Aktualität? Geschichtlichkeit? Neu gelesen?

Oliver Sill über Theodor Fontanes „Romanwelt“

Von Klaus-Peter MöllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Peter Möller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Missverständnis hat mich zu diesem Buch greifen lassen, das allerdings durch den Titel verursacht wurde, den der Verfasser seiner Publikation gegeben hat: Theodor Fontane – neu gelesen. Wer erwartet, anregende Impulse zu neuen Interpretationen der Werke Theodor Fontanes zu erhalten, die sich aus der Distanz von aktueller Rezeption und Entstehungs-Zeit der Werke ableiten lassen, wird enttäuscht. Oliver Sill hat das erzählerische Werk Fontanes gelesen, aber nicht im Kontext der reichen wissenschaftlichen, populären und künstlerischen Rezeption. Bereits 2009 hat er sich mit Irrungen, Wirrungen und Effi Briest befasst,  im Jahr 2013 ist sein Buch Fontanes Romanwelt. Annäherung in Wort und Bild erschienen. Die neue Studie wiederholt und ergänzt diese Sichtung der „Romanwelt“ Fontanes, ohne wesentliche neue Aspekte hinzuzufügen.  Auch der Zusammenhang irritiert, mit dem der Aisthesis Verlag diesen Band als Aufmacher einer neuen Reihe Fontane-Studien präsentiert, über die aber weiter nichts zu erfahren ist. Man findet keinen Ausblick auf weitere Bände und erhält auch auf der Internetseite des Verlags keine Informationen über die Konzeption dieser neuen Reihe.

Sills Buch ist eine Hommage an Helmuth Nürnberger, der 2017 verstorben ist und der sich diese Vereinnahmung vielleicht verbeten hätte. Auch der Begriff „Romanwelt“ knüpft an die Arbeit dieses Forschers an, der mit seiner Monographie Fontanes Welt ein Standardwerk vorgelegt hat. Sill ist weit davon entfernt, ein vergleichbares Kompendium zu liefern. Eine wissenschaftliche Studie ist diese Abhandlung ebenfalls nicht. Sie enthält keinen Apparat, keine Register, keine Quellenangaben, ja der Verfasser verzichtet sogar auf einen Nachweis seiner Zitate und beschränkt sich darauf anzugeben, er habe die DTV-Ausgaben mit den Kommentaren „des großen Fontane-Kenners Helmuth Nürnberger“ benutzt. An anderer Stelle bezieht er sich auf dessen Monographie Fontanes Welt. Schließlich nennt er als weitere Quelle die DTV-Ausgabe von Mathilde Möhring, die Gotthard Erler herausgegeben hat, laut Sill „neben Nürnberger der andere große Fontane-Kenner und Mitherausgeber der Großen Brandenburger Ausgabe“. Die genannte Große Brandenburger Ausgabe selbst hat Sill nicht bemüht, um seine Untersuchungen zu fundieren oder kritisch zu prüfen. Die Sekundärliteratur zieht er nicht heran.

Über die Aktualität von Fontanes Werk erfährt man aus Sills Studie nichts. Sie enthält überhaupt keine Auseinandersetzungen mit der vielseitigen Rezeptionsgeschichte. Aber auch die Historizität wird lediglich durch punktuelle Vergleiche angedeutet. Einmal wird Theodor Storms Novelle Immensee bemüht, einmal Wilhelm Raabes Roman Pfisters Mühle. Henrik Ibsen, August Strindberg, Frank Wedekind, die als Bezugsgrößen infrage kommen, werden nirgends erwähnt, genauso wenig wie Hermann Sudermann, Friedrich Spielhagen, Leo Tolstoi, Gustave Flaubert oder Émile Zola. Es gibt auch keinerlei Reflexe auf zeitgenössische Diskurse oder wissenschaftliche Diskurs-Analysen. Die Fontane-Forschung wird komplett ignoriert, die Literaturwissenschaft überhaupt, das einzige wissenschaftliche Werk, das an einer Stelle direkt zitiert wird, ist Horst Albert Glasers Sozialgeschichte der deutschen Literatur.

