„I‘d rather stay here / With all the madmen”

Ein edierter Auszug aus Uwe Schüttes „Sternenmenschen. Bowie in Gugging“

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

  

Vorrede. Sternenmenschen nimmt seinen Ausgang von David Bowies zweitägiger Visite in der ehemaligen Niederösterreichischen Landesnervenklinik in Maria Gugging vom September 1994, hat mit Musikjournalismus oder dergleichen aber wenig zu tun. Vielmehr handelt es sich um einen literarischen Essay, der nicht zuletzt auch von meinen eigenen Besuchen im Haus der Künstler berichtet, die sich auf die 1990er Jahre konzentrierten, als ich in Norwich bei Professor W.G. Sebald an meiner Dissertation über Gerhard Roth schrieb. Es waren zunächst Sebalds Essays über Ernst Herbeck, die mich nach Gugging zogen, später teils in Begleitung von Roth, der dort ohnehin so etwas wie ein Hausfreund war. Dass ich Bowie ausgerechnet in Gugging hätte begegnen können – „zufällig“ wie man so sagt – war eine Vorstellung, die mich jahrelang nicht in Ruhe ließ – bis schließlich die Zeit kam, dieses Buch zu schreiben.

Es besteht aus 65 assoziativ aneinandergefügten kurzen wie langen Textbausteinen, von denen hier sieben präsentiert werden, um einen Eindruck von der Natur meines Annäherungsversuches zu vermitteln. Ich hatte dabei zwei Modelle: Zum einen Brett Morgans wundervolle Bild- und Musikcollage Moonage Daydream, die mich in der Überzeugung bestärkte, dass man der Persona David Bowie eher durch Sprünge auf die Spur kommt denn durch die lineare Registratur regulärer Musikerbiografien oder die dröge Systematik, die akademische Vorgehensweisen kennzeichnen. Zum anderen diente mir Brief Lives als Anregung, jenes idiosynkratische Buch, im dem der britische Altertumsforscher John Aubrey im ausgehenden 17. Jahrhundert kurze Lebensbeschreibungen von bekannten wie unbekannten Personen aus seinem Lebensumfeld versammelte. In Anlehnung an meinem 1697 in Oxford verstorbenen Vorgänger bilden die kurzen Außenseiterlebensläufe der dauerhospitalisierten Patientenkünstler, jener Sternenmenschen also, denen ich damals in Gugging begegnet bin, den Glutkern von Bowie in Gugging.

 

Pfleger, Pflegerin, Franz Kamlander, Franz Kernbeis (gebeugt), Johann Korec (verdeckt), Edmund Mach, André Heller, Johann Hauser, Brian Eno, Rolf Engel, David Bowie, Johann Garber (in der Hocke), Heinrich Reisenbauer und Johann Fischer, Gugging, 1994 (© Christine de Grancy)

 

Schnittstellen und Knotenpunkt. Dass sich parallele Geraden in der Unendlichkeit schneiden, habe ich immer als tröstlich empfunden, obgleich ich mir ihr Zusammentreffen nicht vorstellen kann. Mir erschien es stets als Unrecht, dass unser aller Lebenswege dank der Imponderabilien sozialer Herkunft, früh/kindlicher Erlebnisse, gesundheitlicher Unwägbarkeiten und sonstiger Faktoren letztendlich mehr von unentrinnbaren Umständen denn eigener Verfügungsgewalt geprägt sind. Unsere in unberechenbaren Bahnen verlaufenden Lebensläufe, um im geometrischen Eingangsbild zu bleiben, gleichen daher – wie ich am Beispiel eines un/gleichen Brüderpaars illustrieren werde – voneinander wegstrebenden Linien. Zugleich sorgt die Zufälligkeit der unser Leben bestimmenden Vektoren dafür, dass sich der eigene Lebensweg mit dem anderer Menschen überschneidet.

Die Kontingenz führt uns zueinander. Diese Begegnungen werden in seltenen Fällen bedeutsam, was man sich dann schönredet als Prädestination, weil ohne dergleichen magisches Denken unser Sein in diesem undurchschaubaren Chaos kaum auszuhalten wäre. Oder ist doch über den Raum und die Zeiten alles miteinander verbunden, wie manche glauben, etwa das Echo eines Pistolenschusses mit dem Blick aus dem Fenster einer Heilanstalt, die Geburtsdaten mit denen des Todes, das Glück mit dem Unglück, die Geschichte der Natur mit der unserer Zivilisation? Wer mag das entscheiden.

Alle paar Ewigkeiten jedenfalls, zumindest in Relation zu unserer kurzen Lebenszeit, treffen wir auf Menschen, die unser Leben verändern, für immer. Menschen – so scheint es dann – wie von einem anderen Stern, Sternenmenschen mithin. Dass das so selten geschieht, lässt solche Verkettungen umso signifikanter erscheinen. Ähnliches gilt für unverhoffte Konfrontationen mit großer Kunst; die Bilder von Francis Bacon, die Filme von Andrei Tarkowski, die Bücher von Thomas Bernhard, die Theaterstücke von Heiner Müller beispielsweise. Manche Kunstwerke ergreifen sofort, andere rumoren zunächst unverstanden in uns fort, bis die richtige Zeit gekommen ist. Kunst ist Flaschenpost in die Zukunft, hat das Müller genannt. Das gilt zumal, trotz ihrer engen Verwurzelung im Gerade Hier Jetzt, für die Kunstform Pop­musik.

