Monologe eines eitlen, in Selbstmitleid ertrinkenden Intellektuellen
Friedrich Sieburgs Tagebuch reflektiert eigene Befindlichkeiten und das Ende des Krieges, November 1944 bis Mai 1945
Von Jens Flemming
Vor allem anderen zunächst dies: Am 14. Dezember 1944, einem Donnerstag, notierte der Publizist, Schriftsteller und temporäre Diplomat Friedrich Sieburg in seinem Tagebuch, das er in den Wochen der deutschen Endzeit führte, er habe in der Tübinger Universitätsbibliothek sein 1932 publiziertes Buch Es werde Deutschland gefunden, ein „verschollenes Buch“, wie er hinzufügte. Es war seine Eintrittskarte in die Zirkel der sogenannten konservativen Revolution, ein Dokument der Annäherung an Hans Zehrer, den Chefredakteur der Tat, jenes Journals, das einem avancierten intellektuellen Radikalismus das Wort redete. In der von Pathos geschwängerten Widmung an Heinrich Simon, den Verleger der Frankfurter Zeitung, empfand er sein Werk als Ausdruck „einer leidenschaftlichen Sorge um Deutschland“. Und sofort im ersten Abschnitt lesen wir, man könne „kein deutscher Schriftsteller sein, ohne zu Deutschland Ja zu sagen.“ Während der neuerlichen Lektüre, zehn Jahre danach, sei ihm das Geschehen im Vorfeld der nationalsozialistischen Machteroberung wieder ins Gedächtnis gerückt. Er sei „im Zustand der Erwartung“ gewesen, darin verharre er zwar immer noch, damals allerdings „ganz und gar mit Hoffnung getränkt.“
Er habe gehangen an Deutschland, ohne wenn und aber, dabei überzeugt, dass diesem „Unrecht“ widerfahre. Es sei die „eigentlich leidensfähige Nation“, war sein Credo. Darüber habe er jedoch nicht verschwiegen, dass derjenige, der „leidensfähig“ sei, „auch andre leiden“ mache. Deutschland habe er „als die Magd des Abendlandes“ gesehen, „Ideen und Lösungen herantragend wie Wasser in einem Eimer.“ Den „anderen Völkern der Erde“ habe er gegrollt, denn sie würden die Deutschen verkennen, obwohl sie aus deren „Tiefen ihr Bestes“ hätten, das heißt ohne Deutschland hätten sie nur eine niedrigere Stufe der Kultur erreicht. Mit dem Buch, fern seiner Heimat in einem „leeren walisischen Schloß“ konzipiert, habe er sich über Deutschland „wie über ein Krankenbett gebeugt.“ Und doch: im Prozess des Schreibens habe ihn ein „nie nachlassender Glaube“ an sein Volk durchströmt.
Nun, am Ausgang des Jahres 1944, im fünften Kriegsjahr, ertrage die Bevölkerung ihre „Leiden mit beispielloser Geduld“. Eine „bessere Geistesverfassung“ als diese könne sich ein Staatswesen, das „ums Letzte“ kämpfe, „überhaupt nicht wünschen.“ Er, Sieburg, begreife, dass die „Führung trotz der vielen Rückschläge immer noch zuversichtlich“ sei. Das mache sich der „Feind“, so werden die alliierten Gegner genannt, nicht klar. Denn die Deutschen seien „nicht mehr zu erschüttern“, man könne sie „bloß noch vernichten, wegschaffen.“ Sie lebten momentan „hart und gefährlich“, gleichwohl „in Harmonie mit sich selbst.“ Dieser Gemütszustand sei die „Freude am ‚Dienst´, bei dem alle es gleich schlecht“ hätten. Gespeist aus „egalitären“ Empfindungen, seien sie nicht unbedingt „glücklich“, jedoch „in guter Stimmung“. Dies im Sinn könne er „nur lächeln“ über die „Vorstellungen der Feinde, daß man hier aktuell oder später eine Demokratie“ etablieren könne, „mit ihren Stufungen und freien Initiativen“ zumal. Und als ob dies nicht genug sei, gipfelt sich das Bekenntnis des Tagebuchschreibers noch einmal auf: Mea culpa, „Gewissensforschung“ und „innere Einkehr“ werde es nicht geben. Denn: „Jeder von uns findet das, was geschehen ist und noch geschehen wird, ganz natürlich, ganz richtig“.
