Die Einsamkeit der Ekstase

Leïla Slimani erzählt in ihrem Debütroman „All das zu verlieren“ von einer sexsüchtigen Frau, die gegen eine sinnlose Welt aufbegehrt

Von Charlotte NeuhaussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Neuhauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leïla Slimanis Romane sind keine, die man ruhig und bewusst lesen kann, mit Pausen dazwischen, um das Gelesene zu reflektieren. Das liegt allein schon daran, wie sie ihre Bücher beginnt: schonungslos, drängend, direkt ins Herz der behandelten Problematik vorstoßend. „Das Baby ist tot“, lautete der erste Satz von Slimanis Roman „Dann schlaf auch du“, der in Frankreich den Prix Goncourt gewann und zum internationalen Bestseller avancierte. Es folgt die furchtbare Beschreibung eines Tatortes, von zwei unschuldigen kleinen Kindern, die von ihrer Nanny ermordet wurden. Slimani beginnt mit dem Ende, um dann virtuos und akribisch die Hintergründe aufzurollen, sodass man bald nicht mehr weiß, ob es sich um einen Roman oder eine Sozialanalyse handelt.

Ganz ähnlich verhält es sich mit Slimanis Debütroman „Dans le jardin de l’ogre“, der nun unter dem Titel „All das zu verlieren“ ins Deutsche übersetzt wurde. Bereits auf der ersten Seite wird man mit einer Protagonistin konfrontiert, die sich unter der Dusche sexuellen Gewaltfantasien hingibt. „Sie schlägt die Stirn gegen die Wand. Sie will, dass man sie packt, dass ihr Kopf gegen die Scheibe prallt. […] Sie will in die Brust gekniffen, in den Bauch gebissen werden. Sie will eine Puppe im Garten eines Ungeheuers sein.“ Auf dem Weg zur Arbeit ist sie nervös und unkonzentriert, ringt nach Atem. Kurzentschlossen dreht sie um und sucht Adam auf, der ihr nackt die Tür öffnet – offensichtlich nicht zum ersten Mal. Erst als er sie ohrfeigt und sie sich zu Willen macht, geht es ihr besser, wird ihr Kopf wieder klar.

Adèle, so erfährt man, führt eigentlich ein gutes Leben. Nicht perfekt, aber gut. Ihr Job als Journalistin mag schlecht bezahlt sein, doch er bietet ihr Freiheit; ihr Mann Richard erscheint vielleicht etwas distanziert, aber bemüht; sie wohnt in einem hübschen Appartement im 18. Arrondissement und hat einen noch hübscheren kleinen Sohn. Doch nichts davon scheint Adèle zufriedenstellen. Ihre Arbeit schätzt sie nur aufgrund der Möglichkeit, verschwinden zu können, ohne sich erklären zu müssen. Die Kollegen verachtet sie, ihren Mann hat sie nie geliebt, der Sohn macht sie nur ungeduldig. Alles um sie herum erscheint ihr banal, langweilig, ohne Sinn. Das einzige, was Adèle wirklich zu mögen und zu brauchen scheint, ist unverbindlicher Sex: Wann immer sie kann, flüchtet sie aus ihrem Leben, flüchtet in die Ekstase, den Rausch, greift nach einem Leben, das nur aus Höhepunkten besteht statt aus dem gemächlich vor sich hinplätschernden Auf und Ab der Normalität. An die Konsequenzen für sich selbst und ihre Familie denkt sie dabei nur am Rande.

Die Gründe für Adèles Verhalten werden nur angedeutet, flackern hin und wieder auf, ohne ausformuliert zu werden. Da ist ihr starker Wunsch nach Beachtung, ihr latenter Selbsthass, ihre Angst vor dem Alter und jeder Art von Beengtheit. Vor allem aber scheint sie abgrundtief einsam zu sein, einsam als Frau, einsam als Mutter, einsam als Mensch. In dieser Zurückgeworfenheit auf sich selbst und ihrer gleichzeitigen Revolte gegen eine als absurd und sinnlos empfundene Welt, die sie durch permanente Ekstase erträglicher gestalten will, lassen sich existenzialistische Züge erkennen.

Damit erinnert sie übrigens an das Kindermädchen in „Dann schlaf auch du“, das seiner trostlosen Existenz schließlich ein Ende setzen will und sich, nach Ermordung seiner Schützlinge, selbst die Pulsadern aufschneidet. Camus hätte diesen Ausweg abgelehnt; schließlich beweist der Mensch ihm zufolge erst durch seine Akzeptanz einer sinnlosen Existenz seine Freiheit. Dafür scheinen Slimanis Protagonisten jedoch zu schwach, wiegt die empfundene Einsamkeit und Leere zu schwer. Es bleibt nur die ständige Revolte, die Sucht nach dem besonderen, dem ekstatischen Moment, die Slimani in einem so gelungenen, nüchternen Stil beschreibt, dass sie fast erträglich erscheint.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Leïla Slimani: All das zu verlieren. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Amelie Thoma.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
218 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875538

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