Offene Formen, offene Gesellschaften
Kai Sina über die transatlantische Karriere einer Denkfigur Goethes
Von Stefan Höppner
Gibt es noch Studien zum deutsch-amerikanischen Kulturtransfer oder zum Verhältnis zwischen beiden Kulturen? Seine letzte große Konjunktur erlebte das Feld zu Beginn des neuen Jahrtausends, nämlich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und rund um die Invasion im Irak. In der populären Wahrnehmung kam das Thema sehr laut daher. Für jeden, der es wissen wollte, erklärte Michael Moore die unglaubliche Beschränktheit der US-Bevölkerung und ihres damaligen Präsidenten. Auch wenn er in vielem Recht hatte: Seinem europäischen Publikum machte Moore es einfach, weil dessen Filme und Bücher genau die Vorurteile bestätigten, die viele schon immer vom ‚Ami‘ hegten. Natürlich gab es auch subtilere Versuche, sich dem Thema zu nähern. Dafür stehen Texte wie really ground zero (2001), Kathrin Rögglas essayistisches Protokoll über die unmittelbaren Folgen der Anschläge vor Ort, und Klaus Theweleits Der Knall (2002), das sich mit ihrem medialen Echo auseinandersetzte – nicht als neutrale Abhandlungen, sondern inklusive einer tastenden Selbstverortung der schreibenden Subjekte. Aber solche Feinheiten waren nicht die Sache eines großen Publikums. Vielmehr vertieften die damaligen Entwicklungen nur eine längst angelegte Entfremdung. Die Deutschlandpolitik der Regierung Trump ist eine besonders krasse Konsequenz, nicht Ursache des Auseinanderdriftens. Derzeit ist das Klima von gegenseitem Desinteresse und Vorurteilen geprägt, im Zeichen von Corona erst recht. Folglich gibt es momentan auch nur wenige Studien, die sich detailliert mit den wechselseitigen intellektuellen – und natürlich den literarischen – Einflussbeziehungen zwischen Deutschland und den USA beschäftigen.
Kai Sinas Göttinger Habilitationsschrift Kollektivpoetik ist eine solche Ausnahme. Hinter dem Titel würde man sicher keine Studie zum deutsch-amerikanischen Kulturtransfer vermuten, schon gar nicht in beiden Richtungen. Tatsächlich verfolgt Sina hier die Filiation einer Idee, die von Goethe über Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman zurück zu Thomas Mann führt – die einer kollektiven Poetik. Damit ist keine ‚kollektive Autorschaft‘ als Zusammenarbeit von zwei oder mehr Individuen gemeint, wie Goethe sie etwa in den Xenien (1796) betrieb, den gemeinsam mit Schiller verfassten Spottversen auf den Literaturbetrieb. Aber worauf will Sina dann hinaus? Das zeigt sein Ausgangspunkt. Es handelt sich um eine Aussage Goethes kurz vor seinem Tod, die sein Gesprächspartner Frédéric Soret überliefert:
Was habe ich denn gemacht? Ich sammelte und benutzte alles was mir vor Augen, vor Ohren, vor die Sinne kam. Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das Ihrige beigetragen, Toren und Weise, geistreiche Leute und Dummköpfe, Kinder, Männer und Greise, sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich oft, was andere gesäet; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.