Die Wege von David Bowie und mir haben sich mehrfach überkreuzt, ohne dass wir uns je begegnet wären; zeitlebens war er ein mir mal ferner­, dann wieder näherstehender Wegbegleiter. Für den Provinzjugendlichen, der ich einmal war, blieb Bowie ein unerreichbarer Popstar aus dem fernen England, ein Starman. Dieser Song erzählt von einem Teenager, der im Radio unverhofft erfährt, dass ein Sternenmensch a. k. a. Ziggy Stardust auf die Erde kommt, um uns zu erretten. „There’s a starman waiting in the sky / He’d like to come and meet us“, singt Bowie, um dann in die Persona von Ziggy zu wechseln: „I had to phone someone so I picked on you“. Ein rhetorischer Trick, der zu einem halb England erschütternden kulturellen Erdbeben wurde.

Ein Schlüsselmoment in der Geschichte der Pop­musik: Am 5. Juli 1972 tritt Bowie – androgyn geschminkt, lackierte Fingernägel, hellrotgefärbte Haare, silberne Astronautenstiefel und in einem farbenfroh schimmernden Regenbogen­Overall – als Inkarnation des Ziggy Stardust in Top of the Pops auf. Dass die meisten der rund fünfzehn Millionen Zuseher damals noch Schwarz­Weiß­Flimmerkisten hatten und insofern das glamouröse Farbspektakel nicht ganz goutieren konnten, tat der immensen Wirkung keinen Abbruch: erst legte der androgyne Alien den Arm liebevoll um die Schultern seines Gitarristen Mick Ronson, um dann an der Stelle von „I had to phone someone …“ den Finger auf die Kamera und damit auf Hunderttausende von Jugendlichen zu richten, die sich direkt angesprochen fühlen konnten: „It was as if Bowie actually singled me out … a chosen one … it was almost a religious experience.“ Eine Erweckungserfahrung: die potente Popgeste besaß Aufforderungscharakter und glich einem Emanzipationsauftrag.

Der subversive Sternenmann war in der Tat gekommen, um zu erretten und zu befreien, nämlich aus den Gefängnissen von Familie, Schule, Staat und sonstigen Disziplinierungsanstalten, die eine bestimmte Rolle im sozialen Gefüge erzwingen wollen. Der TV­-Auftritt machte Mut, sich ein Beispiel zu nehmen an Bowie, der in der Kunstfigur des extraterrestrischen Fremdlings unter Beweis stellte, dass man werden kann, wer oder was man sein möchte. Egal wie einsam, wie unverstanden, wie unzugehörig man sich fühlt. „Oh no, love, you’re not alone / No matter what or who you’ve been / No matter when or where you’ve seen“, so heißt es in Rock’n’Roll Suicide, „Just turn on with me, and you’re not alone / Gimme your hands, cause you’re wonderful“. Dank Bowie wurde Pop­musik zum Ausgang junger Menschen aus ihrer unverschuldeten Unmündigkeit, zur Waffe im Kampf um Emanzipation von den uns durch die Eltern wie die Gesellschaft vorgeschriebenen Lebenswegen: „We can be heroes“.

David Bowie ist also einer der Sternenmenschen, um die es hier geht, und doch nur ein primus inter pares. Mein Fokuspunkt hier ist sein zu Anfang September 1994 unternommener zweitägiger Besuch im Haus der Künstler auf dem Anstaltsgelände des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg in Maria Gugging nahe Wien. Ausgreifend davon geht es hier um Popmusik wie Kunst in einem umfassenderen Sinne, um David Bowie und insbesondere um die Aufnahmen, die er Mitte der 1990er Jahre gemacht hat, sowie speziell um psychopathologische Literatur und extremistische Kunst. Bei seinen Besuchen kreuzte der Lebensweg eines großen Künstlers die gescheiterten Lebensläufe einer ganzen Reihe sozialer Außenseiter, die auf ihre Weise gleichfalls große Künstler waren.

Dieses unwahrscheinliche Zusammentreffen war für mich eine dieser Koinzidenzen, an denen einem schlagartig aufgeht, dass alles mit allem zusammenhängt und dass man sich deshalb um die Dinge kümmern muss, wird man doch das Gefühl nicht los, dass einem zugewinkt wird von ich­weiß­nicht­wo. Ich habe nämlich die Gugginger Anstaltsinsassen Edmund Mach, Johann Garber, August Walla und andere Künstlerpatienten in den 1990er Jahren wiederholt besucht, weshalb allein der Zufall verhindert hat, dass ich David Bowie ausgerechnet in Gugging persönlich begegnet bin. Wobei zu fragen wäre, was hier „Zufall“ bedeutet, bewegen wir uns doch alle, wie zuvor beklagt, einer hinter dem anderen, entlang derselben, von Herkunft und Hoffnungen vorgezeichneten Wege. Deshalb habe ich mir diesen überaus merkwürdigen Knotenpunkt Gugging vorgenommen, um über meine Begegnungen mit den Sternenmenschen zu schreiben, die dort ihr Leben fristeten.