Derartige Bekenntnisse und Mystifikationsbedürfnisse muten befremdlich an. Dass ein weltläufiger Intellektueller Mitte Dezember 1944, als der Krieg unwiderruflich verloren war, sich zu einem derartigen Notat bemüßigt fühlte, zeugt von Illusionen, von Unschuldsbewusstsein und der Weigerung, den Dingen ohne beschönigende Ausflüchte ins Auge zu schauen. Eine kritische Auseinandersetzung, die selbstreflexive Elemente einzuschließen hätte, sucht man vergeblich. Bestätigt wird das in etlichen der anderen Einträge. Auch sie rufen Irritationen hervor. Es zeige sich, meinte Sieburg am 24. November, „wie stark jeder Deutsche von Himmler fasziniert“ sei, den man bislang „zu wenig gekannt“ habe. Ein paar Tage später hebt er ihn in den Olymp, als er ihm die Rolle eines modernen Scharnhorst zuerkennt. Der Vormarsch der Roten Armee im Osten habe im bedrohten Berlin, heißt es am 4. Februar 1945, die „Stimmungskurve“ zwar absinken lassen, aber das habe „keine Bedeutung“ für die „Endphase des Krieges“. Schließlich habe die „Kriegsmaschine“ sich von Gemütsschwankungen im Innern „völlig unabhängig gemacht“. Das wird Himmler als „Verdienst“ zugerechnet. Denn der ziehe „in seiner phrasenlosen Sachlichkeit das Vertrauen an sich wie ein Magnet.“ Kein Wort über dessen militärische Misserfolge, kein Wort über die von ihm verantwortete Politik der Repression, der in der Götterdämmerung des Regimes noch einmal unzählige Menschen zum Opfer fielen, und natürlich: kein Wort über die jahrelange Vernichtungspolitik gegen Juden, Sinti und Roma, Behinderte und Oppositionelle.
Es ist eine eigentümlich verknäuelte Zwischenwelt, in der die Notizen sich bewegen. Da ist zum einen Zuversicht, Lob und Gewissheit. Roland Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofes, der in Berlin bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war, sei, so war im Februar 1945 zu lesen, für viele „von uns zu früh gestorben.“ Aber was außer weiteren Terrorurteilen hätte man von ihm erwarten können? Über die NSDAP heißt es, sie sei „stärker als der Krieg.“ Darum könne sie ihn „so glänzend führen.“ Zu Papier gebracht waren diese Worte in der Anfangsphase der Ardennenoffensive, als noch einmal Hoffnung aufkeimte. Hitlers Ausführungen am 30. Januar 1945 zum zwölften Jahrestag der „Machtergreifung“ riefen Anerkennung hervor. Eine „harte ernste Rede“, urteilte Sieburg: „kein weichliches Streicheln des Volkes, sondern die scharfe Aufforderung noch mehr zu leisten.“ Dass „nun scharenweise“ der NS „verraten“ würde, mochte er sich noch in der zweiten Aprilhälfte nicht eingestehen. Höchstens die „Spießbürger und sonstigen Tübinger Professoren“ seien darunter: „Aber viele Leute wälzen auf Hitler noch in letzter Stunde einen erdrückenden Berg von Vertrauen“.
Sieburgs Nachdenken über täglich sich verschiebende Verhältnisse ist ambivalent. Er schwankt zwischen Zuversicht und pessimistischen bis apokalyptischen Betrachtungen. Die Eroberung Straßburgs durch französische Truppen nimmt er mit „vor Kummer“ brennendem „Herzen“ zur Kenntnis. Denn schließlich „gehöre er zu den wenigen Deutschen, die das Elsaß wirklich kennen und lieben.“ Am 28. November klagt er über „Müdigkeit“. Er sei „verschlissen, aufgebraucht, aufgezehrt, ausgehöhlt, ausgepumpt, ausgeblutet.“ Anfang Dezember räsoniert er über Moral, die noch stets von „Grundsätzen“ getragen werden müsse. Eine „Idee“ zu haben, die sie speichere, genüge nicht: In ihrer „Anwendung“ dürfe „nicht gegen die Heiligkeit des Lebens verstoßen“ werden, die „das oberste Gesetz der menschlichen Gemeinschaft sein soll.“ In welcher Welt mag der Tagebuchschreiber gelebt haben, wundert man sich: offenbar nicht in und unter der NS-Diktatur, der er bis zum Schluss zu Diensten war. Dazu passt, dass er der SS nahe sei. Diese habe nämlich „das Kleinbürgerliche völlig von sich abgeschüttelt“ und repräsentiere „einen neuen Typ jenseits ihrer soziologischen Ursprünge“. Ihm werde die Zukunft gehören.
