Verbrecherische Literatur

Nicole Seiferts engagiertem Sachbuch „Frauen Literatur“ ist ein großes Publikum zu wünschen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht einmal 15% der im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach gelagerten Vor- und Nachlässe stammen von Schriftstellerinnen. Wie die 2019 zur Leiterin des Archivs gekürte Germanistin Sandra Richter in einem Interview mit der Welt am Sonntag weiter erklärt, spiegelt sich in diesem Missverhältnis ein „seit 1750 währendes Ungleichgewicht“. Um dem Abhilfe zu schaffen, sei es notwendig, die bestehenden Archive „zusammenzudenken“. Richter nennt beispielhaft das Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel und den Kölner Frauen Mediaturm.

Was aber sind die Ursachen dieses sich durch die Jahrhunderte ziehenden Gender Gap der Literatur? Mit dieser Frage haben sich seit der Neuen Frauenbewegung und der damit einhergehenden Entstehung der feministischen Literaturwissenschaft etliche AutorInnen und ForscherInnen (in aller Regel weiblichen Geschlechts) befasst und ihre Erkenntnisse in einer inzwischen schon erklecklichen Reihe von Monographien, Aufsätzen und Handbüchern niedergelegt. Als jüngste dieser Publikationen schließt sich nun Nicole Seiferts Buch Frauen Literatur an. 

Das Wort Frauen hat sie im Titel aus zwei Gründen durchgestrichen. Zum einen, weil der „Begriff ‚Frauenliteratur’ eigentlich weg [kann]“, und zum anderen, weil Autorinnen „aus Kanon und Curricula gestrichen“ werden. Die aktuellen Leselisten der Rahmenlehrpläne an den Schulen gäben jungen Erwachsen daher die unausgesprochene Botschaft auf ihren Lebensweg mit, dass Erzählen männlich sei und sie „die Welt, so wie die Männer sie sehen“, kennen müssten. Doch ist dem tradiert männlich geprägten Kanon nicht nur dieser Missstand anzulasten. Er wirkt sich darüber hinaus auf schulische und universitäre Handapparate aus und beeinflusst die Pflichtlektüren in den Seminaren. Ebenso die Auslagen in Buchhandlungen, die Anschaffungen der Bibliotheken und Büchereien und somit das, was das interessierte Publikum „überhaupt erst einmal zu sehen bekommt“.

Der von Seifert vorgelegte Band unterscheidet sich von einschlägigen Fachpublikationen nicht zuletzt durch seine sehr persönliche Annäherung an das Thema, in das die Autorin mit der eigenen Lesehistorie und der ihres Vaters einsteigt. Damit andressiert sie im Unterschied zu jenen nicht ein Fachpublikum, sondern die interessierte Öffentlichkeit überhaupt. Neue Erkenntnisse hat sie hingegen kaum zu bieten. Doch verleugnet Seifert vorgängige Erhebungen, Forschungen und Erklärungsansätze, auf deren Ergebnisse sie sich stützt, keineswegs. Im Gegenteil. Immer wieder verweist sie auf die Riesinnen, auf deren Schultern sie steht, und trägt schon damit dazu bei, dass diese verdienstvollen Autorinnen und ihre Werke nicht vergessen werden. Eine ihrer Gewährsfrauen ist die 2011 verstorbene feministische Science-Fiction-Autorin Joanna Russ, die in den 1970er und 80er Jahren nicht nur bahnbrechende Werke des Genres geschrieben hat und für ihre SF-Literatur mehrfach mit den begehrten Hugo und Nebula Awards ausgezeichnet wurde, sondern 1983 mit ihrem noch immer nicht ins Deutsche übersetzten Buch How to Suppress Women’s Writing einen bedeutenden Beitrag zur Beantwortung der Frage geleistet hat, wie Literatinnen ‚stummgeschaltet’ werden. 

Zu den empirischen Quellen Seiferts zählt der an der Universität in Rostock erstellte Datenreport #frauenzählen, der etwa zeigen konnte, dass Bücher von Männern doppelt so häufig rezensiert werden wie Bücher von Frauen – und nicht nur dies, Bücher von Autoren werden auch weit ausführlicher besprochen.