 

Bücherhöhle. Eine Wunderkammer unter dem Dach, so erschien mir damals, zu erreichen über eine Außentreppe, wie sie mir in diesem Ausmaß nie wieder begegnet ist – hinter der Straßenseite des Hauses an der Alzbrücke führte sie so steil wie geradlinig drei Stockwerke hoch bis zum Eingang mit dem Schild „Buchhandlung Stephan“. Man musste klingeln, glaube ich, damit sich nach kurzer Wartezeit die Pforte auftat. Frau Stephan, eine ältere Dame, so erschien sie mir als Dreizehnjähriger, herrschte gütig über diese merkwürdige Mischung aus Büroraum, Geschäftsarchiv und Bücherlager samt der verschachtelten kleinen Verkaufsräume. In keiner Weise zu vergleichen mit den Ladengeschäften der Traunsteiner Buchhandlungen, die ich später aufsuchen musste, um meinen Lesedurst zu stillen. Die Geschäftsräume im Dachgeschoss dienten als südostoberbayerischer Stützpunkt des Bertelsmann Leserings. In den 1950er­Jahren hatte Herr Stephan begonnen, im Lieferwagen die umliegenden Dörfer des Chiemgaus abzuklappern, um die preisgünstigen Buchprodukte des Leserings an die Provinzler zu verkaufen. Keine dankbare Aufgabe, denke ich. Welche demokratisierende Pionierleistung der Lesering erfüllte – nämlich die Verbreitung der Buchkultur im Nachkriegsdeutschland –, verstand ich naturgemäß erst später.

Mir als Teenager reichte es, in der kulturellen Wüstenei namens Seebruck am Chiemsee wundersamerweise über eine Quelle für Bücher zu verfügen. Und für Platten. So erwarb ich bei Frau Stephan – wahrscheinlich Anfang 1981 – Scary Monsters als verbilligte Pressung in der Bertelsmann Club­Edition. Leider ist sie, wie alle meine entscheidenden Platten, irgendwann irgendwo verloren gegangen. Was nur ein Euphemismus dafür sein soll, dass ich Scary Monsters, Radio-Aktivität und Visage verkauft oder getauscht habe. Ein Verlust, den ich kaum verschmerzen kann, jetzt, wo ich – langsam in die Endrunde einbiegend – auf meine Pop­-Sozialisation wie mein Leben zurückblicke und ermessen kann, dass nicht nur Vinyl verloren ging über die Jahre. Werden doch während der Jugend lauter Versprechen vor einem aufgebaut: Streng dich an, erreiche dies, mache das, dann wird sich alles finden. Doch je länger man auf diesen Weg gelockt wird, desto mehr wird einem weggenommen – stets geringer gerät der Spielraum. Tag für Tag lässt man Dinge hinter sich, Schritt für Schritt auch seine Gesundheit, und so wird Verlust zu unserer häufigsten Erfahrung. Das ist keine pessimistische Sichtweise, finde ich. Ist es doch nur eine schlichte Tatsache, dass man letztendlich um das gebracht wird, von dem man früher dachte, es stehe einem zu.

 

Schreckliches Monster. David Bowie kreischt. Er schreit: „Shut up! Shut up!!“ Er stammelt und säuselt. Manchmal murmelt und brabbelt er was Verworrenes. Dann wieder Sprechgesang, der durch Pitch­-Effekte unheimlich verzerrt wird. Dazu Hintergrundchöre und eine unverständliche Anweisungen bellende japanische Frauenstimme. Auf dem Cover ist er als weiße Clownsgestalt zu sehen. (Der Begriff „Pierrot“ war mir damals noch unbekannt.) Eigentlich ist das keine Pop­musik, sondern eine überdrehte, manische, ganz und gar verrückte Maschine. Kaum ein ruhiger Moment, vorsichtig mediativ wird die Platte erst am Ende. Überall sägende, kreischende Gitarrensounds. Überhaupt diese singuläre Gitarre, die klingt, als wolle sie mir etwas erzählen in einer Sprache ohne Worte. Ein enorm dichtes Hörerlebnis, besteht die Musik doch aus Schicht über Schicht sich überlagernden Instrumenten und Vocals. Dazu die kaum verständlichen Texte, von denen ich nur isolierte Schnipsel aufnehme. Zeilen wie „To be insulted by these fascists / It’s so degrading“, „Put a bullet in my brain / And it makes all the papers“, „I never done good things / I never done bad things / I never done anything out of the blue“ und dergleichen, was für sich Sinn macht, aber in kein übergeordnetes Ganzes passt. Das Album ist weniger Sammlung einzelner Songs, sondern ein kompaktes Hörwerk, in dem die zwei Hits am Ende der A-­Seite direkt aufeinanderfolgen. So, als ob man sie bewusst notdürftig platzieren, ja entsorgen wollte. Die anderen Stücke sind ein kaum enden wollender Vorrat an tollen Riffs, ungewöhnlichen Klängen, fremdartigen Texturen; im Hintergrund geisterhaft rumorende Geräusche. Keine andere Bowie­-Platte hat sich so tief in mein Körpergedächtnis eingebrannt wie diese. An keinem seiner Alben habe ich mich so wenig abgehört, obwohl ich es aberhunderte Male gespielt haben muss seit mehr als 40 Jahren. Scary Monsters (And Super Creeps), erschienen im September 1980. Mein erstes Bowie­Album.

