Faszinierende Melancholie und Einsamkeit
Isidora Sekulićs „Briefe aus Norwegen“
Von Liliane Studer
Die Friedenauer Presse Berlin überzeugt seit vielen Jahren mit Entdeckungen kleiner feiner Werke der literarischen Moderne in deutscher Übersetzung, die nicht vergessen gehen sollen. Diese Tradition, von Katharina Wagenbach während mehr als dreißig Jahren gepflegt, führt die neue Verlegerin Friederike Jacob weiter, die den Verlag seit 2018 leitet. Eine solche Trouvaille ist auch der Band Briefe aus Norwegen von Isidora Sekulić. Die serbische Intellektuelle und Philosophin, die 1877 in der Bačka geboren wurde, reiste im Herbst 1913 von Belgrad nach Norwegen, ein sehr unübliches Reiseziel. Die Autorin, „die immer schon im Müßiggang des heißen Südens Sympathien für das schwere Leben des Nordländers hegte“ (Nachwort der Übersetzerin Tatjana Petzer), betrat mit ihrer Reise unbekanntes Terrain, denn in Serbien waren die nordischen Länder kaum bekannt. Sekulić war aber auch eine Schriftstellerin, die nach eigenen Ausdrucksweisen im Schreiben suchte. So war der Essay für sie ein wichtiges literarisches Genre, das sie auch in ihren Briefen pflegte.
Wie verwandte autofiktionale Genres (Beichte, Brief, Erinnerungen, Memoiren, Tagebuchaufzeichnungen) unternimmt der Reisebericht der Autorin eine Untersuchung des Ichs in seinem Verhältnis zur Welt. Eigenwillig verbindet sie philosophische Reflexion – die der patriarchalen Vorstellung von den zwei Sphären nach allein in die männliche Sphäre des Intellekts gehört – und zuweilen trivial anmutende Beobachtungen sowie feinfühlige und meditative Abschweifungen. (Nachwort)
Entstanden ist ein schmales und überaus reiches Buch, das zwei Kapitel aus den Briefen (Ende August 1913 und Ende Oktober 1913) enthält sowie drei weitere Prosatexte, nämlich den Essay In Norwegen lebt keiner von Gott verlassen von 1925, das 1931 erstmals erschienene Fragment eines Briefes aus Skandinavien und den kurzen Text Auf einem norwegischen Felsturm, der sich im Nachlass der Autorin in der Belgrader Universitätsbibliothek befindet. Allen Texten ist gemeinsam, dass sie die Eindrücke einer neugierigen interessierten Frau und Schriftstellerin in einer für sie fremden Gegend wiedergeben, einer Gegend, die sie erkunden will und deren Bewohnerinnen und Bewohner sie näherkommen möchte.
Der Norden entpuppt sich als fremd, unzugänglich – auf den ersten Blick. „In der Welt des Nordens lebt es sich schwer. Hier kennt man mehr Fragen als Antworten. Es kommt vor, dass sich ein ganzes lyrisches Lied nur aus Fragen zusammensetzt.“ Die Menschen sind zwar wortkarg, doch erfreut über Besuch, der norwegische Bauer empfängt „den Gast, als ob er sich dafür entschuldigen möchte, dass sein Land derart karg, derart schweigsam und derart unzugänglich ist“. Norwegen ist ein Land der Felsen, der Kälte, des Meers und der Wälder. Und es gibt die Weiten, diese endlosen Weiten, die nicht oder kaum besiedelt sind. „Die ganze Traurigkeit dieser Menschen, die in einem Land ohne Menschen leben, kann man erst begreifen, wenn der Einzelne davon spricht.“
Isidora Sekulić hat auf ihren Reisen mit den Menschen gesprochen und sie hat so manches erfahren, das sie in ihren Briefen und Texten an uns Leserinnen und Leser weitergibt. Sie lässt uns teilhaben an ihren Eindrücken und Erfahrungen. Sie zieht literarische Werke von norwegischen Autorinnen und Autoren heran, in denen sie einiges findet, was ihr beim Verständnis für dieses Fremde, dem sie allerorten begegnet, hilft. Und immer wieder ist sie überwältigt von Naturereignissen.
Wir brachen gegen neun Uhr vormittags auf, als die dunkle Nacht gerade zur Neige ging. Es dämmerte, aber man sah deutlich, dass es noch nicht die Dämmerung des Morgens war, obwohl auch jetzt, wie immer in diesem Land, die Farben mehr oder weniger lebendig waren. Um uns herum färbte sich der Schnee in tiefes Blau […]. Etwas weiter weg begann sich in der Luft ein leichter, wie gefärbter Nebel aufzulösen, und darunter der Schnee war wieder blau. Die Bergspitzen erschienen gelb, doch nicht goldgelb, sie schimmerten nicht. Um die zehnte Stunde fing die Luft plötzlich zu flimmern an und das Bild änderte sich. Mit eigenen Augen sahen wir den Moment, als aus gestern heute wurde.
Es sind diese farbigen intensiven Bilder, die die Texte von Isidora Sekulić in der sorgfältigen Übersetzung von Tatjana Petzer so reich und stark machen und beim Lesen die Sehnsucht wachsen lassen, ebenfalls dorthin zu fahren und das Land zu erkunden. Oder aber wir vertiefen uns ein weiteres Mal in die Texte von Isidora Sekulić und begeben uns mit ihr auf Entdeckungsreisen der ganz besonderen Art.
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