Gutes Leben oder Moral?

Martin Hähnel und Maria Schwartz analysieren Konzeptionen des Guten in philosophischen und sozialwissenschaftlichen Theorien

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Moral ist angesagt: Unternehmen berufen sich auf Werte, Mitarbeiter werden auf Moralkodices verpflichtet, umstrittene Gedichte an Hauswänden überschrieben, Denkmäler entfernt, Straßen umbenannt und Schauspieler aus Filmen geschnitten. Zugrunde liegt ein neuerdings erweitertes Moralverständnis. Es geht nicht mehr allein um das Verbot einer direkten Schädigung anderer. Es geht um die Frage des rechten Lebens. Das Bändchen Theorien des Guten zur Einführung von Martin Hähnel und Maria Schwartz ist also durchaus aktuell. Die entscheidende Frage nach dem Verhältnis von gut und richtig, von Moral und Lebenskunst wird allerdings nicht überzeugend geklärt. Die Autoren präsentieren – historisch geordnet – eine Vielfalt philosophischer und sozialwissenschaftlicher Theorien. Diese verstehen unter „gut“ oder dem „Guten“ je Unterschiedliches: Glück, Tugend, den an Gottes Gebote oder an das vernunftbestimmte Sittengesetz gebundenen Willen, Wohlstand, die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten, Ablösung von irdischen Dingen.

Innerhalb jedes einzelnen dieser Ansätze werden die zentralen Vorstellungen differenziert dargestellt, um Hinweise zu einschlägigen Kontroversen ergänzt und einige Vorzüge und Schwachpunkte benannt. Es fehlt jedoch ein klares Argumentationsziel, auf das die Fülle der additiv aneinandergereihten Informationen systematisch bezogen wäre. Zwar klingt das inhaltliche Interesse der Autoren an: Sie favorisieren die neoaristotelische Tugendlehre und bewerten Kants formale Moralphilosophie als unzulänglich – sie liefere keine „wirklichkeitsgemäße Beschreibung des sittlichen Handelns“. Doch weder die Tauglichkeit der Tugendlehre zur Begründung eines modernen – säkularisierten – Moralverständnisses noch die Realitätsferne des deontologischen Ansatzes werden argumentativ oder empirisch ausreichend gerechtfertigt.

Einleitend steht eine „Kleine Semantik des Guten“. Diese entscheide mit, „ob wir das Gute als Gegenstand der Ethik retten können oder opfern müssen.“ Dargestellt werden alltagssprachliche Verwendungen wie Begrüßungskonventionen, Abgrenzungen gegen böse oder schlecht als exklusive Unterscheidungen, nicht als logische Gegensätze, unterschiedliche Bedeutungen (beispielsweise instrumentell: gut für jemanden; technisch-performativ: gut in etwas; konstitutiv: gut als etwas), substantivische Formen wie das Gute, das menschlich Gute in Form von Tugend und gut im moralischen Sinn als Bewertung von Folgen, Handlungen, Charakteren, Lebensentwürfen, dem Willen.

Der erste Hauptteil behandelt „Klassische Theorien des Guten“. Er beginnt mit den Tugendlehren der Antike. Diese konzipieren das Gute als ewige Suche (so eine der unterschiedlichen Lesarten von Plato), als Glück, das durch sinnliche Lust, politisches Engagement und am besten durch theoretische Kontemplation erreicht werden kann (Aristoteles), als Streben nach Lust und Schmerzvermeidung (Epikur), als tätiges Leben, in dem der Mensch seine Anlagen verwirklicht (Cicero). Die Ansätze stimmen in der zentralen Grundannahme überein: Wer das Gute schaut, wird gut handeln – schließlich ist allein das tugendhafte Leben ein glückliches.

Im Mittelalter wird die antike Tugendethik durch eine religiöse Gebotsethik abgelöst: „Was wir Menschen als Gutes wollen sollen – so Thomas von Aquin – ist, wovon Gott will, dass wir es sollen“. Das Angenehme ist bloßes Mittel. Das sittlich Gute, also das Vollkommene, wird um seiner selbst willen begehrt.

