Eine Lebensetappe zwischen Erinnerung und Roman

„Hast du uns endlich gefunden?“: Edgar Selges Abrechnung mit einer Jugend voller Musik, Bildung und Gewalt

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Eine Erinnerung ist noch keine Erzählung, soll sie das werden, beginnt die Fiktion.“
Edgar Selge

Edgar Selge gilt als einer der populärsten Theater-, Film- und Fernsehschauspieler Deutschlands. Darüber hinaus steht er des Öfteren in der Öffentlichkeit, weil er sich zudem politisch bzw. gesellschaftlich engagiert, u.a. im BASTA, im Bündnis für psychisch erkrankte Menschen. Nun hat er sein erstes literarisches Werk Hast du uns endlich gefunden? vorgelegt. Der Rezipient kann sich von einer gewissen Skepsis nicht freisprechen, die ihn befällt, wenn es um literarische Werke von Schauspielern geht. Diese Reserve vergrößerte sich noch, als nicht klar war, um welche Gattung es sich handeln würde. Doch, soviel sei vorweggenommen, legten sich diese Bedenken schon sehr bald. Und zwar nicht dadurch, dass das Werk auf der Spiegel-Bestsellerliste stand und von Tobias Rüther in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als „das herausragendste Debüt“ des Herbstes bezeichnet wurde. Nein, die Reserviertheit des Rezipienten legte sich bereits beim oben zitierten Satz des Schauspielers und sie sollte sich bei der Lektüre immer mehr legen.

Der Text ist im Dezember 2021 bereits in der 5. Auflage erschienen, was sicherlich auch Selges Popularität als Schauspieler geschuldet sein dürfte. Aber frei nach dem Motto: Ein erfolgreiches Buch muss deshalb noch lange kein schlechtes Buch sein, stieß der Interpret bei der Lektüre schon sehr bald auf die Vorzüge des Bandes.

Edgar Selge wächst in einem musischen wie protestantischen Elternhaus mit nationalistischen Haltungen und gewisse Sympathien für nationalsozialistische Einstellungen auf. Ursprünglich stammen beide Elternteile aus Königsberg, nach der Flucht siedeln sie sich in Westfalen an. Sein Vater, ein promovierter Jurist, der ein Studium der Theologie begann, war zunächst Regierungsrat am Oberlandesgericht in Hamm. Später bekleidete er das Amt eines „gebildeten Gefängnisdirektors“ der Justizvollzugsanstalt für Jugendliche in Herford, der seine Zöglinge während ihrer Haftzeit Möbel für seine eigene Familie  anfertigen lässt. Zudem lädt er sie als Publikum zu klassischem Hauskonzerten ein, umgeben von Kunstdrucken von Rembrandt bis van Gogh, wo er selbst zusammen mit eigens dazu eingeladenen, damals bekannten Größen der klassischen Musikszene vorspielt, allen voran Violinisten.

Erwähnt wird in dem Kapitel auch sein berühmter Großvater, Paul Selge, der nach Stationen in Weinau und Posen Königlicher Musikdirektor in Berlin wurde und der einen ganz anderen Männertypus als sein Vater vorstellte, so etwa seinen Sohn nie schlug, wie ausdrücklich im Werk erwähnt wird. Selge möchte im Werk seinem Vater die Frage danach stellen, tut es dann aber doch nicht.

Bei den sehr präzisen Schilderungen des Erzählers hat man oft den Eindruck, als hätte Selge bereits hier Milieustudien für seinen späteren Beruf betrieben und als sei schon zu dieser Zeit der Wunsch nach einer Schauspielkarriere gelegt worden. Die Dialoge sind äußerst plastisch, wirken wie „für das Theater aufgearbeitet“. 

Das äußert sich beispielsweise in der Differenzierung der Charaktere, wenn er etwa mit Tino, dem Kindermörder, oder mit Taumont, dem „halben Kleist“ spricht, der nur seine Freundin, dann aber nicht mehr – anders als der Dichter – sich selbst erschossen hat. Der Vater vermittelt ihm diese Bezüge zur Literatur wie zum erwähnten Kleist oder zu Dostojewski. Nicht zuletzt wegen seiner beruflichen Tätigkeit ist er ein sehr gebrochener Charakter, der trotz großer Betonung seiner humanistischen Bildung nicht davor gefeit ist, seine Söhne zu schlagen (denen das Werk von Edgar Selge gewidmet ist) und der zu vielem nicht offen stehen kann, was ihm das Leben oder die Literatur bietet. Er veranstaltet Dostojewski-Lesungen für die Familie, wo er selbst durchaus gekonnt vorträgt und Edgar dran teilnehmen soll, behauptet aber bei den signifikanten Küchengesprächen, dass das Kapitel, in dem Gruschenka Dimitri verführt, „nichts für Edgar“ sei. 