„Sind Autorinnen nichts, womit Männer sich beschäftigen können?“, fragt Seifert rhetorisch und meint eigentlich die Werke der Autorinnen. Es könnte fast so scheinen. Doch wie etliche der nicht allzu zahlreichen von Männern geschrieben Rezensionen zu Büchern von Autorinnen zeigen, können sie das sehr wohl, nur befassen sie sich offenbar lieber mit dem Äußeren der Schriftstellerinnen als mit ihren Werken. Denn die an sich schon wenigen Zeilen, deren sich besprochene Werke von Frauen erfreuen dürfen, werden von den Herren Rezensenten überdies gerne dazu genutzt, sich über das Aussehen der Schriftstellerinnen auszulassen, statt die literarische Qualität ihrer Bücher zu beurteilen. Ein berühmt-berüchtigtes Beispiel für eine solche Rezension lieferte Martin Ebel, der am 2. August 2019 im Berliner Tagesspiegel darüber sinnierte, dass die Autorin eines Buches auf ihn „wie ein aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen“ wirke. 

Seifert zeigt, dass schon „einfache Umkehrungen“ genügen, um zu entlarven, „wie unterschiedlich die Erwartungen an die Geschlechter nach wie vor sind, wie verfestigt, und wie verschämt die stereotypen Rollenklischees sind, mit denen Autorinnen zu kämpfen haben“. Sie lässt dies deutlich vor Augen treten, indem sie in einer von einem Mann geschriebenen Rezension den Vornamen der besprochenen Literatin durch einen männlichen ersetzt. Dann hat plötzlich ein Lars ein „Näschen“ und „regelmäßige Züge“, die „beinahe etwas Puppenhaftes“ hätten, „wären da nicht die Augen, hellgrün und hellwach“. Sind derartige Auslassungen in einer Rezension über ein Buch von einem Mann, die ernstgenommen werden will, überhaupt vorstellbar? Wohl kaum.

Der Gender Gap in der Literatur liegt jedoch nicht nur am männlich geprägten Kanon und den sexistischen Gepflogenheiten vieler Rezensenten, sondern hat noch einige weitere Ursachen. Schon die Verlage veröffentlichen für jedes Buch von einer Frau zwei, die von Männern geschrieben wurden. Jedenfalls, was die sogenannte Höhenkammliteratur betrifft. Dementsprechend vernachlässigen insbesondere Verlage mit einem höheren Prestige die Werke von Autorinnen. „Entscheidend“ dafür sei „allein die Qualität, nicht das Geschlecht. Entscheidend ist die Aussage, der Stil, da braucht es keine Genderaufsicht“, zitiert Seifert den Verleger Joachim Unseld. Und ein „Leiter eines deutschen Literaturhauses“ erklärt, es würden mehr Bücher von Männern gelesen, weil „diese Bücher besser sind.

Es ist allerdings nur sehr schwer vorstellbar, dass die beiden Herren naiv genug sind, das auch wirklich zu glauben. Denn die Beurteilung anonymisierter Manuskripte und Experimente mit Texten, die einmal unter einem männlichen, einmal einem weiblichen Namen bei Verlagen eingereicht wurden, sprechen eine ganz andere Sprache, wie verschiedene Beispiele von Seifert zeigen. So wurden beim Berliner Literaturwettbewerb Open Mike die konkurrierenden Texte anonym eingereicht. Aus einigen Hundert Einsendungen wurden zwanzig für das Finale ausgewählt. Wie sich zeigte, waren 16 dieser Texte von Frauen geschrieben worden und nur vier von Männern. Einem weiteren von Seifert angeführten Beispiel zufolge verschickte die US-amerikanische Schriftstellerin Catherine Nichols einen Probetext an einhundert Literaturagenturen. Die eine Hälfte unter ihrem Namen, die andere unter einem männlichen Pseudonym. „Der vermeintliche Autor wurde siebzehnmal um das vollständige Manuskript gebeten, die Autorin ganze zweimal.“  

Nachdem Seifert die Lesenden mit ihrer persönlichen Lektürehistorie vertraut gemacht und den Gender Gap im aktuellen Literaturbetrieb aufgezeigt hat, macht sie anhand eines knappen Abrisses der deutschsprachigen Literaturgeschichte deutlich, dass es schon immer zahlreiche Autorinnen gab, von denen nicht wenige zu ihren Lebzeiten bekannt und erfolgreich waren, jedoch nach ihrem Tod sehr schnell aus dem Kanon geschrieben wurden. So nennt eine 1825 erschienene Bibliographie 500 deutschsprachige Autorinnen, das Lexikon deutscher Frauen der Feder aus dem Jahr 1898 sogar schon mehr als 5000.