In der Neuzeit hebt Kant die Gleichsetzung von „gut“ und „erstrebenswert“ auf. Tugenden (Talente, Mut) und Glücksgaben (Reichtum, Macht) sind nicht einfach gut – alle Vorzüge können auch zum Schlechten gebraucht werden. Gut ist eine Handlung, wenn die zugrundeliegende Maxime verallgemeinerungsfähig ist und befolgt wird, weil sie gut ist. Der Utilitarismus entwirft mit seiner sozialen Nutzenethik ein Gegenmodell: Motive spielen keine Rolle. Gut sind Freude und Vorteile bezogen auf das größte Glück für die größte Zahl (Jeremy Bentham). Damit entfällt Kants Spielraum des Erlaubten, das heißt Handlungen, die die Freiheit anderer nicht einschränken. Schließlich gilt: Glücksmaximierung ist stets die beste Handlungsoption. Kritik setzt an 4 Punkten an: Es bedarf eines qualitativen Kriteriums des Richtigen (John Stuart Mill: „Besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr“). An die Stelle des Guten tritt das Nützliche. Vergleiche und Aufsummierungen verschiedener Lüste sind schwierig. Die Verteilungsfrage bleibt offen: Darf man das Mehrheitsglück auf Kosten von Einzelnen oder Minderheiten verfolgen? Friedrich Nietzsche schließlich vollzieht eine radikale Umwertung aller ethischen Vorstellungen. Die klassische Metaphysik des Guten sei bloßes Distinktionsmittel einer vornehmen Klasse. Gut ist das, „was …den Willen zur Macht… erhöht“.

Der zweite Hauptteil diskutiert „Moderne Theorien des Guten“. Im Zentrum stehen – neben einigen sozialwissenschaftlichen Ansätzen – die soziale Kontrakttheorie und eine Wiederbelebung der antiken Tugendethik. Im Kontraktualismus geht es um eine Theorie des Rechten. John Rawls schlägt ein fiktives Konsensmodell vor, nach dem freie und gleiche Beteiligte unter dem Schleier der Unwissenheit Rahmenbedingungen bestimmen (gleiche Grundrechte, sozioökonomische Ungleichheit nur soweit sie auch den am schlechtesten Gestellten zum Vorteil gereicht, Chancengleichheit). Innerhalb dieser Grenzen sind Menschen frei, ihre eigenen Glücksvorstellungen zu entwickeln. Das Gute (unter anderem Rechte, Wohlstand) und das Gerechte ergänzen einander. Onora Sylvia O‘Neill und Christine Korsgaard verknüpfen beide enger durch Rückgriff auf antike Vorstellungen von Tugenden: Was zunächst äußere Pflicht war, wird Teil der eigenen Identität.

In der phänomenologischen Wertethik genießen Werte Geltung, jedoch nicht wie im Mittelalter einen ontologischen Status. Das Gute haftet nicht – wie bei Kant – am Willen, sondern am Akt, der Gutes und Böses realisiert. Tugenden haben Vorrang vor Pflichten – sie sind der praktische Ort der Wertrealisierung. Ökonomische Gütertheorien behandeln die Produktion und gerechte Verteilung von Wohlstand. Die Berechnungen stützen sich zumeist auf die Aggregierung von Eigeninteressen. Der Befähigungsansatz (Amartya Sen, Martha Nussbaum) hingegen expliziert das Gute über individuelle Entwicklungschancen. Die psychologische Glücksforschung untersucht den Zusammenhang persönlich erlebter Glücksmomente mit anderen Variablen (darunter Gesundheit und Einkommen). Die positive Psychologie bezieht weitere Faktoren ein, wie das Engagement in einer Tätigkeit und die Einbettung in Sinnzusammenhänge.

Im Konsequentialismus geht es nicht um die Qualität des Handelns oder von Handelnden, sondern von Zuständen. Gut ist ein Weltzustand, der durch die unparteiliche Maximierung positiver Handlungsfolgen herbeizuführen ist. Dies ist sachlich eine Überforderung, da das Gute immer und überall zu tun ist, und motivational eine Unterforderung, da gute Folgen auch aus schlechten Handlungen resultieren können. Einzelne Vertreter wie Henry Sidgwick, Richard Mervyn Hare, Peter Singer und Derek Parfit fokussieren vor allem auf Wohlwollen, das Wohlergehen anderer und auf eine generalisierte Weltverantwortung.