Sill untersucht Fontanes literarisches Prosawerk, die anderen Werkteile sind von der Betrachtung ausgeschlossen. Die kleineren Prosa-Arbeiten werden nicht erwähnt, ebenso wenig wie die Fragment gebliebenen Entwürfe mit Ausnahme von Mathilde Möhring. Das Textkorpus wird eigens aufgelistet, wobei die in dieser Aufzählung angegebenen Datierungen willkürlich sind. In einigen Fällen ist das Titeljahr, in anderen das Jahr des Erscheinens der ersten Buchausgabe angegeben, in wieder anderen das Erscheinungsjahr des Erstdrucks beziehungsweise Zeitschriften-Vorabdrucks. „Diese siebzehn Romane, Erzählungen und Novellen bezeichnen Theodor Fontanes literarisches Romanwerk. In ihrer Gesamtheit konstruieren sie das, was man Theodor Fontanes Romanwelt nennen könnte“. Die aufgezählten Werke lassen sich laut Sill „als Teilmomente eines großen Textganzen“ begreifen.

Dieser „Romanwelt“ bescheinigt Sill eine „eher geringe thematische Bandbreite“. Die „Grundproblematik, deren Gestaltung den Schriftsteller Fontane offenbar zeitlebens umgetrieben hat“, ist nach der Meinung des Autors das „Verhältnis von Schuld und Strafe“, beziehungsweise „die Fehlbarkeit des Einzelnen, sein Vergehen oder Versagen im Horizont gesellschaftlicher Normen und Konventionen.“ Fontanes Romane und Novellen erscheinen Sill „in virtueller Gleichzeitigkeit […] als Variationen der übergeordneten Thematik von Schuld und Strafe in der wilhelminischen Gesellschaft.“ Das ist barer Unsinn, genauso wie die Feststellung, „in Theodor Fontanes literarischem Prosawerk finden sich nur sporadisch eingefügte Zeichen der neuen Zeit“, und die „Spuren des neuen Industriezeitalters“ seien „für die erzählten Geschichten nicht konstitutiv, gehörten eher zur Ausstattung des Hintergrunds“.

Fontanes „Romanwelt“ zerfällt laut Sill in zwei verschiedene Sphären, die der Männer und die der Frauen, die er jeweils in einem eigenen Abschnitt darstellt. Sills „Frauenwelten“ werden Themen wie Verführung, Berechnung, Liebe, Verhältnisse und Sexualität zugeordnet, seinen „Männerwelten“ Ruhm und Ehre, daneben aber auch Optionen, Mord und Totschlag sowie Träumer. Schon an dieser Themenaufstellung wird sichtbar, dass sich das Konzept nicht bewährt. Wenigstens einer der „Aktualisierungsversuche“ Sills soll hier vorgestellt werden. Er gilt Fontanes berühmtestem Roman Effi Briest und schließt das Kapitel „Ehre“ im Abschnitt „Männerwelten“ ab. Die Katastrophe wäre durch ein einfaches Mittel zu vermeiden gewesen, nämlich durch ein klärendes Gespräch, das Innstetten, auch mit Rücksicht auf Annie, mit seiner Frau hätte führen sollen. „Ein Gespräch mit Effi hätte ihr die Möglichkeit gegeben, ihre Beweggründe darzulegen, ihre Reue zu zeigen und ihre Bitte um Verzeihung auszusprechen. Und sich selbst hätte Innstetten die Möglichkeit eingeräumt, seine tiefe Kränkung und Demütigung in Worte zu fassen – um letztlich verzeihen zu können.“

Natürlich hat Oliver Sill auch einige interessante und anregende Beobachtungen zu einzelnen Motiven und Themenkomplexen zusammengetragen, das kann nicht ausbleiben, wenn man sich mit Fontane beschäftigt. Insgesamt ist sein Buch jedoch unbrauchbar, und man kann nur hoffen, dass der Aisthesis Verlag eine solche Reihe von Renommierbüchern und Selbstdarstellungen nicht fortsetzt.

Titelbild

Oliver Sill: Theodor Fontane – neu gelesen. Aktualität und Geschichtlichkeit eines Klassikers.
Fontane Studien I.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2018.
173 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783849812867

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