 

Sebald in Gugging. Der Weg hinaus war Max vertraut. Gestern Abend in Wien war ihm beim stundenlangen Kreuz­und­quer-Gehen, bei den endlosen Traversen und Winkelzügen durch den Ersten nicht allein der Dichter Dante mit seiner Kappe begegnet. Ebenso halbvergessene Tote aus W. – die Seelos Mathild und der einarmige Dorfschreiber Fürgut – hatten ihn heimgesucht. Als verwischte Gestalten mit merkwürdig flackernden Rändern waren sie am jenseitigen Trottoir gestanden – sinnierend. Sobald er auf sie zuging, verschwanden ihre Erscheinungen. Des Nachts folglich Träume von Schuhbergen, frühmorgens Schwindelgefühle. Jetzt also entlang der blauen Donau ins Niederösterreichische. Durch Klosterneuburg, wo Claras Mutter herkam. Die Besuche in der Ziegelofengasse, damals, bevor Cäcilie das Unglück der sie ummantelnden Krankheit befallen hatte, unbarmherzig Schritt für Schritt. Dass die einzige Tochter weggegangen war, so früh schon, lag als stiller Vorwurf über jedem Besuch. Später nurmehr ihr Wunsch, selber endlich gehen zu können, aber nicht zu dürfen.

Die Dörfer waren zu vorstädtischen Siedlungen verkommen, dachte Max, aus dem Taxi schauend – überall Beton, alles die immergleichen Neubauten. Nails by Neli, Sphinx Energetik, Urlaubsbüro Wegrostek. Urlaub, so kam er ins Sinnieren, ein seltsames Wort. Urlaubsbüro, Urlaubstag, Urlaubswetter. Im Urlaub sein. Urlaub. Ein Leben lang. Auf dem großen Parkplatz vor der Billa fand eine per Plakat als Dorfdult deklarierte Festivität statt. Der schwermütige Gesichtsausdruck der Frau, vielleicht eine Bosnierin, die am Rand der allgemeinen Betriebsamkeit einsam an ihrem Stand mit Kräuterbonbons saß, für die sich niemand zu interessieren schien angesichts der Hitze. Ihr Blick war auf die Durchgangstraße, in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Sie fand seine Augen nicht, als das Taxi an der roten Ampel wartete, aber er spürte ihre Traurigkeit. Das ehemalige Sanatorium in Kierling stand einsam wie ein atavistischer Fremdkörper. Ein Gebäude, das seltsamerweise nicht alterte, wohl weil es außerhalb der Zeit existierte. Mindestens 20 Jahre musste es her sein, dass er das Sterbezimmer besucht hatte. Der Gedenkraum war lieblos ausstaffiert damals, man hatte irgendwelche Möbel und Gerätschaften herbeigetragen, um dem Zimmer etwas Atmosphäre zu geben. Umsonst.

Die Abzweigung ins Klinikgelände kam früher als erwartet. Neuerdings per Kreisverkehr, was ihm stets ein englisches Sentiment heraufbeschwor. Mühelos erklomm das Taxi erst die längere Steigung, um dann die kurze Strecke zum Haus der Künstler hinabzufahren. Max erinnerte sich daran, wie er vor einer halben Ewigkeit auf die Gedichte von Ernst gestoßen war, im Lesesaal der Rylands Library, als er am unseligen Sternheim saß, und zwischenhinein, zur Erholung des Kopfes sozusagen, immer wieder das dtv­-Bändchen zur Hand nahm, um über die offenbar aufs Geratewohl zusammengefügten Rätselbilder dieses ärmsten Poeten zu staunen. „Hell lesen wir am Nebelhimmel / Wie dick die Wintertage. Sind“, oder: „Es gibt Kälte- und Wärmegrade. / An und für sich ist es immer / kalt“. Ja, genau so. Im Schreiben hat Ernst mehr mitgeteilt, als er jemals hätte sagen können, ging mir durch den Kopf als Satz, den ich in einem Essay über ihn verwenden sollte. Was ich stets aus den Lektüren der Gedichte von Ernst mitnahm, war die bestürzende Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit, was das Niederschreiben unserer Gedanken betrifft.

Ernst erwartete mich bereits vor dem Eingang, trotz der enormen Hitze ausgestattet mit Glencheck­Anzug und Trilby. Er sah aus wie Robert Walser, wie man ihn von einem der berühmten Fotos kannte. Wir begrüßten uns wie immer wortlos, per Kopfnicken. Damit begann unser Spaziergang durch das Anstaltsgelände, wobei es Ernst war, der – nachdem er sich maschinenhaft ruckartig in Bewegung gesetzt hatte – die Richtung vorgab. Er ging zumeist langsam, aber keineswegs zögerlich. Vielmehr mit der Gewissheit eines Menschen, der genau wusste, wo entlang ihn der Weg führen würde. Nie gingen wir dieselbe Strecke, stets fand Ernst eine andere Route. Am Ende jedes unserer Schweigegänge stand die kleine Trafik, in der er sich Zigaretten kaufte, für die ich aufkam. Schwarze John Players. Selbst mit dem Trafikanten wechselte Ernst kein Wort, dieser wusste Bescheid.

