Weltweite Aufmerksamkeit

Gerhard Schweizer über Frauenrechte, islamische Toleranz und den Assad-Terror in Syrien

Von Tom GoellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tom Goeller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Bilder gingen um die Welt: Tausende Menschen […] bewegen sich in kilometerlangen Schlangen entlang von Autobahnen, über Feldwege in hitzeflimmernder Ebene, lagern zu Hunderten auf überfüllten Bahnsteigen, drängen in ohnehin schon überfüllte Züge: Es sind Bilder, die uns im September 2015 in einer Intensität wie nie zuvor erreichen. […] Der Großteil von ihnen kommt aus Syrien.

Mit der Schilderung des Flüchtlingsdramas aus dem Herbst 2015 beginnt der freie Schriftsteller Gerhard Schweizer sein Buch Syrien verstehen. Damit bedient er unmittelbar unser aktuelles Interesse an dem levantinischen Land. Er fährt fort: „Diese Bilder gingen ebenfalls um die Welt: Die traditionsreiche Handelsmetropole Aleppo im Norden Syriens ist eine durch Bomben und Straßenkämpfe zerstörte Stadt. Gerade der weit ausgedehnte Basar, einer der schönsten des  islamischen Orients, ein ‚Weltkulturerbe‘, besteht nur noch aus geschwärzten Ruinen.“

Der promovierte Kulturwissenschaftler, der seit 1960 den islamischen Kulturraum bereist, mutet dem Leser zum Auftakt gleich eine Bandbreite der Negativschlagzeilen über Syrien zu. Sie sind uns vertraut, aber doch nicht in allen Details. Hier kann man sie noch einmal nachlesen. Doch Schweizer wirbt auch gleich für das Weitere, das noch folgt: Syrien verdiene „ohnehin weltweite Aufmerksamkeit“. Denn es bilde einen mehr als 3.000 Jahre alten Kulturraum, „mit überragenden Zeugnissen aus antiker, frühchristlicher und islamischer Zeit“ – sofern diese Belege nach dem Wüten der islamischen Fundamentalisten noch vorhanden sind, muss man hinzufügen. Schweizer, der bereits Mitte der 1990er Jahre Syrien mehrfach bereiste, will dem Leser nahebringen, „dass die Krise von heute Wurzeln in früheren Jahrzehnten, ja früheren Jahrhunderten hat. Und mehr noch: dass der Kulturraum Syrien schon in der Vergangenheit schwerwiegende Umbrüche meistern musste“.

Kreuzzüge und Kolonialmächte

In 16 Kapiteln führt der Autor durch die Geschichte des Landes, berichtet von Epochen „islamischer Toleranz“, von den Frauenrechten im Koran und über Bimaristan Nuri, wo einst die modernsten Ärzte der Welt tätig waren. Mehr als gemeinhin im Westen bekannt, haben die Kreuzzüge des Mittelalters ein „Trauma“ in Syrien hinterlassen, das durch die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich weiter untermauert wurde. Diese zogen in den sogenannten Mandatsgebieten des Nahen Osten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges willkürlich neue Grenzen, die mit der geschichtlichen Entwicklung nichts zu tun hatten. Unter den Folgen leiden die gesamte Region und Europa bis heute.

„Und Syrien wurde einer der maßgebenden Brennpunkte, in denen sich die Religionsspaltung in Sunniten und Schiiten entwickelte.“ Bis vor wenigen Jahren habe es dort jedoch – gemessen an alle anderen islamischen Staaten – eine besonders große religiöse Vielfalt und Toleranz gegeben. Schweizer weiß noch davon zu berichten, wie 40.000 Juden in Syrien lebten und erzählt von deren Viertel Harat al-Jahud in der Nähe der Omayaden-Moschee in Damaskus. Davon kann heute keine Rede mehr sein.