Allerdings quält ihn die Tatsache, „daß es keine heilen Städte mehr gibt, daß die deutsche Zivilisation, die gänzlich von den Städten bestimmt war, in Trümmern liegt.“ Zu derart düsteren Perspektiven gesellen sich Zeitbetrachtungen, die davon wieder abrücken. Das deutsche Volk jedenfalls schleppe klaglos seine „Last“ voran. Dieser Krieg gehe, glaubt er im Januar zu wissen, sobald „nicht zu Ende.“ Sollte er „militärisch nicht zu entscheiden sein“, werde er „eben politisch entschieden.“ An diesem Punkt springt er ins große kontinentale Geschehen: Die Sowjetunion wolle ihr „slawisches Expansionsprogramm“ sichern, sich die Slowakei, die Randstaaten und Ungarn aneignen. Dass sich hier „neue Entwicklungen“ ankündigen, die über das „gänzlich hilflose, ideenlose England hinweggehen“ werden, hält er für offensichtlich. Selbst die Leute auf der Straße fühlten, dass „die Gestirne zu neuen Konstellationen“ zusammenrückten.
Überhaupt die Alliierten. Sie überzieht er mit harschem Tadel. Namentlich auf die Angelsachsen richten sich Zorn, Verachtung und Unverständnis. Die USA hätten sich mit dem Kriegseintritt eine „wirtschaftliche und soziale Revolution“ ersparen wollen. „Sie mögen kommen und uns den Fuß in den Nacken setzen, sie werden trotzdem von uns lernen müssen, ja sie werden nichts Dauerhaftes ohne uns beginnen können.“ Den Nationalsozialismus wollen sie „ausrotten“, nicht wissend, dass dessen „Ideengut“ nicht „aus der Welt zu schaffen“ sei, gleichviel wem diese demnächst gehören möge. Wie wollen die „westlichen Demokratien“, fragt er ein andermal, gegen ein „nationalsozialistisches Deutschland ankommen“. Schließlich habe dies „eine Vision der Zukunft und ein Programm“, das Sieburg völlig im Einklang mit der „Entwicklung der Zeit“ sieht. Dem werde sich niemand wirklich entziehen können.
Am Ende bleibt „finis Germaniae“. Das „Unglück“, das sich darin offenbare, sei wie ein „Absterben“, wie eine „Erstarrung“, nicht aber wie ein „donnernder Sturz“. Ihm fehle das „Sausende, die befreiende Bewegung“. In den Amerikanern macht er die „aktivsten und entschlossensten Reformatoren“ dingfest. Ein fundamentaler Mangel hafte ihnen allerdings an. Sie seien „abstrakt, ohne Kenntnis des Abendlandes.“ Mit ihren Plänen seien sie „wie Missionare“ bei der „Bekehrung eines Negerstammes, fest entschlossen“, die Deutschen „zu bessern“ und „neu“ zu erfinden. Diese seien, jammert er am 21. April, „vogelfrei“. Tags zuvor phantasiert er über das Schreiben. Allein, was werde er zu Gehör bringen können? „Nichts als einen einzigen Schmerzenslaut“ über Deutschland, „dies ewig kranke, ewig sündige Land, das nicht aufrecht frei seinen Weg gehen, sondern nur zwischen übermenschlicher Größe und tiefster Schmach dahinzutaumeln vermag.“ Weder wird man es leben lassen, fürchtet er, noch werde es einen „wirklichen sittlichen Nutzen aus seinem Sturz ziehen.“
So wie er zähneknirschend die Niederlage hinnimmt, akzeptiert er ebenso zähneknirschend das Scheitern seiner Ehe mit Dorothee, einer geborenen von Bülow und verwitweten Gräfin Pückler. Myriaden von Anklagen und Trauergesängen, Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit durchströmen die Tagebücher. Sie sind einförmig, weisen jegliche Schuld nicht dem Mann zu, sondern der Frau, die als launisches, auf Verletzung versessenes Wesen erscheint. Er ist der Gepeinigte, sie die Peinigerin. Das ist für ihn um so quälender, als sein Herz trotz allem an ihr hängt. Die Katastrophe der Beziehung ist aufs Engste verbunden mit den Katastrophen der politisch-militärischen Lage. Zweierlei Schicksalsschläge überlappen sich. Die persönliche Dimension des Geschehens frisst sich fortwährend hinein in den kontinuierlich sich vollziehenden Absturz der deutschen Gesellschaft. Momente der Heiterkeit werden aufgezehrt durch solche der Depression. Er „sterbe an Dorothee“, bekennt er im Februar 1945, sie und der Krieg erheben seine „Einsamkeit“ zur Konstante. Das „Unglück Deutschlands“ verquickte sich „mit dem schwarzen Strom“ seines eigenen.