Das Schweigen von Ernst war nie feindselig, sondern tief. Ohne dass er je einen Vorwurf aussprach, fühlte man sich schuldig. Keine angenehme Erfahrung. Eher eine notwendige, ist man doch, da machte ich mir keine Illusionen, an allem mitschuldig, dem ganzen Elend dieser Welt, ob man es will oder nicht. Unserm Ritual folgend gingen wir zur Holzbank mit der absplitternden grünen Farbe vis­-à­-vis des Kaufladens, von der aus man das untere Anstaltsgelände gut überblicken konnte. Ernst bot mir die erste Zigarette an. Da seine Hand zitterte – eine Folge der Neuroleptika, die er einnahm –, dauerte es entsprechend, bis er einen der Tabakstängel aus der noch vollen Packung herausbekam. Dann ging alles vonstatten mit der routinierten Selbstverständlichkeit eines langjährigen Schmauchlümmels, der am liebsten mit Genossen qualmt. Tief und kennerisch sog er den Rauch ein. Die Zigarette, hatte er mal geschrieben, „ist ein Monopol und muss / geraucht werden. Auf Dassie / in Flammen aufgeht.“ So saßen wir nebeneinander auf der Bank und beobachteten, wie der Qualm unserer Zigaretten in krausen Bewegungen aufstieg, um sich spielerisch zu verflüchtigen im Äther. Konspiratives Schweigen.

Unvermittelt und mit einem Pathos, ganz, als wären wir in ein Theaterstück geraten, drehte Ernst sich mir zu und sprach in einer Art Bühnendeutsch den, wie mir schien, vor langer Zeit einmal auswendig gelernten Klagesatz: „Ich schau in den Spiegel und sehe nix.“ Getan, wandte er sich wieder ab und schwieg erneut. Ich wusste nicht, was sagen darauf. Da mir unsere Wortlosigkeit nach diesem Mitteilungsversuch allzu quälend erschien, begann ich zu erzählen. Von meinem Leben in England, von der desolaten politischen Lage dort, den Absurditäten der Universitätsbürokratie, der beständig zunehmenden Dummheit der Studenten, die einen anschauen, als hätte man in der Öffentlichkeit die Hosen heruntergelassen, erzählt man nur etwas, das sich in Richtung der ja ohnehin nicht auszumachenden Wahrheit bewegt. Von der mich immer mehr lähmenden Lethargie und meinem Zynismus angesichts der Aussichtslosigkeit aller intellektuellen Anstrengungen unter den beständig sich verschlimmernden Verhältnissen.

All das hörte sich Ernst an mit dem geduldigen Desinteresse eines Menschen, dem das, was ihm mitgeteilt wird, die längste Zeit schon bekannt ist. Doch mein Gerede schuf ein stilles Einvernehmen zwischen uns, was mir das Wichtigste an unserer Freundschaft war. Näher konnte ich ihm, dem bewunderten Dichter, nicht kommen. Lag eine längere Frist zwischen meinen Wienaufenthalten, stand etwa Anfang Oktober der Geburtstag von Ernst oder sonst ein wichtiger Anlass an, schickte ich ihm Grußkarten aus Birmingham oder kleine Päckchen mit Zigaretten, die ihn an unsere Rundgänge erinnern sollten, gelegentlich auch praktische Präsente. In aller Regel schrieb er mir manierlich zurück – vermutlich dazu angehalten vom Pflegepersonal: „Lieber Max! Ich bin sehr überrascht gewesen, weil ich wenig Post bekomme zu dieser Zeit sei herzl. gegrüßt, Ernst“, hieß es in der ersten Postkarte, die ich von ihm erhielt. In einer späteren schrieb er: „Lieber Dr. Sebald, Danke für Ihr Schreiben! Vielen Dank auch für den schönen Pullover! Ein Gedicht folgt! Ihr Ernst Herbeck“.

Über uns am strahlend blauen Himmel donnerte mit Höllenlärm eine Militärmaschine vorbei, die einen weißen Streifen hinterließ, der, wie mir schien, die Welt in ein Davor und ein Danach einteilte. Da Ernst langsam begann, unruhig zu werden, spürte ich, dass es Zeit wurde, ihn zurück ins Haus der Künstler zu begleiten, wo er sich zumeist ohne Aufhebens in sein Zimmer begab, um allein zu sein, mit sich und den ihn quälenden kleinen Gedanken. Bevor wir aufbrachen, bat ich ihn, ein Gedicht in mein Notizbuch zu schreiben. Er nahm den Wunsch teilnahmslos auf, um, nach kurzem Zögern, in seiner krakeligen Schrift ein paar Zeilen in meine Kladde zu notieren. Er klappte sie sofort zu und retournierte das Notizbuch mit einem vorwurfsvoll an mir vorbei gerichteten Blick. Ich war neugierig. „Die Resenrose“, so glaubte ich, zu entziffern, „im Herbst auch blüht. / Der Weidmann in die welken Augen leht. / Stumm sehen dich die Augen an. der stumme Blick der Rose. / Die Blätter der Rose waren blind. / lagen auf der Erde. / Und warten der Landschaft kühlen. / Wind. Ernst Herbeck“.

Ich dankte ihm für das Gedicht und übernahm nun, wie es unser Ritual verlangte, die Führung zurück zum Haus der Künstler. Wegen der immensen Hitze achtete ich darauf, in der prallen Sonne nicht zu schnell zu gehen, und beneidete Ernst um seine Kopfbedeckung. Nach wohl zehn Minuten, wobei man in Gugging ja nie ganz weiß, wie viel Zeit eigentlich vergangen ist, waren wir am oberen Eingang angelangt. Beim Abschiednehmen lüftete Ernst seinen Hut und machte, auf den Fußspitzen stehend und leicht vornübergebeugt, eine gezirkelte Bewegung, um im Abgang den Hut wieder aufzusetzen – das Ganze ein Kinderspiel und schweres Kunststück in einem. Er durchschritt die Türschwelle und verschwand, schien mir, wie in einem schwarzen Loch. Ich blieb noch kurz stehen, bevor ich mir ein Taxi zurück nach Wien herbeitelefonierte.