Die Kapitelüberschriften benennen alltägliche Dinge und Phänomene wie z.B.: Hauskonzert, Kirmes, Todestag, Weihnachten, Königlicher Musikdirektor, Abwasch, Kasperpuppen, Dvořák, An der Mauer, Gelächter, Blaskapelle, Angina Pectoris, Kino, Kinderzimmer, Magenstiche, Bei Martin oder Loslassen. Dazu sind zwei Kapitel mit Traum von meiner Mutter und Traum von meinem Vater überschrieben. Und am Schluss folgt als Epilog ein „Gespräch mit meinem verstorbenen Bruder“. Es handelt sich um einen der eindrucksvollsten Teile des Textes, in dem Selge am Schluss die eigene, ihm von den Eltern vermittelte Rigorosität vorgeführt wird. Denn während sein Bruder Werner dem sterbenden Dialysepatienten die verbotenen Teelöffel als letzte Seligkeit verabreicht, hält sich Selge daran, ihm nicht mehr als zwei Teelöffel in der Stunde einzuführen. Andererseits fällt es ihm als Jugendlicher nicht schwer, sich das Geld für seine späten Kinobesuche beim Bruder zu stehlen. Auch hier „lernt“ Selge am Modell der Eltern, vor allem des Vaters, der seine „Moral“ gerade so einsetzt, wie sie für die eigenen Interessen nutzbar sein kann. Als eigentliche „moralische Instanz“ fungieren in der Familie in erster Linie die beiden älteren Brüder Werner und Martin.

Im ersten Teil fallen die häufigen Gewaltorgien auf und stoßen in der Eindringlichkeit der Schilderungen fast ab, was sich nicht nur auf den Vater, sondern auch auf den Klassen- bzw. Lateinlehrer Herrn Engelke und einen „Schulfreund“ Uli Heckeroth bezieht, unter dem, im wahrsten Sinne des Wortes, Selge zu leiden hat und der ihn dazu zwingt, seine Kasperpuppen mit in die Schule zu bringen und eine Vorstellung zu halten. Schon damals ist er für seine außerordentlichen Deklamationen bekannt. In dieser Zeit ist Selge in erster Linie der unter der Gewalt Leidende. Beim Abhören der Lateinvokabeln erhält er vom Vater für falsche Antworten regelmäßig Schläge.

Aufschlussreich sind vor allem auch die Küchengespräche innerhalb der Familie, die oft zu sehr lauten und konfliktösen Streitgesprächen werden, weil vor allem die beiden älteren Brüder Selges (der eine wird Cellist und Konzertmeister der Niederrheinischen Philharmonie in Krefeld/Mönchengladbach, der andere, Martin, geht zunächst zum Bund und wird später ein herausragender Germanist) eine dezidiert andere politische Meinung einnehmen. Eine besondere Rolle spielt hier vor allem Martin, der ihn über die Verbrechen der Wehrmacht und der NS-Täter aufklärt, als er in der Hausbibliothek ein seinen Eltern gewidmetes Buch einiger ehemaliger hoher Nazifunktionäre wie dem Generalfeldmarschall Albert Kesselring u.a. findet.

Die negativen Seiten der eigenen Person sowie die eigenen Ambivalenzen werden vom Autor sehr eindringlich geschildert, seine Ängste, seine „kriminelle Energie“, ein Begriff, der vom Vater oft erwähnt wird. Dazu wird die Liebe zum Vater erwähnt, die ihm auch dessen häufige Prügel und dessen sexuelle Annäherungsversuche (übrigens auch einer seitens der Mutter) nicht austreiben können. Besonders eindringlich wird es in jener Episode geschildert, als er von seinem „Vordermann“ in der Schule, Klaus Kwiatkowski, berichtet, der eines Tages regelrecht entstellt in der Schule erscheint und den er fragt, ob er wieder von seinem Vater verprügelt worden ist, und es zugleich nicht schafft, ihm eine gewisse Solidarität zu erweisen, indem er erzählt, dass er ebenfalls von seinem Vater verprügelt wird, denn: 

Ich will meinen Vater schützen. Ich will ihn nicht auf eine Stufe mit seinem Vater stellen. Keiner soll denken, er sei brutal. Mein Vater ist kultiviert, musikalisch, belesen. Ich bin stolz auf ihn. Ich will ihn nicht fallen lassen.

Diese am Beispiel der Familie dargestellte Welt im Nachkriegsdeutschland bzw. kurz nach Ende des 2. Weltkriegs, sind für die Leserschaft oft nicht direkt eingängig, weil heutzutage andere Werte im Vordergrund stehen. Aber der Erzähler Selge schafft es durch seine Darstellung, wenn schon nicht komplettes Verständnis, so doch eine gewisse Art des Nachvollzugs zu erzeugen, etwa auch, als er die Mutter vom „Fallen für das Vaterland“ eine Generation zuvor erzählen lässt und voller Emphase beteuert, so dass man zu glauben geneigt ist, dass es ihre eigene Meinung ist: „Die waren stolz auf ihr Vaterland.“

Eindrucksvoll ist auch die Schilderung der Begeisterung für rechte Musiker wie Karajan, Wilhelm Kempf etc., den sie bei einem Konzert in Bielefeld mit einem Franzosen sehen. Sein Name wird nicht erwähnt, nur dass er mit den Deutschen kollaboriert hat. Der Besuch bei einer jüdischen Familie dagegen, bei Rechtsanwalt Brand und seine Schwester, die nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehren und mit denen sie kurz gemeinsam musizieren, artet nur in Peinlichkeiten aus und die Mutter zu dem Schluss kommt: „Es passt eben nicht.“ Auch fallen häufig abwertende Bemerkungen seitens der Eltern über die „jüdische klassische Musik“, die trotz Mendelssohn-Bartholdy nicht „die Tiefe deutscher Musik“ hätte.