Die Wochen innerer und äußerer Wirrnisse erlebt Sieburg mehr oder weniger als Privatier im Schwäbischen. 1942 hatte er seine Tätigkeit als Botschaftsrat in Paris aufgegeben, war zurückgekehrt in den Schoß der vertrauten Frankfurter Zeitung. Nach deren Verbot im August 1943 erledigte er im Auftrag des Auswärtigen Amtes hin und wieder Aufgaben in Sigmaringen, wo die französische Kollaborationsregierung ein Schattendasein führte. Wohnung bezog er in Rübgarten, in einem Anwesen, das seiner Frau gehörte. Die allerdings trieb ihn aus dem Haus, in Tübingen gewährte ihm der Literaturwissenschaftler Paul Kluckhohn, in dessen Seminar er ein paar Sitzungen zubrachte, eine Zeitlang Unterschlupf.
Mitte Mai 1945, nach der Kapitulation, war er sicher, fortan werde es „keine Zukunft und kein Heim“ geben. Und doch, trotz der vielfältig in Worte gekleideten Verzweiflung war Sieburg sicher, dass er von seiner eigentlichen Profession nicht lassen werde, weder vom Feuilleton noch vom Publizieren von Büchern. Zuvor, im April, hatte er Hofmannsthal gelesen. Dabei habe ihn „Entzücken“ gepackt. Das „eigene Leben“ nämlich rege sich „mächtig“. In ihm stieg die Ahnung auf, dass er künftig „noch viel schreiben werde.“ Er wolle, hatte er schon am 29. April in der ihm eigenen Tonhöhe bekannt, „der Chopin der Literatur sein“, dabei eine „berauschende Mischung“ zum Klingen bringen, bestehend aus „Eleganz und Verzweiflung, Höflichkeit und Aufruhr, Verbeugung und Tränen“.
Sieburgs Tagebucheinträge sind geprägt von der jeweiligen Situation, in der sie aufs Papier gebracht worden sind. Zugleich stecken mancherlei Kontinuitäten in ihnen: eine tiefe emotionale Bindung an Deutschland, das moralisierende Heben des Zeigefingers über die Kriegsgegner. Für heutige Leserinnen und Leser irritierend sind zahlreiche Notate zu führenden Parteileuten, zur militärischen Lage und zur NSDAP. Unverständnis, nein, Entsetzen rufen lobende Worte über Himmler, Freisler, nicht zuletzt über Hitler hervor. Da hagelt es ohne jede Relativierung Superlative. Sich vorzustellen, dass der Nationalsozialismus den Krieg nicht überleben werde, lag offenkundig jenseits seiner Horizonte. Vernichtend gerät das Urteil über Amerikaner und Briten, denen er Unkenntnis Deutschlands und Europas unterstellt. Nach der Aufhebung des gegen ihn verhängten Schreibverbots lässt er sich da nieder, wo er nach dem Verbot der Frankfurter Zeitung aufgehört hatte. Wie gehabt, bevölkerte er die Stühle in den Büros des Feuilletons, avancierte nach 1948/49 rasch zu einem der prominenteren Literaturkritiker. Auch dies, die Umstände, unter denen dies gelang, gehören zur Gründungs- und Konsolidierungsgeschichte der Bundesrepublik, was im Feld der Kultur bisweilen recht mirakulöse Züge offenbarte.
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