Nur einmal, vor geraumer Zeit, hatte Ernst mich gebeten, ihn in sein Zimmer zu begleiten. Es war ein karger Raum, einfachste Ausstattung, wie in einem Hotel der untersten Kategorie. Mir schauderte, wenn ich mir vorstellte, irgendwann einmal, vielleicht nach einer Verkettung unglücklicher Umstände, die man doch nie wirklich ausschließen kann, selber Insasse einer solchen Heil- und Pflegeanstalt zu werden. Die wenigen Habseligkeiten von Ernst, die ich in seinem Zimmer gesehen hatte, erschienen mir als Resümee eines ohne eigene Schuld verpfuschten Lebens: ein Spielzeugauto, ein Fotoalbum aus braunem Plastik, ein in die Jahre gekommenes Grundig-Kofferradio, ein kleiner Messingpokal für den zweiten Platz beim Minigolf. Für einen Sieg hatte es auch hier nicht gereicht.

 

Brian Eno, Johann Hauser, Oswald Tschirtner, Franz Kamlander und David Bowie, Gugging, 1994 (© Christine de Grancy)

 

Bowie in Gugging. Donnerstag, 8. September 1994. Das Haus der Künstler zu besuchen war André Hellers Idee. Er rief die befreundete Fotografin Christine de Grancy an, damit sie das aus Bowie, Eno und Heller bestehende Herrentrio begleitete. Ihren Aufnahmen verdanken wir in mancher Hinsicht einmalige Ansichten eines David Bowie jenseits popstarmäßiger Selbstinszenierung. Was man auf ihren Fotos zu sehen bekommt, ist mithin weniger David Bowie, sondern David Jones. Bowie, der mit Eno nach Anregungen sucht, die sie als Inspiration für die Arbeit am Outside-Projekt produktiv machen können. Jones, der in den Insassen der psychiatrischen Anstalt zwangsläufig Leidensgenossen seines Halbbruders Terry sehen musste, der nahezu sein gesamtes Erwachsenenleben in der Psychiatrie fristete, bevor sein dritter Suizidversuch im Januar 1985 gelingt. Jones, der wahrscheinlich dem Gedanken nachgehangen sein wird, dass Terry noch leben könnte, wenn er in einer Institution wie Gugging gelandet wäre. Zwar erinnert die Anwesenheit der Kamera daran, dass dieser Besucher ein weltbekannter Star ist, doch die Fotografin hält sich bewusst taktvoll im Hintergrund, jede Aufdringlichkeit vermeidend. Heller stellt sie Bowie als gute Freundin vor. Er nickt nur kurz, beachtet sie kaum weiter, richtet kein Wort an sie und posiert fast nie. Entsprechend unscheinbar gekleidet als Privatmann kommt er daher samt Bart und schwarzer Schultertasche, er trägt eine Bundfaltenhose und einen Kuli in der Brusttasche seines hellkarierten Hemds. Urlaub von der Fron der Prominenz: die Begegnung mit den Künstlern ist kostbar für ihn, da die Patienten keinerlei Ahnung haben, wer vor ihnen steht. In ähnlicher Weise gilt dies für die Bewohner des Hauses der Künstler selber: „None of them knew they were artists. It’s compelling and sometimes quite frightening to see this honesty.“ Nur drei Stunden verbrachte Bowie samt Entourage im Haus der Künstler. Er sprach mit einzelnen Patienten, machte sich Notizen und hielt im Skizzenblock mit Kohlestift fest, was er sah. Am großen Tisch im Aufenthaltsraum mit der Gugginger Truppe sitzend, gab es nachmittags Kaffee und Kuchen zur gemeinschaftlichen Stärkung. Dann kam das Taxi zurück nach Wien.

 

Jones in Gugging. Freitag, 9. September 1994. Für einen Menschen, der privacy nur in seinen eigenen vier Wänden kannte, besaß die am Vortag unternommene Visite in Gugging offenkundig noch zu sehr den Charakter eines kleinen Staatsbesuchs. Am nächsten Tag ist Bowie wieder da, unangekündigt und diesmal ganz allein. Und nur als David Jones. Er kennt sich nun schon gut aus im Haus der Künstler. Dr. Feilacher und das Personal lassen ihn in Ruhe; am Freitag ist er ein Besucher wie jeder andere. Jones nimmt eigenständig Kontakt auf zu den Künstlern, die Konversationen gestalten sich natürlich mehr als ein Radebrechen mit dem schlechten Deutsch aus seiner Berliner Zeit und den begrenzten Englischkenntnissen der Künstler. Da Bowies spätere Interviewäußerungen über Gugging voller faktischer Fehler und sonstiger Unrichtigkeiten sind, dürfte es eine ganze Menge an Missverständnissen bei der kauderwelschen Kommunikation gegeben haben. Egal. Die Verständigung läuft in weiten Teilen eher über aufmerksame Beobachtung und respektvolle Distanz, wenn Jones etwa August Walla aufmerksam zeichnet. Er versucht sich zu unterhalten mit Johann Korec, vielleicht weil ihm dessen erotische Frauendarstellungen gefallen. Auch für Johann Fischer interessiert er sich, doch der versteht kein Englisch. Bei der unvermeidlichen Kaffeerunde am Nachmittag ist der Koffeinjunkie Jones wieder dabei. Er lässt die Stimmung im Haus der Künstler auf sich wirken. Vor dem Gebäude stehend, teilt er seine Zigaretten mit den Insassen. So zumindest stelle ich mir den zweiten Tag in Gugging mangels Augenzeugenberichten vor. „I liked the sense of exploration and the lack of self­judgment about what the artists were doing, and it became one of the atmospheres for Outside“, erinnert sich Bowie später, „Gugging was an incredible experience …“