Zudem nimmt die Darstellung des Todes, insbesondere der beiden Brüder als auch der Eltern, relativ breiten Raum ein: Diese Passagen gehören zu den stärksten Stellen des Werks, etwa wo er die Verzweiflung und Hilflosigkeit der Familie beim Tod von Andreas mit der „Brutalität der Ärzte“ kontrastiert wird, die „die Maschine“ für den nächsten Patienten brauchen. Aber auch die Reaktionen auf den frühen Tod von Rainer, der zusammen mit Werner, der schwer verletzt wird, eine Handgranate im Bückelburger Palaisgarten fand und die ihn beim Versuch, diese zu öffnen, zerriss. Oder die Sprachlosigkeit während des Sterbens der Mutter, als sie ihn aus dem Zimmer schickt, nachdem sie einmal mehr auf das Thema NS-Vergangenheit kamen.

Eines der stärksten ist das Kapitel Angina Pectoris, in dem die freundschaftliche Beziehung Edgars zu dem ebenfalls auf andere Weise hochmusikalischen Blasmusikliebhaber- und Verwalterehepaar Anna und Gustav Linnenbrügger beschrieben wird. Auch hier findet sich die antinomische Struktur des Werks, Linnenbrüggers hatten im Dritten Reich mit dem Widerstand sympathisiert und werden als politisch sehr engagiert dargestellt.

Die andere Seite bekleidet das Ehepaar Niewöhner, die zu NS-Zeiten sehr stark mit dem Regime sympathisierten und die Funktion als Hauswart als Vorgänger von Linnenbrügger, ausübten, vor denen sich einige Anwohner noch in der Nachkriegszeit fürchteten. Dabei spielt die Krankheit Angina Pectoris eine besondere Rolle. Aus ihm selbst unerklärlichen Gründen bricht Selge, als er ins Gymnasium kommt, den Kontakt mit dem Ehepaar ab. Auf der Beerdigung trifft er die Frau wieder. Aber entscheidend ist die letzte Begegnung Selges mit Linnenbrügger. Als er das Ehepaar mal wieder besuchen will, er sich aber nur wagt, zweimal „Schellemännchen“ zu spielen, wonach der schwer an Angina pectoris leidende Verwalter hechelnd hinter ihm herläuft und ihn schließlich erwischt. Auf diese Weise geht kurz vor dem Tod Lindemanns eine freundschaftliche Beziehung sehr unschön zu Ende: 

Mach das nie wieder. Hörst du? /Nein, nie. /Hetz mich nie wieder über den Flur. Nein, bestimmt nicht. /Dann beugt er sich vor, öffnet die Haustür einen kleinen Spalt und lässt mich los: Wie ein Vogel entwische ich, ohne mich umzudrehen. /Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehe.

Nicht nur in diesem Fall geht Selge selbst sehr schonungslos mit sich und seiner Person ins Gericht, wo er sich fragt: „Was ist bloß in mich gefahren? Das hat sich alles so schnell in meinem Kopf entschieden. Anna und Gustav sind doch meine Freunde. Wie konnte ich das bloß tun?“ An anderer Stelle beschreibt er seinen Hang zu den Kriegsspielen in seiner ganzen Ambivalenz: „Zerstören, Töten und danach Gebet.“

Daran anknüpfend lässt sich insgesamt festhalten, dass das Werk durch seine Schonungslosigkeit, Differenziertheit und Ambivalenz besticht, eine Kindheit zwischen äußerst wichtiger Musik, Gewalt, Protestantismus und Nationalismus sowie der Darstellung zum Teil unverhohlener Sympathie für den Nationalsozialismus beider Elternteile, einem gebildeten Elternhaus voller Gewalt. An manchen Stellen lässt das Werk die Leserin bzw. den Leser voller Wut und Traurigkeit zurück. Trotzdem oder gerade deshalb hat Selge auch literarisch, was einige Metaphern wie „das Sterben als sich aus dem Körper wieder herausfinden“ betrifft, ein heraustragendes Werk geschaffen, was die ganze Ambivalenz der frühen Bundesrepublik am Beispiel der Familie Selge zum Vorschein kommen lässt, weshalb das Buch zur Lektüre absolut zu empfehlen ist.

Titelbild

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
301 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001223

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