Damit ist keine Zitat- oder Montageästhetik gemeint, sondern eine Vielzahl von Einflüssen, die durch das schreibende Individuum Goethe hindurchgehen. Sie werden quasi gefiltert und in ein literarisches Werk überführt, das die Pole einer inhaltlichen Vielfalt und einer formalen Einheit in sich vereinigt. Das Ergebnis ist weder spannungsfrei noch harmonisch, sondern denkbar weit weg von den Idealen, die man gewöhnlich mit den Hochzeiten der Weimarer Klassik verbindet. Es geht bei Sinas Begriff der ‚Kollektivpoetik‘ „um das ‚Zusammenlesen der Teile und ihre Überführung in das Ganze einer irgendwie geordneten ‚Sammlung‘“ (S. 16). Wie er sich das vorstellt, zeigt Sina am zweiten Teil des Faust und der bislang kaum als Ganzes untersuchten Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum, die zwischen 1817 und 1832 in sechs Bänden zu mehreren Heften erschien. Auf dem Titelblatt ist jeweils angegeben, das Periodikum stamme „von Goethe“, obwohl er zwar die Mehrzahl, doch längst nicht alle Beiträge selbst verfasst hat. Gemeint sei aber weder die Behauptung einer Autorschaft aller Artikel noch die schlichte Angabe des Herausgebers. Vielmehr, so Sina, präsentiere Goethe hier, wie es im Zitat hieß, „was ihm ‚vor Augen, vor Ohren, vor die Sinne‘ kommt – und was daraus wiederum an Überlegungen und Betrachtungen für ihn folgten, und zwar in intellektueller und künstlerischer Hinsicht“ (S. 101). Dafür sei das Medium der Zeitschrift ideal geeignet, weil es an sich bereits auf Nicht-Abgeschlossenheit und Heterogenität angelegt sei.
Von hier setzt Sina zum Sprung über den Atlantik an, genauer zu Ralph Waldo Emerson (1803–1882), der als Philosoph und entschiedener Gegner der Sklaverei einen immensen Einfluss auf das amerikanische Denken des 19. Jahrhunderts ausübte. Schon seit Ende der 1820er Jahre hatte Emerson Goethe gelesen, und die Beschäftigung mit ihm blieb über einen langen Zeitraum hinweg ein wichtiger Teil seiner Arbeit. Goethe galt ihm, so referiert Sina, als moderner Autor schlechthin, der die divergenten Bestandteile und Strömungen seiner Zeit in sich aufnehme und sie in ein harmonisches Verhältnis setze. Sina spricht von der „implizite[n] Pointe, auf die Emersons Ausführungen hinauslaufen […]: Wo andere nur eines zu sein vermögen, vermochte Goethe vieles in einem zu sein“ (S. 116). Goethes Vorstellung vom Autor als Aggregat wird so produktiv aufgenommen und kann das verwirklichen, was Emerson als seine eigentliche Mission sehe: „eine Versöhnung der dissoziierten Moderne […] bei gleichzeitiger Berücksichtigung ihrer phänomenalen Vielheit“ (S. 123). Diese Reflexionen, die Emerson vor allem in seinem Essay Goethe, or The Writer entwickelte, verallgemeinerte er später im Aufsatz Quotation and Originality. Hier argumentiere Emerson, dass es im strengen Sinn gar keine Originalität gebe, denn: „All minds quote. Old and new make the warp and woof of every moment“ (zit. auf S. 129). Das belegt Emerson dann in langen, katalogartigen Erzählungen seines Aufsatzes. Das Subjekt werde zu einer heteronomen Instanz, aber gerade in der neuen, einzigartigen Zusammensetzung des von überall Zusammengeholten liege dann die wirkliche Originalität – eine Vorstellung, die ganz wesentlich auf Goethes oben zitierte Ausführungen zurückgehe.