Dabei waren die „Produktionsbedingungen weiblichen Schreibens“ über die Jahrhunderte hinweg in vielfacher Hinsicht fundamental eingeschränkt. Nicht selten hatten sie weder einen eigenen Schreibtisch, noch gar das von Virginia Woolf geforderte Zimmer für sich, in das sie sich hätten zurückziehen können. Und einen Mann, der ihnen den Rücken freihielt und etwa die Hausarbeit erledigte, damit sie schreiben konnten, hatten sie schon gar nicht. So saßen sie nicht selten frühmorgens vor Beginn des Tagesswerks oder spät in der Nacht, nachdem der Tisch abgeräumt, das Geschirr gespült und die Kinder ins Bett gebracht worden waren, mit dem Stift in der Hand am Küchentisch – und manche von ihnen, wie etwa Marlen Haushofer, brachten dabei wunderbare Romane zu Papier.

Nicht nur die Produktionsbedingungen von Autoren und Autorinnen unterschieden sich, sondern auch ihre „soziale[n], politische[n], ökonomische[n], kulturelle[n] und intellektuelle[n] Erfahrungswelt[en]“, was sich selbstverständlich auch in „andere[n] Themen und ästhetische[n] Ausdrucksformen“ sowie in „eigene[n] Perspektiven“ niederschlägt. Mit den Erfahrungen, Perspektiven und Themen von Literatinnen konnte und kann so mancher Rezensent allerdings rein gar nichts anfangen. Pars pro toto mag einer der zahllosen sexistischen Ausbrüche des päpstlichen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki stehen: „Wen interessiert, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert? Das ist keine Literatur – das ist ein Verbrechen“, wird er von der Autorin zitiert.

Wie sich weibliche Lebensbedingungen literarisch in den Werken von Frauen niederschlagen, verdeutlicht Seifert an etlichen Beispielen. Unter ihnen etwa die „Schriftstellerin und Aktivistin“ Louise Aston, die als eine der „schillerndsten Persönlichkeiten“ zur Mitte des 19. Jahrhunderts gelten dürfe. Doch sei es „nach der gescheiterten Revolution [von 1848] nicht mehr darum [gegangen], etwas zu verändern, sondern darum, der Leserin zu helfen, mit ihrem passiven, dienenden Leben zurechtzukommen.“ Ein Befund, der zwar insgesamt zutreffen mag, doch gab es auch in den Jahren nach 1848 emanzipatorische Literatur von Autorinnen. Daher tut Seifert dem norwegischen Schriftsteller Henrik Ibsen auch zu viel der Ehre an, wenn sie unter Bezugnahme auf sein 1879 publiziertes Stück Nora oder ein Puppenheim erklärt, der sicher rühmenswerte Autor sei es gewesen, „der sich der ‚Frauenfrage’ literarisch als Erster annahm“. Denn bereits mehr als drei Jahrzehnte zuvor erschienen zwei Romane, deren Protagonistinnen ebenso wie Ibsens Nora aus der Ehe ausbrechen: 1847 Astons Roman Aus dem Leben einer Frau, dessen Protagonistin Johanna ihren Mann verlässt, und 1849 Luise Mühlbachs historischer Roman über die im 17. Jahrhundert lebende Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Aphra Behn. Und in England erschien 1848 Anne Brontës unter dem Pseudonym Acton Bell publiziertes Werk The Tenant of Wildfell Hall, das schon seit dem frühen 20. Jahrhundert in Kreisen der Forschung und Kritik als einer der ersten feministischen Romane gilt. Auch seine Protagonistin Helen Graham verlässt ihren Ehemann, nimmt aber anders als Ibsens Nora ihren Sohn mit.

Erhellend ist Seiferts Vergleich von Theodor Fontanes Roman Effi Briest mit Gabriele Reuters Aus guter Familie. Dabei stellt Seifert nicht nur die Inhalte der beiden 1895 erschienenen Romane nebeneinander und macht die unterschiedlichen Erzähl-Perspektiven deutlich, sondern zeigt auch, auf welche Weise der eine kanonisiert wurde, der andere nicht. Auf das 2012 erschienene Buch von Denise Roth Das literarische Werk erklärt sich selbst, dessen Autorin sich über die 500 Seiten ihrer Untersuchung hinweg ebenfalls dem Vergleich der beiden Romane widmet, geht Seifert allerdings nicht ein. Vielleicht, weil Roth zu dem Schluss kommt, es sei durchaus gerechtfertigt, dass Fontanes Roman kanonisiert wurde, derjenige von Reuter hingegen nicht. Unzutreffend ist jedenfalls Seiferts Behauptung, dass Reuters Roman „ab dem ersten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr gedruckt, gelesen und gelehrt wurde“. Das Gegenteil ist der Fall. 1901, 1902, 1903, 1904, 1906, 1908, 1917, 1920 und 1923 erschienen Neuauflagen des Romans, 1931 sogar noch eine weitere. Vermutlich handelt es sich allerdings nur um einen kleine Verschreibung Seiferts und sie meint „nach dem ersten Viertel“. Weitere wichtige Romane von Reuter wie Das Tränenhaus und Töchter – Roman zweier Generationen von 1927, in dem die der Frauenbewegung nahestehende Schriftstellerin die zur Jahrhundertwende um Frauenrechte kämpfende Generation der Mütter mit der ihrer Töchter zusammenstellt, für die die erkämpften Rechte selbstverständlich sind und die den Kampf der Mütter daher nicht richtig zu würdigen wissen, wären durchaus ebenfalls erwähnenswert gewesen. Zumal Töchter bedauerlicherweise immer noch auf eine Neuausgabe wartet. Doch kann Seifert natürlich nicht alle großartigen Werke von Frauen oder auch nur alle literarischen Großmeisterinnen nennen. So sind leider auch die fabelhafte Hedwig Dohm und ihre Romane unter den Tisch gefallen.