Die neoaristotelische Tugendethik bewertet nicht Handlungen nach Regeln oder Folgen, sondern die Person. Das gelingende Leben – so die zentrale Annahme – ist an Tugenden gebunden, das heißt an Dispositionen, das Gute zu tun, zu wählen und zu lieben. Als Verknüpfung von evaluativen und deskriptiven Urteilen enthalten sie sprachphilosophisch analysierbares ethisches Wissen. So leitet etwa Philippa Foot aus ihren grammatischen Analysen von „gut“ spezifische Eigenschaften der Spezies homo sapiens ab und schlussfolgert: Menschen können nur glücklich sein, wenn sie ein moralisches Leben führen, sie „brauchen Tugenden wie Bienen einen Stachel“. Alasdair MacIntyre zufolge sind Tugenden allerdings an den sozialen Kontext gebunden. 

Ein kurzer Überblick über interkulturelle und religiöse Konzeptionen (Islam, Judentum, Buddhismus, Konfuzianismus, Daoismus) beschließt den Text. Zumeist binden diese Ansätze das Gute an göttliche Transzendenz, verorten es im konkreten Handeln und entwickeln Techniken, um das Gute zu erkennen, zu erfahren und erleben.

Die Autoren favorisieren die neoaristotelische Tugendlehre. Aus meiner Sicht unterschätzen sie allerdings sowohl die Schwächen tugendethischer als auch die Stärken deontologischer Ansätze. So wird zwar angemerkt, dass Tugenden kontextgebunden sind und der Ansatz einer Weiterentwicklung bedarf. Entscheidende Probleme aber werden nicht explizit diskutiert: Die Qualität des Charakters ist kein hinreichendes Kriterium der ethischen Beurteilung – der Handelnde kann irren (gut gemeint ist nicht gut). Zudem können einzelne der empfohlenen Grundsätze (Tugenden) konfligieren. Wie ließe sich dann eine Hierarchisierung begründen? Vor allem aber gilt: Soweit die Grundsätze von einer etablierten Praxis, vom herrschenden Sprachspiel, ausgehen, bedarf es einer Übereinstimmung in den Werten und Vorstellungen vom guten Leben. Diese ist in modernen komplexen Gesellschaften nicht zu erwarten. Auch Foots Rückbindung an die Natur des Menschen lässt Fragen offen: Wie ist diese angesichts heutiger Techniken von Organaustausch, Lebensverlängerung, Genschere und in vitro Befruchtung zu bestimmen? Insgesamt fehlt dem Ansatz ein neutraler Standpunkt als Korrektiv etwa für totalitäre Praktiken.

Genau um die Begründung solch unabhängiger Prüfmöglichkeiten von Handlungsprinzipien geht es bei Kant und an ihm orientierten kontraktualistischen Ansätzen. Der Vorwurf mangelnder Wirklichkeitsnähe überzeugt nicht. Empirische Studien zur Moralentwicklung stimmen mit Kants Beschreibung überein: Alle Kinder kennen früh moralische Regeln, verstehen sie als universell, autoritätsunabhängig und unabänderlich gültig, grenzen sie angemessen gegen gesetzte, veränderbare und nur für die Eigengruppe geltende Konventionen sowie einen persönlichen Bereich ab. In diesem Bereich des Erlaubten können Individuen ihre Vorstellungen eines guten Lebens autonom bestimmen. Moralische Motivation (Kant spricht von Charakterstärke) bauen die Kinder jedoch – unterschiedlich erfolgreich – erst in einem zweiten, zeitlich verzögerten Lernprozess auf. Wem aber Moral wichtig ist, der befolgt ihre Regeln nicht im Hinblick auf Sanktionen (Strafe und Schuldgefühle), sondern aus Achtung, weil er sie als richtig anerkennt.  Diese Befunde zeigen: Moralische Motivation ist ein Problem. Die tugendethische Grundannahme einer Deckungsgleichheit von Interesse und Moral, von gelingendem und tugendhaftem Leben, trägt nicht mehr. Damit wird auch die klassische These, moralisches Wissen verbürge moralisches Handeln, fragwürdig. Studien zeigen: Auch Referenten zum Thema des barmherzigen Samariters ignorieren die konkrete Hilfsbedürftigkeit Anwesender; Moralphilosophen spenden nicht mehr als andere Bürger. Das passt zu Hannah Arendts Erfahrungen 1933: „Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, dass unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Martin Hähnel / Maria Schwartz: Theorien des Guten. zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2018.
216 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783960603016

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