Von hier führt uns Sina zum auch von Emerson bewunderten Walt Whitman (1819–1892), der aus heutiger Sicht als der amerikanische Nationaldichter des 19. Jahrhunderts gelten kann. Sein Hauptwerk war die Gedichtsammlung Leaves of Grass, von der er zwischen 1855 und seinem Todesjahr immer wieder neue, erweiterte und überarbeitete Versionen vorlegte – ähnlich wie in der deutschen Literatur Arno Holz mit seinem Phantasus. Auch Whitmans Werk, so Sina, trage Spuren einer Rezeption von Goethes Idee des Dichters als Kollektivwesen. Zunächst konstatiert Sina zwei wesentliche Übereinstimmungen – nämlich die „Idee des Dichters als eines Mediums, in dessen einer Stimme sich die Stimmen vieler Menschen bündeln“ als auch um die „Entwicklung einer innovativen literarischen Form, die den Bedingungen der Moderne angemessen Rechnung trägt“ (S. 148). Bei der Verschiebung von Ueber Kunst und Alterthum oder auch den Wanderjahren komme es aber auch zu einem Wechsel des Diskursideals: Während Goethe die Idee einer (begrenzten) Geselligkeit von Gleichgesinnten verfolge, setze Whitman das Ideal der Demokratie. Nach außen stehe Whitman Goethe zwar skeptisch bis ablehnend gegenüber, das lasse sich aber auch unter dem Vorzeichen der „anxiety of influence“ verstehen, wie sie Harold Bloom als Konzept formulierte – als Versuch, allzu offensichtliche Einflüsse abzustreiten oder sich zumindest von ihnen freizuschreiben. Whitmans berühmte Zeile „I contain multitudes“ aus dem Gedicht Song of Myself – man könnte fast schon von einer catchphrase sprechen – lässt sich für Sina jedenfalls nicht ohne Goethes Vorstellung vom Autor als Kollektivwesen verstehen.
Im Gegensatz dazu erkennt Whitman Emerson als seinen direkten Einfluss an, vor allem dessen Essays – „I was simmering, simmering, simmering: Emerson brought me to a boil“ (S. 160). Nur, dass er Emersons Vorstellung vom Autor als Aggregat aus allem Vorhergehenden – das wiederum auf Goethe zurückgeht – auf die jungen USA und die Staatsform der Demokratie überträgt. In hymnischen Zeilen schwärmt Whitman von Land als „Ensemble“ aus unterschiedlichsten Menschen und Landschaften, das wiederum als Boden für sein Konzept einer amerikanischen Nationalliteratur dient. An der Oberfläche ist sie unabhängig, anders als bei Emerson, für den sie – „we but quote“ – stärker auf bisher schon existierender Literatur forscht. Doch ihr generelles Formprinzip geht für Sina eben doch auf Vorstellungen zurück, wie sie Goethe entwirft. Das heißt nicht, dass er keine Differenzen zwischen den drei Autoren erkennt. Die zentralen Themen und der exaltierte Gestus Whitmans sind denkbar weit entfernt von denen Goethes und Emersons, die Einflusslinie dennoch unverkennbar. Sinas Resümee lautet daher: „Brooklyn und Weimar trennten keine Welten. Es brauchte, jenseits der primären Goethe-Lektüren [Whitmans], nur des Umwegs über Concord, Massachusetts“ (S. 165).
Dass Thomas Mann sich an Goethe orientierte, steht außer Zweifel. Zum Allgemeingut über Mann gehört auch die Vorstellung, er habe zeitlebens versucht, sich in die Position eines solchen Nationalautors zu schreiben, auch wenn sein berühmter Satz „Wo ich bin, ist Deutschland“ anders gemeint war. Als solcher galt Mann aber tatsächlich für viele, gerade im Exil – nämlich als Vertreter des ‚besseren‘ Teils seiner Herkunftskultur. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch Lotte in Weimar (1939) lesen, ein Roman, der noch aus der Distanz des amerikanischen Exils Goethe als einen Nationalautor reklamierte, der nicht den Nationalsozialisten überlassen werden sollte. Weniger bekannt war lange Zeit, wie stark Mann sich selbst mit den USA auseinandersetzte, einem Land, in dem er immerhin fünfzehn Jahre lang lebte. Wie intensiv diese Beziehung war, hat Hans Rudolf Vaget vor einigen Jahren beleuchtet.
Teil dieser Auseinandersetzung mit den USA waren aber auch Manns Whitman-Lektüren, die lange vor seiner Übersiedlung einsetzten. Dass es eine solche Beziehung gebe, schreibt Sina, sei nicht vollkommen neu. Nicht berücksichtigt worden sei bisher aber, wie stark sich Whitmans Poetik in der erzählerischen Heterogenität und Polyphonie des Zauberbergs wiederfinde, und wo überall in diesem Roman solche Referenzen zu finden seien. Dass Hans Castorp verdeckt aus Whitmans I Sing the Body Electric zitiert, als er Clawdia Chauchat im Walpurgisnachts-Kapitel seine Liebe gesteht, ist nur die überraschendste.