 

David Bowie, Gugging, 1994 (© Christine de Grancy)

 

Schmauchlümmel. David Bowies Kettenraucherei ist dokumentiert in zahlreichen Videos, Fernsehaufnahmen und Promofotos. Die berühmtesten Fotografien mit Zigarette im Mund sind wohl die des Gitanes rauchenden Thin White Duke: schwarz­weiße Profilaufnahmen – Bowie in weißem Hemd mit schwarzer Weste, die Arme affektiert angewinkelt am Körper. Cooler geht kaum. Einige der Fotos aus Gugging zeigen Bowie rauchend. Auf dem gelungensten hockt er auf der Wiese vor dem Haus der Künstler. Ein schöner Mann, 47 Jahre alt. Komplizierte Gedanken gehen erkennbar durch seinen Kopf, denn an etwas anderes als an Terry sollte er in diesem Moment wohl denken. „Time takes a cigarette, puts it in your mouth“, singt Bowie beim elegischen Rock’n’Roll Suicide am Ende des Ziggy-Stardust­-Albums. „You pull on your finger / Then another finger, then cigarette / Oh­oh­oh, you’re a rock ’n’ roll suicide“.

War David Bowies Kettenraucherei, gemäß der Spruchweisheit, ein Selbstmord auf Raten – womöglich ein Versuch, Terry nachzufolgen aus Scham über sein größeres Glück in der ungerechten Lotterie des Lebens? Die Vehemenz, mit der Bowie sich die Glimmstängel reinzog, spricht durchaus dafür. Seine erste Zigarette steckte er sich gleich nach dem Frühstück an, begleitend zum Kaffee, seiner anderen lebenslangen Sucht. Ende der 1990er Jahre, so gestand er Jarvis Cocker, waren es um die 40 Marlboro Lights täglich – „which is a cut­down from what I used to smoke, believe me.“ Rund 30 Jahre lang schaffte Bowie nämlich mindestens 60 pro Tag. Zigaretten waren stets eine Selbstverständlichkeit. Beide Eltern qualmten. David Bowies Liebesaffäre mit dem Nikotin begann in der Adoleszenz, als er die zuhause allenthalben herumliegenden Zigaretten entwendete, um sie heimlich zu quarzen.

Eine typische rite des passage: Ich rauchte mit 16 erst kurze Zeit Selbstgedrehte aus holländischem Tabak, weil das damals alle Linken und Grünen so machten. Aus Gründen der Selbstinszenierung erfolgte mein Umstieg auf John Player Special, weil die schwarzen Packungen cool wirkten. Was insofern müßig war, da ich ohnehin nur im Geheimen und also allein schmauchte, nämlich während der Schulpausen im kleinen Wald neben dem Landschulheim. Oder in Traunstein und München, mehr oder weniger fern vom Heimatdorf. Für Bowie waren die John Players ebenso sein Einstieg, da sie als Lieblingssorte seines Vaters leicht verfügbar waren. Eine merkwürdige Überschneidung zwischen uns. Und kein Zufall vielleicht, dass Bowie ausgerechnet auf dem Cover von Scary Monsters mit Zigarette zu sehen ist; nicht beim Pierrot im Vordergrund, sondern als Schattendouble im Hintergrund, das eine Kippe geziert in der Hand hält. Mangels Rauchkumpanen gab ich das Gequalme jedenfalls wieder auf, denn allein macht es wenig Spaß. Rauchen ist ein Gemeinschaftsritual.

Was das bedeutet, konnte ich bei meinen Besuchen in Gugging beobachten. Vereintes Rauchen stiftet Zusammenhalt ebenso wie Solidarität. Das zeigte sich etwa bei Edmund Mach, war doch Uneigennützigkeit einer seiner auffälligsten Charakterzüge im Umgang mit den anderen Patienten. Kam Franz Kernbeis, um vom Kettenraucher Mach eine Zigarette zu erbetteln, gab der ihm diese so bereitwillig, wie er dem durch die jahrzehntelange Einnahme von Psychopharmaka permanent zitternden Philipp Schöpke unaufgefordert beim Drehen einer Zigarette half, deren Tabak Schöpke aus weggeworfenen Kippen zusammengetragen hatte. Gemeinsam wurden die Glimmstängel aufgeschmaucht. Überall fanden sich Genossenschaften von Rauchern zusammen, zumal man damals noch im Haus der Künstler qualmen durfte. Mitzurauchen war für mich ein Weg, umstandslos aufgenommen zu werden in die stinkende Rotte. Kein Gugging-Besuch daher ohne eigens gekaufte Zigarettenschachtel. Die Gugginger, Schmauchlümmel allesamt, rauchten ohne Unterlass und mit einer gierigen Selbstverständlichkeit, die ich so woanders noch nie gesehen hatte. Das Verteilen von Zigaretten war ein Brückenschlag – das Zusammenstehen beim Paffen bedeutete stummes Einvernehmen. Sie rauchten wie um die Wette. Jeder Zug, so schien mir, wurde eingesogen als wäre er der womöglich letzte.

