Egomorphe Erotik im Medium der Antragsprosa

Peter Sloterdijks „Das Schelling-Projekt“

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinen berühmten Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, die Schelling im Sommersemester 1802 in Jena hielt, propagiert der ehemalige Bewohner des Tübinger Stifts, dass „von der Fähigkeit, alles, auch das einzelne Wissen, in den Zusammenhang mit dem Ursprünglichen und Einen zu erblicken“ es abhänge, ob „man in der einzelnen Wissenschaft mit Geist und derjenige höheren Eingebung arbeite, die man wissenschaftliches Genie“ nennt. Schellings Vorlesungen, die man mit guten Gründen als Bildungsroman der universitären Existenz lesen kann, sind aber nun kein Verhaltensmanual für drittmittelabhängige Forscherexistenzen an bundesrepublikanischen Universitäten der Gegenwart. Sie können dies auch deshalb nicht sein, weil der ‚große Wurf‘ einer Logik der kleinsten publizierbaren Einheit gewichen ist, die letzten Endes keinen Durchblick mehr auf die Erkenntnislogik oder gar die Identität eines Faches mehr ermöglicht.

Was aber passiert, wenn man den ‚großen Wurf‘ plant, zeigt auf amüsante, aber auch irritierende Art und Weise Peter Sloterdijks zweiter Roman Das Schelling-Projekt. Das Schelling-Projekt will sich mit der Frage beschäftigen, warum man die Evolutionsgeschichte der weiblichen Sexualität, in der eine „globale Gynäkologie“ die Leitwissenschaft darstellt, auf zwingende Art und Weise mit der Naturphilosophie des deutschen Idealismus zusammen denken muss.

Was in Schellings Vorlesungen die Philosophie ist, die nicht nur alle Wissenschaften zusammenbringt, sondern Wissenschaftlichkeit überhaupt erst denkbar macht, ist bei Sloterdijk die Gynäkologie; weniger als Frauenheilkunde, sondern als epistemische Grundhaltung, die Philosophie, Anthropologie, Esoterik und Sexualwissenschaft umfasst.

Das ist natürlich herrlich abgründig und provokativ. Diese Reverenz an Forschungslogiken ermöglicht natürlich die Lektüre als Wissenschaftssatire. Diese Lesart hat vor allem die Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Julia Griem, deren Institution in Sloterdijks Roman als „Anlaufstelle für Mainstreamer und Abzocker“, bezeichnet, und als Institution, in der die Heideggerische „Seinsvergessenheit als Behörde“ beschrieben wird, in den Mittelpunkt ihrer Lektüre gestellt. Für Julika Griem ist Sloterdijks Roman eine „burleske und bourgeoise Variante“ des angloamerikanischen Universitätsromans.

Andere Lektüren rücken vor allem formale Aspekte – wie z.B. die Form des Briefromans, aber auch die erotisch bis pornographischen Aspekte des Textes in den Mittelpunkt. Elke Schmitter hat in ihrer Besprechung ganz folgerichtig den Titel „Feminismus als Herrenwitz“ gegeben. Andere, wie Eberhard Geisler in der TAZ, haben im Text eine alternative Geschichtsschreibung der 68er-Bewegung entdeckt. Das heißt, mit Foucault, die Wahrheit über die sexuellen Praktiken, Vorlieben und Inszenierungen ist die Wahrheit über die 68er.

Fünf mehr oder minder befreundete Leute schicken sich, nachdem der spiritus rector, Peer Sloterdijk, den Auftakt zur geselligen Gelehrtenkommunikation mit Hilfe eines analogen Briefes anzeigt hat, immer wieder gegenseitig Mails, in denen das Post scriptum gar kein Post scriptum, sondern eher ein Trans scriptum ist, das noch mal eine neue, weil anschlussfähige Kommunikation ermöglicht. In der formalen Anlage des Textes als Briefroman ergänzen sich somit Wissenschaftsarbeit und Liebesarbeit. Die Namen sind sprechend bis albern: Der Initiator heißt Peer Sloterdijk, Kurt Silbel, der Ethnologe heißt Guido Mösenlechzner, eine Professorin heißt Desiree zur Lippe, die andere weibliche Protagonistin heißt Beatrice von Freygel. Das klingt nicht nur nach einem Line-up eines Pornofilms, sondern soll gleich zu beginnen die soziale Energie markieren, die die Lebensgeschichten miteinander verbinden: die Sexualität in all ihren wunderbaren Möglichkeitsräumen, von Tantra (Silbel mit Freygel) im Kiel der ausgehenden 70er Jahre bis Gang-Bang (Desiree zur Lippe) in der Gegenwart der Erzählung.

Sowohl Wissenschaft als auch Sexualität agieren – im Roman – mit Hilfe des Vorlagenprinzips. Wissenschaftlich und/oder erotisch kann nur dann agiert werden, wenn man sich über die Grundlagen der Handlungen – erotischer wie kommunikativer Art – schriftlich verständigt hat. Der Akt wird zur Akte, der Gedanke zum Formular. Konsequenterweise bildet sich dies auch in der Struktur des Romans ab: Der erste Teil arbeitet sich an der Erarbeitung der Grundlagen, privater wie institutioneller Art, ab, um dann im zweiten Teil das auf dieser Grundlage revidierte Forschungsprojekt in Angriff zu nehmen, um im dritten Teil die „Form der Enttäuschung“ zu praktizieren, die darin besteht, noch einmal die Vorstellung des Projekts bei den Bonner „Theoriebürokraten“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu rekapitulieren.