Dazu kommt die prominente Rolle Whitmans in Manns Rede Von deutscher Republik (1922), seinem öffentlichen Bekenntnis zur Weimarer Demokratie. Zwar existierten bereits Untersuchungen zu dieser Whitman-Rezeption, doch betonen sie vor allem den Nexus zwischen Demokratie und Homosexualität, der Mann an dem amerikanischen Dichter interessiert habe. Sina betont dagegen einen anderen Aspekt, nämlich die Idee einer kollektiven Subjektivität, in der sich die Vielfalt einer ganzen Kultur spiegle, und die hier kurzgeschlossen werde mit dem romantischen Gemeinschaftsideal eines Novalis in dessen Essay Die Christenheit oder Europa, obwohl beide eigentlich nicht leicht zusammenzubringen seien. Während Mann in seinem Frühwerk eher elitaristische Positionen vertrete, was die Rolle des Schriftstellers gegenüber der Gesellschaft betreffe, gelange er nun zu einer Position, in der er für andere spreche – und die sei maßgeblich durch seine Whitman-Lektüre geprägt. So schließt sich der Kreis; die im Weimar der 1830er Jahre geprägte Idee vom „kollektive[n] Autorsubjekt im emphatischen Sinne“ (S. 259) kehrt über den Atlantik zurück, und das nach fast einem Jahrhundert. Eine Idee, deren verschiedene Ausprägungen im „Verhältnis des Anagramms“ stehen. Das Konzept einer offenen Dichtung und einer offenen Gesellschaft werden immer wieder miteinander verwoben.
Es ist eine spannende Filiation, die Sina hier aufdeckt, und seine Argumentation überzeugt auf ganzer Linie. Gelegentlich hätte man sich eine noch stärkere Rückbindung an die jeweils zeitgenössischen politischen Debatten gewünscht, wie sie der emphatische Gebrauch von Karl Poppers Begriff der ‚offenen Gesellschaft‘ erwarten lässt; diese Wechselwirkung spielt aber nur in der Einleitung eine größere Rolle. Bei einer ernsten Diskussion dieses Aspekts hätte das Buch aber wohl zu keiner so konzisen Form gefunden. Übrigens ist es in glasklarer, flüssiger Prosa geschrieben, was die Lektüre zum Vergnügen macht, wenn auch leider zum gehobenen Preis, wie sie bei den qualitativ hochwertigen Büchern dieses Verlages üblich ist.
Zugleich ist die Linie von Goethe zu Mann, von der Sina spricht, in doppelter Hinsicht ein Spezialfall. Zum einen handelt es sich um ein rein ideelles Beispiel eines transatlantischen Kulturtransfers, der ebenso seine materiellen Seiten hatte, von der Kartoffel und der Lochkartenmaschine bis hin zu einem realen Transfer von Büchern zwischen den unterschiedlichen Märkten, einschließlich von amerikanischen Drucken, die speziell für den deutschen Markt produziert wurden und umgekehrt. Zum anderen handelt es sich um einen Transfer, der ausschließlich über Autoren läuft, die sowohl in den USA als auch in Deutschland als Vertreter der Hochkultur anerkannt sind. Ähnliche Austauschprozesse laufen aber erst recht über die populäre Kultur, und das nicht nur in eine Richtung, wie sich etwa anhand des Krautrock oder des frühen US-Comic zeigen ließe, der maßgeblich von der deutschen Bildergeschichte des 19. Jahrhunderts geprägt war. Aber auch wenn man sich auf die Literatur beschränkt, bleibt ein weites Feld, auf dem man von Kai Sina noch einiges erwarten kann: Noch in diesem Jahr wird er eine Professor für Transatlantische Literaturgeschichte in Münster antreten. Kollektivpoetik ist dafür ein gelungener Auftakt.
![]() | ||
|
||
![]() |