Der Autor hat sich intensiv mit der Reaktion Syriens auf die Moderne auseinandergesetzt. Hier liege „der Ursprungsort des arabischen Nationalismus“. Damit sei Syrien „eines der ersten islamischen Länder, in denen der Konflikt zwischen säkularen Nationalisten und muslimischen Fundamentalisten eine explosive Dynamik entfaltete“. Denn zur Entstehung des modernen Islamismus verweist der Autor auch auf die „widersprüchliche, häufig von doppelter Moral geleitete westliche Politik“.  Erneut führt er Großbritannien und Frankreich als Hauptverursacher an: „In der Brutalität, mit der die Kolonialherren Aufstände niederschlugen, unterschieden sie sich kaum von muslimischen Despoten, denen sie oft mit Pathos jede Menschlichkeit, jede Kultur absprachen. Diese Doppelzüngigkeit westlicher Politik setzt sich mit den USA fort.“ So hätten es nach Ansicht Schweizers Islamisten seither „deshalb leicht, ‚Demokratie‘ und ‚Menschenrechte‘ als bloße Phrasen lächerlich zu machen, den Westen als ‚dekadent‘ und ‚materialistisch‘ zu brandmarken“ und arabische Werte und Lebensweisen als besser hervorzuheben.

Assads Terror

Warum aber gibt es überhaupt Islamisten? Warum wurde Syrien in den letzten Jahren derart nachhaltig zerstört? Schweizers Antwort:

Islamisten findet man vorrangig in jenen Volksschichten, die durch moderne Umbrüche aus ihrer gewohnten Lebensform gerissen wurden, ohne nun von dem verheißenen Fortschritt nach westlichem Vorbild zu profitieren. Ohne aber auch in altvertraute, unreflektiert gelebte Traditionen zurückzufinden. Sie verlangen nach einem neuen Halt, der ihnen ebenso unbeirrbar richtig erscheinen soll wie einst der alte, der verloren ging.

Was nun trieb 2015 so viele Syrer zur Flucht nach Europa? Im Grunde genommen eine menschlich zutiefst nachvollziehbare Motivation, ist Schweizer überzeugt: ohne Angst vor einem Attentäter oder vor Bomben leben zu können. Leben – nicht in Ruinen, ohne Wasser, Strom, Essen. Viele der staatlichen Dienstleistungen funktionieren nicht mehr. „Hinzu kommt, dass viele Kinder Zeugen ungeheuren Blutvergießens geworden sind. Eine ganze Generation gerät in Gefahr, durch Krieg und Chaos traumatisiert zu sein“, sagt Schweizer und weist darauf hin, dass „die Mehrheit der Syrer“ nicht nur vor dem IS-Terror geflohen sei, „sondern vor dem Terror des Assad-Regimes“.

Was bleibt von Syrien?

Zunächst bleibt der Tod von etwa einer Million und die Flucht von rund fünf Millionen Syrern aus ihrem Land. Dann die Zerstörung zahlreicher uralter Bauten und Baudenkmäler, die zum Weltkulturerbe zählen. Ein Wiederaufbau ist, das zeigte sich auch im Nachkriegseuropa, kaum mehr möglich. Allenfalls ein Neubeginn. Und so fallen die abschließenden Bewertungen des Autors über Syrien und den Nahen Osten im Allgemeinen denn auch nüchtern aus: „Man kann nur hoffen, dass die immer radikaler geführten Religionskriege auf lange Sicht zumindest in einem Bezug einen ähnlichen Effekt haben wie einst der Dreißigjährige Krieg: Es sollte unter den Zerstrittenen Ernüchterung einkehren, und die Ordnung einer säkular orientierten Gesellschaft eine neue nachhaltige Chance erhalten.“

Das Buch Syrien verstehen richtet sich an Leser, die gewissermaßen eine archäologische Neigung haben. An diejenigen, die tiefer schürfen wollen, die dem jetzigen Konflikt auf den Grund gehen wollen. Der Autor hat die Gabe, neben den historischen Zusammenhängen genauso die gegenwärtigen politische Zusammenhänge erklären zu können, oft in einem Reportage-Stil, der Historisches mit Selbsterlebten verbindet, so als sei Schweizer schon immer in Syrien ansässig gewesen. Das ist keine Hochstapelei des Autors. Es ist vielmehr ein hervorragendes Stilmittel, womit er sich ein breites Publikum erschließt. Das ist dem Autor zumindest zu wünschen.

Titelbild

Gerhard Schweizer: Syrien verstehen. Geschichte, Gesellschaft und Religion.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015.
480 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783608949087

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