Der erste Teil dient noch einmal der Selbstverständigung der Gruppe und auch, bei einigen, wie z.B. Silbe und Sloterdijk, der autobiographischen Relevanz des Projekts. Der „Subjektivitätsvertrag“ als Grundlage der wissenschaftlichen Zusammenarbeit dient dazu, zu gestehen, zu bekennen, sich gemeinsam zu erinnern.

Die großartigsten Passagen für den universitär sozialisierten Leser liegen im zweiten Teil. Der zweite Teil umfasst eigentlich nichts mehr als das Protokoll eines ‚Arbeitstreffens‘, zu dem die Fünferbande sich versammelt hat, um noch einmal am Antrag zu arbeiten. Die Schilderung oszilliert zwischen einer Travestie von Forschungstreffen von Poetik und Hermeneutik, einer Satire auf die die sogenannten ‚scientific retreats‘ der Exzellenzcluster und dem Wiedererkennungseffekt von Protokollen der Forschungskommissionen an hiesigen Universitäten. Zweck dieses Treffens ist die Überarbeitung und Wiedervorlage des Schelling-Projekts, dieses Monuments der „Höhepunktforschung“. „Schelling-Projekt“ dient als „Kennwort“ für jenes Forschungsvorhaben, das „die biosozialen Prämissen des weiblichen Sexuallebens in der Zeitspanne zwischen der Altsteinzeit (bzw. dem Mittelpaläolithikum, 200.000 – 40.000 Jahre) und der Gegenwart im Licht der Hypothese progressiver Subjektivierung bzw. Personalisierung des Lusterlebens“ untersuchen möchte. Der Bezug auf Schelling hat mehr „emblematischen als monographischen Charakter“. Die Ausführungen über Schelling dienen als „Anstoß für die allgemeinen Kulturwissenschaften bzw. die Humanities […], die sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, durch institutionelle Selbstbedienung und methodischen Autismus seit Jahrzehnten den Anschluss an das Niveau der globalen natur- und lebenswissenschaftlichen Diskussion verloren zu haben.“ Das ist so herrlich gemein wie wahr: So etwas muss man tatsächlich lesen, wenn derlei Vorwürfe von wirtschaftsgetriebenen Wissenschaftspolitikern kommen, die Allgemeinbildung mit MINT verwechseln und sich von Kooperationen mit Volkshochschulen Steigerung der kognitiven und intellektuellen Kompetenz erhoffen. Die ‚Anschlussfähigkeit‘ des eigenen Projekts für anderen Fächer wird in den Fördergremien immer und immer wieder thematisiert, ohne dass man sich vorher darüber verständigt hätte, was überhaupt, um Hans Blumenberg zu zitieren, eine „zwischenfachliche“ Frage wäre und wie man über diese, wenn es sie denn gibt, miteinander ins Gespräch kommen könnte.

Es muss als ein gelungener Wurf bezeichnet werden, dass der Roman unterschiedliche Schriftmodi miteinander in Beziehung setzt: den handgeschriebenen Brief, E-Mails und ihre Anhänge und nicht zuletzt das Sitzungsprotokoll. Für die Lektüre hat dies den unschätzbaren Vorteil, den man aus der Poetik des Briefromans kennt: Der Leser ist den Schreibenden voraus, er oder sie weiß mehr als die Schreibenden. Gleichzeitig ist man in einer doppelten Rolle: Man sieht den Schreibenden beim Schreiben zu und ist gleichzeitig in der Rolle des Adressaten, eine poetologische Rückkoppelungsschleife, die Sloterdijk hier ganz gattungskonform in seinen Roman mit einbaut.

Der Text regt in manchem Register zu weiterer Lektüre oder zur Wiederholung von Lektüren an: So will man sich unbedingt in die Tiefen der Schelling’schen Biographie und Texte versenken und man denkt an Hans Blumenberg, Barbara Vinken und andere, wenn man das Verhältnis von Nacktheit und Wahrheit als epistemischen Porno deutet. Sloterdijk gelingt mit seinem Roman ein Stück höchst gegenwärtiger Literatur, weil es den gegenwärtigen Zustand von Forschungsförderung und ihren rhetorischen Abgründen auf Distanz bringt, weil es gelingt, Sexualitätsdiskurse mit den Wahrheiten über Personen zusammenzubringen. Gleichzeitig ist die Lektüre auch eine erholsame, weil die Entlastung von den Zumutungen des alltäglichen Wahnsinns in der Universität bietet und einen schmunzeln lässt, wenn demnächst der Prorektor für Forschung die forschende Belegschaft dazu auffordert, möglich schnell ‚anschlussfähige‘, gesellschaftlich relevante und immer innovative Forschungsprojekte zu designen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Sloterdijk: Das Schelling-Projekt. Bericht.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
251 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425244

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