Als vorübergehender Gast und teilnehmender Beobachter wurde mir schließlich klar, dass die Patienten sich wohl deshalb so verzweifelt an die Rauchwaren klammerten, weil diese ihnen Halt gaben in einer Lage, in der alle Sicherheiten einer bürgerlichen Existenz fehlten. Rauchen als Trost. Umso elendiger erschien mir der Anblick, sah ich Patienten mit Zigarette allein durch den Flur schlurfen oder im Sommer einsam draußen sitzen und rauchen. Terry, so erinnert sich der Anstaltspfarrer, hatte die allermeiste Zeit seiner Aufenthalte in Cane Hill selbstredend nichts anderes zu tun, als durch die labyrinthischen Gänge des Gebäudekomplexes zu wandern und Zigaretten zu rauchen, die er entweder gestohlen, gefunden oder erbettelt hatte. Auch er ein trauriger Schmauchlümmel in der Psychiatrie. Bei seinem Halbbruder gehörte die Zigarette bei Bühnenauftritten eher zu den Berufsutensilien. In den für ihn goldenen 70ern war Bowie von den John Players längst auf Gitanes und Gauloises umgestiegen. Rauchen als intellektuelle Selbstinszenierung. Ein durch subtile Erotik gekennzeichnetes Foto zeigt ihn 1974 mit Elizabeth Taylor: Die beiden sind eng umschlungen, sie trägt einen Männerhut und hat ihre Zigarette in Bowies Mund geführt, der gleichsam dank ihrer Dominanz daran ziehen darf.

Bowie zelebriert seinen öffentlichen Zigarettenkonsum nicht nur auf der Bühne, sondern ebenso im Fernsehen, in Videos, während Interviews und bei jeder sich sonst noch bietenden Gelegenheit. Während der Sound + Vision-Tour hatte Bowie – wie ich es vergleichbar bisher sonst nur bei Ian McCulloch während eines Echo & The Bunnymen­-Konzerts im Kilburn National 1997 erlebt habe – einen Rauch­Roadie dabei, dessen einzige Aufgabe darin bestand, ihm unentwegt frisch angezündete Zigaretten in den Mund zu stecken, damit er jeweils ein paar Züge nehmen konnte, bevor er sie ausspuckte und dann mit beeindruckendem Geschick ins Publikum kickte. Damit war die Selbstinszenierung als Schmauchlümmel auf die Spitze getrieben. Hinter Bowies Zurschaustellung als schlotrauchender Rockstar trat freilich der Suchtaspekt mehr und mehr hervor. Erkennbar war das daran, dass die schöne Theatralik, seine Zigaretten mit Streichhölzern zu entzünden, irgendwann ersetzt wurde durch die Pragmatik von Plastikfeuerzeugen. Ein Kipppunkt ins Stillose.

Das Ausmaß seiner Abhängigkeit war zu besichtigen während der Konzerte mit Tin Machine. Bowie – freiwillig deklassiert zu einem ordinären Bandmitglied – permanent qualmend. Die Heirat mit der das Rauchen verabscheuenden Iman im April 1992 machte seine Nikotinknechtschaft immer mehr zum Problem. Er versuchte wiederholt, loszukommen vom verfluchten Laster. Doch egal, ob er Hypnosetherapien absolvierte oder dutzendweise australische Teebaumstäbchen kaute, es half nichts. Eine veritable Herkulesaufgabe. Die Kraft, das Nikotin komplett aufzugeben, fand Bowie erst nach der Geburt seiner Tochter Alexandria im Jahr 2000. Die nun rigoros durchgezogene Entwöhnung bezeichnete er als den härtesten Entzug, den er je durchgestanden hat. (Was angesichts seines Rauschmittelabusus während der 1970er­ Jahre nicht wenig hieß.) Lexi sollte ohne rauchende Eltern aufwachsen, und noch möglichst lange etwas von ihrem Vater haben.

Anderthalb Jahrzehnte lebte Bowie (fast) ohne Zigaretten, doch zumindest sein anderes Laster, der Kaffee, blieb ihm. Außerdem konzentrierte er sich nun auf gesündere Süchte: „I’m probably also addicted to television and certain kinds of newspapers and art“, erklärte er 1997. Der gesündere Lebensstil aber konnte die Spätfolgen seines massiven Drogenmissbrauches und der langjährigen Nikotinabhängigkeit nicht ungeschehen machen. Bowies Leberkrebs brauchte nur achtzehn Monate, um ihn dahinzuraffen. Hätte er doch nicht so viel geraucht, beklagt meine Frau immer wieder. Als wir von seinem Tod erfuhren, hatte sie Tränen in den Augen. David Robert Jones starb zwei Tage nach seinem 69. Geburtstag. R.I.P. David Bowie.

 

Oswald Tschirtner und David Bowie, Gugging, 1994 (© Christine de Grancy)

Titelbild

Uwe Schütte: Sternenmenschen. Bowie in Gugging.
Mit 29 Fotografien von Christine de Grancy.
starfruit publications, Fürth 2025.
248 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783922895671

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