Liaison von Alpinismus und Literatur

Leonie Silber verfasst eine germanistische Studie über „Poetische Berge“ und Alpinismus in der Literatur nach 2000

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit geraumer Zeit formiert sich ein alpiner Diskurs in der Literatur- und Kulturlandschaft. In Anlehnung an das Aufkommen einer Lesesucht diagnostizieren Ethnologen eine Berg-Sucht (Martin Scharfe), gelegentlich auch eine Berg-Sehn-Sucht (Kathrin Geist). Eine Verschränkung von Natur und Kultur ist dann zu beobachten, wenn Buch- und Bergkultur ineinandergreifen, wenn also die Begierde, ungewöhnliche Höhen zu besteigen, literarisiert wird. Als Urszene dieser wechselseitigen Attraktion von Literatur und Alpinismus gilt gemeinhin Francesco Petrarcas Brief über die Besteigung des Mont Ventoux. Dieser spielt in Leonie Silbers Monographie über die Poetischen Berge keine echte Rolle, das sieht jedoch die zeitliche Anlage nicht vor, geht es doch, so der Untertitel, um Alpinismus und Literatur nach 2000.

Die um 1800 erstmals aufkommenden Textformen früherer Bergexpeditionen hängen zweifellos mit der Erstbesteigung des Montblanc im August 1786 sowie den Beobachtungen des Weltreisenden Alexander von Humboldt auf dem Chimborazo zusammen. Dadurch bekam das alpinistische Thema einen gewissen Popularisierungsschub. Doch bereits Albrecht von Hallers Die Alpen (1729) und Salomon Gessners Idyllen (1756ff) thematisieren nicht nur die Berge, sondern verschränken eine alpine Ästhetik mit einem religiösen Hochgefühl.

Hält man sich diese Motivik vor dem Hintergrund einer seit geraumer Zeit konjunkturellen Alpensehnsucht vor Augen, dann ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Alpinismus nur eine Folge der Zeit. Bei der Lektüre wissenschaftlicher Bücher sticht zudem ins Auge, wie sehr Gebirgsphänomene die Paratexte leiten. So unterlegt Leonie Silber ihrem Buch eine „Routenbeschreibung“, stellt ihrem Buch „Erstbesteigungen“ voran und betitelt gegen Ende ein Kapitel mit „Nachgänge“. Solche Kapitelüberschriften tragen scheinbar zur poetischen Dynamisierung bei.

In einer profunden Einleitung, der die Autorin eine bekannte Anekdote voranstellt, um dann den Forschungsstand der grassierenden Textberge darzulegen, verortet sie das Thema literatur- und kulturwissenschaftlich umfassend. In dieser Routenbeschreibung hätte man sich eine Präzisierung des deutschsprachigen Textkorpus gewünscht. Plausibel wirkt die Herangehensweise, bei der die Verfasserin in Close Readings jeweils unterschiedliche theoretische Zugänge wählt. Dabei leitet die Autorin umsichtig in die gegenwartsliterarischen Texte ein, sodass das poetische Terrain auch für Leser, die mit dem Phantasma Berg nicht innig vertraut sind, nachvollziehbar ist. Einleuchtend ist ferner die Grundannahme, dass literarische Texte einer Bergbegeisterung zugleich folgen und sie vorantreiben. Was der Untersuchung aber fehlt, ist eine Beschreibung, wie höchst heterogene Autor*innen wie Elfriede Jelinek und Reinhold Messner, Christoph Ransmayr und die Huberbuam unter einem Buchdeckel versammelt werden. So lässt sich fragen, warum topographisch fernab alpinen Geländes etwa Messners Inszenierung am Nanga Parbat im Westhimalaya ebenso aufgegriffen wird wie Ransmayrs Fliegender Berg im Himalaya, doch Kehlmanns Vermessung der Welt ausgespart wird, die doch einerseits eine Bergvermessung beschreibt und andererseits zu einer „Popularisierung des Alpinen“, wie die Autorin selbst in der Einleitung schreibt, beigetragen hat.

Wohl am eindrücklichsten lässt sich an Christoph Ransmayrs Fliegendem Berg nachvollziehen, wie der Berg einen poetischen Raum bildet. Als solcher kann er von dem kartographischen und subjektiv wahrgenommenen Raum als Stimmung erfahren werden. Dieses Epos, bei dem das Hochgebirge semantisiert wird, bietet sich deshalb gut an, weil sich die kulturellen Subtexte ebenso nachvollziehen lassen wie die intertextuellen Verweise. Bei Ransmayr zeigt Leonie Silber wohl am deutlichsten, wie stark ein Text nach 2000 in einer kulturgeschichtlichen Tradition steht.

Erfrischend, aber weniger überzeugend sind die filmischen Exkursionen. Einleitend folgt die Argumentation im Kapitel zum Dokumentarfilm Am Limit noch stärker der narrativen Struktur. Inwieweit aber die Körperlichkeit, der beim Klettern eine wichtige Funktion zukommt, hier tatsächlich „am pornografischen Diskurs teil[hat]“, ist doch fragwürdig. Weniger die „zur Schau gestellten Körper“ und die „Schaulust“ als bezahlbares Vergnügen“ rücken hier wohl in den Vordergrund als vielmehr jene Symbolkraft, bei der die Bergarena zum Scheitelpunkt von opferreichen Rückschlägen und dramatischer Überwindung wird.

Als großer Einsatzpunkt fungiert Elfriede Jelineks 2002 erschienenes Stück In den Alpen und das Buch endet mit einem Ausblick, den die Autorin anhand Bruno Latours 2014 veröffentlichten Existenzweisen nimmt. Dazwischen liegt eine Wanderung durch ein breites Textkonvolut, an dem ganz unterschiedliche Facetten des Hochgebirges sehr überzeugend herausgearbeitet werden. Abgesehen von einigen Thesen, die dem Rezensenten zu steil erscheinen, besteht die Leistung dieser Monografie insbesondere darin, die heterogenen Inszenierungen und Verwendungsweisen des Alpinen herauszuarbeiten. Souverän und mit klarer Sprache begleitet Leonie Silber ihre Leser durch eine nach der Jahrtausendwende fortgesetzte Obsession für montane Räume.

Titelbild

Leonie Silber: Poetische Berge. Alpinismus und Literatur nach 2000.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2019.
307 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783825369606

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