Dafür aber stellt Seifert Charlotte Perkins Gilmans herausragenden Roman Die gelbe Tapete vor, ohne allerdings das sonstige vielfältige Schaffen und Wirken der Literatin, Philosophin, Ökonomin und Feministin zu würdigen.

Als weitere Beispiele für die unterschiedlichen Erfahrungswelten von (schreibenden) Männern und Frauen stellt Seifert „weibliche Entwicklungsromane“ vor. Im Unterschied zur „klassische[n] Heldenreise“ sei es „für die Heldinnenreise [entscheidend]“, „die eigene Identität im Konflikt mit sich selbst zu finden, statt im Konflikt mit der Außenwelt“. Natürlich kann sie nicht auf alle von Frauen verfassten Entwicklungsromane eingehen. Dass aber ausgerechnet Franziska zu Reventlows Entwicklungsroman Ellen Olestjerne außen vor bleibt, hat vielleicht einen anderen Grund, denn dessen Protagonistin trägt ihre Konflikte eben nicht mit ihrer Innenwelt, sondern mit der Außenwelt aus. Diese so ganz andere „Heldinnenreise“ mit Reuters Aus guter Familie zu vergleichen, wäre sicher ebenso interessant gewesen wie dessen Vergleich mit Effi Briest.

Einige „sehr konkrete Vorschläge“, „mit denen sich die Situation von Schreibenden generell und von Autorinnen im Besonderen verbessern ließe“, beschließen Seiferts Band über abgewertete, vergessene und wiederzuentdeckende Schriftstellerinnen.

Dem sehr gut lesbaren Sachbuch ist ein möglichst großes und breites Publikum zu wünschen. Denn etliche ihrer Erkenntnisse über den Gender Gap in Literaturgeschichte und -betrieb mögen zwar nicht sonderlich neu sein, doch muss offenbar immer und immer wieder auf sie hingewiesen werden. Und zwar so lange, bis er geschlossen ist. Außerdem hat der Band einen Vorteil gegenüber empirischen und anderen wissenschaftlichen Forschungspublikationen. Beleuchten diese zumeist einen bestimmten Bereich des Literaturbetriebes, so geht Seifert auf sie alle ein, von den Produktionsbedingungen der Autorinnen über die Mechanismen der Kanonisierung und der Publikations- und Werbepolitik der Verlage bis hin zur qualitativen und quantitativen Auswertung von Buchbesprechungen. Darüber hinaus bietet der Band quasi noch ganz nebenbei etliche Lektüreanregungen. 

 

Anmerkung der Redaktion: Mit Bezug auf Seite 151 des besprochenen Buches ist in diesem Text zu lesen: „Und ein ‚Leiter eines deutschen Literaturhauses‘ erklärt, es würden mehr Bücher von Männern gelesen, weil ‚diese Bücher besser sind‘.“ 

Uns erreichte eine Nachricht von Herrn Prof. Dr. Rainer Moritz, dem Leiter des Literaturhauses Hamburg, in der dieser klarstellt: „Ich bin der besagte ‚Leiter‘ und habe diese Äußerung, die sich auf ein Radiogespräch bezieht, nie getätigt. Dies habe ich Frau Seifert und dem Verlag umgehend mitgeteilt, woraufhin sich Frau Seifert ‚in aller Form‘ entschuldigt hat, und der Verlag zugesagt hat, diese Passage in allen Folgeauflagen und im E-Book zu tilgen.“

Titelbild

Nicole Seifert: Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
224 Seiten, 18 EUR.
ISBN-13: 9783462002362

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