowohl für Expert:innen als auch für diejenigen Leser:innen und Interessierten geeignet ist, welche sich mit der (Sozial-)Geschichte der Psychoanalyse vertraut machen möchten.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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